«Das umliegende Gestein wird weicher»
21.03.2024 Bezirk Sissach, Energie/Umwelt, Verkehr, Bauprojekte, Bezirk Sissach, Natur, BaselbietGeologie im Chienberg verändert sich – Problemtunnel muss für Dutzende Millionen saniert werden
Der Sissacher Umfahrungstunnel muss intensiv unterhalten und bald auch gross saniert werden. Das kostet voraussichtlich Dutzende von Millionen Franken. Reto Wagner und Philip ...
Geologie im Chienberg verändert sich – Problemtunnel muss für Dutzende Millionen saniert werden
Der Sissacher Umfahrungstunnel muss intensiv unterhalten und bald auch gross saniert werden. Das kostet voraussichtlich Dutzende von Millionen Franken. Reto Wagner und Philip Bürgisser, beides Verantwortliche beim kantonalen Tiefbauamt, zeigen auf, wo die Probleme liegen.
David Thommen
Herr Wagner, Herr Bürgisser, lassen Sie uns mit einer Feststellung beginnen: Diesen Tunnel würde man heute nicht mehr in dieser Weise und an diesem Ort bauen, richtig?
Reto Wagner, Philip Bürgisser: In Anbetracht des heutigen Wissens würde wahrscheinlich eine andere Variante zur Umfahrung von Sissach gewählt.
Warnende Stimmen gab es vor dem Bau des Chienbergtunnels genug, schliesslich gibt es im A2-Belchenund im Eisenbahn-Hauenstein-Basistunnel seit Jahrzehnten ähnliche Probleme. Wurde das ernst genug genommen?
Die Einwirkungen aus dem Gipskeuper waren bekannt. Was dabei in Sissach unterschätzt wurde, war die Intensität, mit welcher der Gipskeuper quellen würde – und wie die gesamte Tunnelröhre durch diesen Druck nach oben gedrückt wird.
Für die neue dritte Belchenröhre ist ein anderes Konzept gewählt worden: Hier wird die Röhre mit ganz massiven Betonelementen geschützt. Wäre das für Sissach ebenfalls das Richtige gewesen?
Die Einwirkung im Belchentunnel ist nicht direkt vergleichbar mit der des Chienbergtunnels. Im ursprünglichen Konzept war ebenfalls eine geschlossene Röhre wie beim Belchentunnel vorgesehen, aber diese würde in Sissach aufgrund der Intensität des Quelldrucks aus dem Boden gedrückt. Deshalb wurde auf problematischen Strecken auf ein Hufeisenprofil mit Knautschzone unter der Röhre umgeschwenkt.
Dass der Chienbergtunnel ein Problemtunnel ist, weiss man schon lange. Liest man nun aber die Vorlage des Regierungsrats an den Landrat, hat man den Eindruck, es «brenne» plötzlich …
Nein. Die Sanierung des Tunnels im Jahr 2031/32 ist turnusmässig so geplant. Diese beinhaltet kleine bauliche Instandsetzungen, das Erneuern von Betriebs- und Sicherheitsausrüstung und in diesem Fall kommt nun zusätzlich die Instandsetzung der problematischen Hebungszone West hinzu.
Was sind die gröbsten Probleme, welche die Geologie in Sissach bietet?
Der Gipskeuper besteht zu einem grossen Anteil aus Anhydrit. Kommt dieser mit Wasser in Berührung, entsteht daraus Gips. Dabei kommt es zu einer Volumenvergrösserung, was im speziellen Falle des Chienbergtunnels zum Anheben des Tunnels im Boden führt. Neuste Messungen zeigen, dass dieser Gips nun verwittert und sich dadurch die Einwirkungen auf den Tunnel in diesem Abschnitt verändern. Das Tunnelgewölbe ist nicht auf diese neuen Einwirkungen ausgelegt. Die Folgen sind strukturelle Schäden an der Tunnelschale und somit ein unsicheres Tragwerk, wenn weiterhin nur die bisherigen baulichen Unterhaltsarbeiten durchgeführt werden. Deshalb muss ein umfassendes Sanierungskonzept für die Hebungszone West erstellt werden, um das Tragwerk auf die zukünftigen Einwirkungen auszulegen.
Um wie viele Zentimeter würde sich der Tunnel ohne Gegenmassnahme pro Jahr noch anheben?
Eine fachlich fundierte Einschätzung ist nicht möglich, da insbesondere die Wassermenge einen grossen Einfluss auf das Ausdehnen des Gipskeupers hat. Diese ist nicht voraussehbar.
Ab wie vielen Zentimetern wird das für den Tunnel problematisch?
Diese Frage kann nicht abschliessend beantwortet werden, da nicht nur die Hebungen zu Problemen führen, sondern auch die anderen Kräfte, die seitlich auf den Tunnel einwirken.
Bekanntlich wurde unter dem Tunnel eine Knautschzone angebracht, damit sich die Röhre nicht hebt und man das quellende Gestein laufend wegfräsen kann. Ist dieses Konzept langfristig tauglich?
Ziel der Sanierungsmassnahmen ist es, dass das Quellen des Gipskeupers in der Hebungszone West gebremst oder gestoppt wird. Das Material kann nicht beliebig lange ausgehoben werden, da mit der Zeit die Stabilität der Fundation nachlässt.
In der Vorlage an den Landrat heisst es, dass sich die Chemie im aufgequollenen Gestein zu verändern beginnt. Was passiert dort gerade und wie wirkt sich das aus?
Der Gipskeuper besteht aus Sulfaten in Form von Anhydrit (wasserfrei) und Gips. Wenn nun dieser Gipskeuper in Kontakt mit Bergwasser kommt, wandelt sich der Anhydrit in Gips um. Dabei kommt es zu einer Volumenzunahme des Gesteins um bis zu 60 Prozent. Wird diese Volumenzunahme durch das Tunnelbauwerk behindert, beziehungsweise verhindert, dann kann sich ein grosser Druck entwickeln. Im Falle des Chienbergs drückt das derart umgewandelte Gestein auf den Tunnel, sodass es zur Anhebung der Röhre kommt. Dies war die ursprüngliche Einwirkung, auf welche die Hebungszone West ausgelegt wurde. Der Schädigungsprozess ändert sich indes gemäss neuesten Untersuchungen. Die Geologie, in welche der Tunnel eingebettet ist, hat sich durch die chemischen Prozesse so verändert, dass nun ein Wechsel der Einwirkungen (Gipskarst, fehlende Bettung) auf die Tunnelschale prognostiziert wird: Das umliegende Gestein wird weicher und die Lasten im Betongewölbe können nicht mehr auf einen standfesten Grund abgestützt werden.
Was unternimmt man gegen die befürchtete Absenkung?
Diese Frage ist Bestandteil des in Arbeit befindlichen Sanierungskonzepts.
Ohne jede Gegenmassnahme: Wie lange wäre der Tunnel noch sicher genug?
Wir gehen davon aus, dass der Betrieb des Tunnels innerhalb von zwei bis fünf Jahren nicht mehr sichergestellt werden kann. Dies aber nicht zwingend aufgrund der Tragsicherheit, sondern weil beispielsweise Entwässerungsleitungen oder Kabelleitungen zerstört werden.
Mit anderen Worten: Dem Landrat bleibt nichts anderes übrig, als den beantragten Krediten zuzustimmen …
Der Tunnel ist einerseits eine wichtige Umfahrungsachse für die Gemeinde Sissach. Andererseits befinden sich oberhalb des Tunnels auch Liegenschaften, die ohne Sanierung des Tunnels möglicherweise grosse Schäden davontragen würden.
Sie schlagen zuerst Unterhaltsmassnamen für fast 12 Millionen vor, danach alleine für die Planung der folgenden Gesamtsanierung knapp 15 Millionen Franken. Zuerst: Was ist mit Unterhaltsmassnahmen gemeint?
Die Sohle in der Knautschzone muss wieder ausgefräst werden, die Ausbruchsicherung und die Entwässerungsrinnen saniert und die Gleitverankerungen bis spätestens 2026 kontrolliert und wenn nötig ersetzt werden.
Wie wird die darauf folgende Gesamtsanierung aussehen?
Aktuell werden verschiedene Varianten geprüft, um das Optimum durch die Gesamtsanierung zu erreichen. Welche Variante oder welche Varianten dabei gewählt werden, steht noch nicht fest.
In Ihrem Bericht wird angetönt, dass die Gesamtsanierung sagenhafte 60 Millionen Franken oder sogar mehr kosten könnte. Ist das nicht extrem für ein 350-Millionen-Bauwerk, das erst 2006 eröffnet worden ist?
Zu den Sanierungskosten können zurzeit keine abschliessenden Angaben gemacht werden. Die Erarbeitung der Kostenschätzung ist Teil des aktuell laufenden Sanierungskonzepts.
Dieser Tunnel scheint ein Fass ohne Boden zu sein. Wurde schon überlegt, ihn stillzulegen und eine «andere» Umfahrung für Sissach zu bauen?
Nein, denn eine dauerhafte Schliessung des Chienbergtunnels hätte einschneidende Folgen für die Region. Ausserdem müssten auch bei einer definitiven Schliessung Massnahmen getroffen werden, um den Kollaps der Tunnelröhre zu verhindern. Aufgrund der durch den Tunnel ausgelösten Hebungen und Setzungen muss mit finanziellen Auswirkungen gerechnet werden, die zum heutigen Zeitpunkt nicht eingeschätzt werden können.
Ist es denkbar, dass nach der Gesamtsanierung schon bald wieder teurer Unterhalt und sodann auch schon wieder die nächste Gesamtsanierung folgen wird?
Jedes Bauwerk muss in regelmässigen Intervallen unterhalten werden. Das wird auch beim Chienbergtunnel weiterhin so sein. Das Ziel dieser Gesamtsanierung ist es aber, die Einwirkungen aus der Hebungszone West nachhaltig in Griff zu bekommen. Anschliessend sollen nur noch standardisierte Sanierungen notwendig werden.
Es ist schwer vorstellbar, dass die Gesamtsanierung unter laufendem Betrieb stattfinden wird. Was machen Sie mit dem Verkehr? Die rund 20 000 Fahrzeuge einfach durch Sissach leiten?
Die Gesamtsanierung ist unter laufendem Betrieb kaum möglich. Wir gehen davon aus, dass wir den Tunnel für den Verkehr vorübergehend sperren müssen. Die Erarbeitung eines übergeordneten Verkehrskonzepts muss deshalb ebenfalls im Sanierungskonzept erarbeitet werden. Die geplanten Unterhaltsarbeiten sind nach heutigem Stand hingegen unter laufendem Betrieb möglich.
Unter dem Boden rund um den Tunnel rumort es. Was bedeutet das für das Baugebiet an der Oberfläche? Wir denken speziell an eine Genossenschaftsüberbauung, die oberhalb der Röhre geplant ist.
Auch diese Frage steht in Zusammenhang mit den aktuell laufenden Abklärungen bezüglich des in Erarbeitung befindlichen Sanierungskonzepts.
An den Tunnelausgängen gibt es zu Stosszeiten Probleme. Im Westen ist die Kapazität des Kreisels zu klein, im Osten in Richtung Böckten und Thürnen ebenfalls. Kann die Gesamtsanierung genutzt werden, um die Situation zu verbessern?
Die Problematik ist bekannt und zurzeit wird geprüft, welche Massnahmen zur Verbesserung getroffen werden können – auch in Zusammenhang mit der Gesamtsanierung.
Alle anderen Strassenabschnitte mit Schnellstrassencharakter hat der Kanton vor einigen Jahren an den Bund abgetreten. Den Sissacher Tunnel wollte der Bund aber offensichtlich nicht. Wird sich das nach der Gesamtsanierung ändern?
Dafür bestehen keinerlei Hinweise.
Reto Wagner ist Leiter des Geschäftsbereichs Kantonsstrassen beim Tiefbauamt Basel-Landschaft, Philip Bürgisser ist sein Stellvertreter.
Die ausführliche Vorlage der Regierung kann unter www.bl.ch eingesehen werden.