«Ordnung bereitet mir Glücksgefühle»
09.04.2021 Gesellschaft, Umfragen, Ormalingen, Porträt, SerienChristian Roth
Frau Spycher, wie sind Sie zu diesem doch eher aussergewöhnlichen Beruf gekommen?
Nadine Spycher: Vor drei Jahren an einem Grillabend bei Bekannten hatte ich das entscheidende Erlebnis. Eine Frau erzählte mir, dass sie Ordnung in ...
Christian Roth
Frau Spycher, wie sind Sie zu diesem doch eher aussergewöhnlichen Beruf gekommen?
Nadine Spycher: Vor drei Jahren an einem Grillabend bei Bekannten hatte ich das entscheidende Erlebnis. Eine Frau erzählte mir, dass sie Ordnung in Haushalten schaffe und sie dies als Beruf ausübe. Da war ich sofort Feuer und Flamme. In Rheinfelden wurde ich professionell von Caroline Bamert von der Firma Federleicht ausgebildet. Zertifiziert bin ich als Ordnungscoach erst seit einem Jahr.
Was macht ein Ordnungscoach für seine Kundschaft?
Ich gebe Tipps, wie man Strukturen in seine Wohnsituation bringt. Die Herausforderungen sind sehr vielfältig. Von kleinen Anliegen wie «mein Kleiderschrank ist zum Bersten voll» oder «ich sehe vor lauter Bäume den Wald nicht mehr», bis hin zu Paaren, deren kleine Kinder den Haushalt auf den Kopf stellen. Ich biete Hilfe, um neue Strukturen zu schaffen. Ordnung ist das Zauberwort. Messiehaushalte möchte ich nicht betreuen. Nicht, dass ich mich an der Unordnung stören würde, da Messies aber häufig psychische Probleme haben, braucht es hier eine andere professionelle Betreuung. Ein Ordnungscoach alleine reicht nicht aus. Es braucht einen Ordnungscoach, aber nicht nur. Werde ich von Interessenten angefragt, biete ich als Erstes ein kostenloses telefonisches Beratungsgespräch an, um zu erfahren, wo der Schuh drückt. Im zweiten Schritt gehe ich dann zum Kunden und mache mit ihm vor Ort eine Bestandsaufnahme.
Besteht eine grosse Nachfrage für Ihre Dienste?
Die Aufträge waren wegen Corona sicherlich etwas rückläufig. Man merkte, dass viele mehr Zeit hatten, um sich mit ihrem eigenen Hab und Gut und dem Zuhause auseinanderzusetzen. Die Menschen haben auch selbst angepackt. Auf der anderen Seite ist aber das Interesse am Thema Ordnung und Aufräumen ungemein gewachsen. Vielleicht auch darum, weil eben viele mehr Zeit damit verbrachten, sich damit auseinanderzusetzen.
Was war Ihr speziellstes Coaching?
Es war ein virtuelles Coaching während Corona. Wir arbeiteten per Video-Call und mit Fotos. Meine Kundin wollte Ordnung in ihren Hobbyraum bringen. Per Tablet wurden dann über mehrere Sitzungen Strukturen erstellt. Die Kundin räumte mit meiner Unterstützung das Zimmer neu ein. Es wurde entschieden, was bleiben darf oder wie etwas besser verstaut wird. Es war ein Erfolgserlebnis für alle Beteiligten.
Wo sollen Sie Ordnung schaffen?
Der Klassiker ist der Kleiderschrank. Doch aufräumen kann man grundsätzlich alles. Das kann auch ein Apothekerschrank sein oder das ganze Haus. Der Kunde ist aber immer selbstbestimmt, ich gebe nur Anregungen und Tipps. Viele meinen, ein Ordnungscoach bestimme, was, wie und wo etwas versorgt werden soll. Das stimmt so aber ganz und gar nicht. Ich sehe mich als Beraterin, die einen roten Faden vorgibt. Das Ergebnis löst bei mir Glücksgefühle aus.
Wie setzt sich Ihre Kundschaft zusammen?
Aus der gesamten Bandbreite der Gesellschaft. Ob Alt oder Jung, ob Mann oder Frau. Interessanterweise machen Frauen öfter Gebrauch von meinem Angebot. Es gibt Coaches, die sich auf sehr wohlhabende Kunden spezialisiert haben. In Abwesenheit der Besitzer wird dann meist das ganze Haus oder Anwesen frisch strukturiert. Diese Verantwortung möchte ich aber nicht übernehmen.
Lehnen Sie auch andere Aufträge ab?
Das Allerwichtigste ist, dass der Kunde die Beratung und Betreuung selber möchte und dies nicht auf Anraten von Bekannten oder Familienmitgliedern. Wenn zum Beispiel jemand sagt: «Meine Mutter hat Probleme mit der Ordnung, kommen Sie doch bitte vorbei», nehme ich diesen Auftrag nicht an. Die Betroffenen müssen es selber wollen. Ausserdem möchte ich mich von anderen Coaches abheben, indem ich meine Kundinnen und Kunden für die Umwelt sensibilisiere. Es gilt, konsumbewusster zu denken. «Zero waste», weniger Verschwendung, ist für mich ein zentrales Thema. Denn weniger ist mehr. Auch im Kleiderschrank.
Wie werden Ziele umgesetzt?
Ausserhalb von Corona ist die Nachfrage nach Ordnungscoaching sicherlich in den vergangenen Jahren gestiegen. Vielleicht auch durch die japanische «Aufräumqueen» Marie Kondo. Sie hat mit ihrem Standardwerk «Magic Cleaning, wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert» ein neues Kapitel des Aufräumens geschrieben. Zudem scheint es in den letzten Jahren «normaler» geworden zu sein, sich zur Schaffung von Ordnung oder neuer Strukturen professionelle Unterstützung zu holen. Stück für Stück wird alles katalogisiert. Hemden, Hosen und Socken werden nach Farben und Grösse geordnet. Dazu gehören auch Kategorien wie saisonal. Zudem kommen auch verschieden Falttechniken zum Einsatz, um Platz zu sparen und den Überblick in der Garderobe zu behalten. Wichtig ist, das alles seinen festen Platz hat.
Wie lange dauert es, bis ein Auftrag abgeschlossen ist?
Je nachdem, wie entscheidungsfreudig der Kunde ist, kann das Ganze in zwei bis drei Stunden abgewickelt werden, zum Beispiel beim Aufräumen eines Schranks. Bei anderen Projekten kann es aber auch bis zu einem Jahr dauern.
Zur Person
chr. Nadine Spycher (33) ist ausgebildete Kauffrau. Danach absolvierte sie ein berufsbegleitendes Betriebswirtschaftsstudium und ist aktuell als «Customer Experience Managerin» für einen Schweizer Grosskonzern tätig. Die verheiratete Mutter hat einen 9 Monate jungen Sohn und ist «leidenschaftliche Ordnungsfee». Seit mehr als einem Jahr führt sie nebenbei in ihrer Funktion als Ordnungscoach ihre Firma «nad-in» selbstständig.