«Diese Londonreise vergesse ich nie mehr»
05.02.2021 Bezirk Liestal, Porträt, Bubendorf, Gesellschaft, SerienLebensgeschichten | Marianne Frey-Wyttenbach (76) aus Bubendorf erzählt von einer besonderen Reise
Ohne ein einziges Wort Englisch zu sprechen, flog Marianne Frey-Wyttenbach nach England, um als Au-pair zu arbeiten. Dort befreundete sie sich mit einem Londoner Ehepaar. Ein ...
Lebensgeschichten | Marianne Frey-Wyttenbach (76) aus Bubendorf erzählt von einer besonderen Reise
Ohne ein einziges Wort Englisch zu sprechen, flog Marianne Frey-Wyttenbach nach England, um als Au-pair zu arbeiten. Dort befreundete sie sich mit einem Londoner Ehepaar. Ein Besuch 20 Jahre später wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis. Eine royale Episode.
Aufgezeichnet von Barbara Paulsen Gysin
Zusammen mit zwei älteren Brüdern wuchs ich in einer Gärtnerei in Augst auf, es waren die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Im März 1966 schloss ich im Frauenspital Basel die Ausbildung zur Spitalgehilfin erfolgreich ab. Danach hätte ich im Bethesda-Spital eine Lehre als Krankenschwester beginnen können. Doch eine Pflegerin fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, bei ihren Bekannten in England als Au-pair zu arbeiten. Sie suchten ein Mädchen aus der Schweiz. Und so flog ich denn – ohne ein einziges Wort Englisch zu sprechen – im April 1966 nach Bristol, wo ich einige Monate auf einer Farm mit Pension arbeitete und Sprachkurse besuchte. Da war ich 22 Jahre alt.
Unter den Feriengästen war das Ehepaar Phyllis und Peter Williams aus London mit ihrer kleinen Tochter Kay. Wir pflegen bis heute eine intensive Freundschaft.
Weihnachten im Frühling
1986, also zwanzig Jahre später, machten mein Ehemann Heini, ich und zwei befreundete Schweizer Ehepaare eine Woche Ferien in London. Phyllis und Peter fanden für uns eine bezahlbare Unterkunft in Bickley, einem Londoner Aussenbezirk in der Grafschaft Kent.
Natürlich besuchten wir die bekannten Sehenswürdigkeiten wie etwa den Buckingham Palace, das Windsor Castle, die Tower Bridge, Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, den Hyde Park und den Kensington Palace. Auch beim Shopping im berühmten Kaufhaus «Harrods» kam ich aus dem Staunen nicht heraus: Es gab eine ganze Etage voller Weihnachtsartikel, dabei war erst Frühling!
Dinieren wie Queen Mum
Unsere Freunde Peter und Phyllis waren die Verwalter der Nuffield Lodge, eines herrschaftlichen Anwesens im Londoner Regent’s Park. Sie selbst wohnten im Abwartshaus auf dem Gelände der Lodge und verwöhnten uns während unserer Ferienwoche mehrmals mit wunderbarem Essen. Diese stilvollen, englischen Dinners fanden aber nicht etwa im Abwartshaus statt, oh nein, wir dinierten jeweils in der noblen Lodge.
Die beiden waren verantwortlich für die Hausdienste und für die Betreuung der Besucher. Sie bewirteten oft Gäste der Queen Mum, der legendären Mutter der heutigen Königin Elizabeth, die regelmässig zu royalen Veranstaltungen in die Nuffield Lodge einlud. Und nun wurden wir wie royale Gäste in der Lodge verwöhnt – einfach unglaublich! Wir hatten sehr viel Spass zusammen und lachten viel.
Einmal Pech, immer Pech
In der Mitte unserer Ferienwoche fuhren Heini und ich vom Bahnhof Paddington aus nach Bristol Temple Meads, um Freunde aus meiner Au-pair-Zeit zu besuchen. Wir verbrachten einen wunderschönen Tag mit ihnen. Um 20 Uhr wollten wir zurück nach London fahren. Aber der Zug kam und kam nicht. Er hatte letztendlich so viel Verspätung, dass wir erst nach Mitternacht in London eintrafen.
Der Anschlusszug nach Bickley war längst abgefahren und einen weiteren Zug gab es in dieser Nacht nicht mehr. Kein Taxifahrer wollte so spät noch nach Bickley fahren, denn das lohne sich nicht. So machten wir uns zu Fuss auf in Richtung Regent’s Park.
Wir wollten von unterwegs Phyllis und Peter anrufen und sie um Rat fragen. Aber die Leitungen aller Telefonkabinen waren tot. Wir fragten Passanten, warum das so sei und erhielten die erstaunliche Antwort, dass die öffentlichen Telefone nach Mitternacht wegen Vandalen abgestellt würden.
Um ein Uhr nachts kamen wir schliesslich vor dem Abwartshaus beim Eingang des Geländes der Nuffield Lodge an. «Einmal Pech, immer Pech», dachten wir, als wir feststellten, dass es nirgendwo eine Klingel gab! Zu allem Übel war der Park von einer hohen Mauer umgeben.
So nah bei unseren Freunden wollten wir nicht aufgeben. Heini hievte mich kurzerhand auf die Mauer, danach half ich ihm hinauf. Erst dann – oh Schreck! – sahen wir, dass sich direkt vis-à-vis eine Polizeistation befand. Gottlob bemerkte uns niemand.
Nun mussten wir unsere Freunde aufwecken. Wir wussten zum Glück, wo sich im Abwartshaus ihr Schlafzimmer befand und warfen Steinchen an die Scheiben. Nach einiger Zeit öffnete sich das Fenster und Peter schaute verschlafen und ungläubig zu uns hinunter. Er liess uns hinein, Phyllis bereitete uns einen Tee zu und wir lachten alle sehr über unsere Eskapade.
Phyllis und Peter machten ihr Himmelbett für uns bereit. Sie selbst schliefen dann in Schlafsäcken im Wohnzimmer. Das wollten wir zwar nicht, aber sie liessen nicht mit sich reden. So endete dieser denkwürdige Tag in einem Himmelbett auf einem königlichen Londoner Anwesen!
Zur Serie
vs. Die ehrenamtliche Gelterkinder «Schreibgruppe Lebensgeschichten» begleitete ein halbes Jahr lang sieben Seniorinnen und Senioren aus dem Oberbaselbiet. Unter der Leitung von Karin Viscardi und Remo Schraner entstand ein Sammelband. In der «Volksstimme» veröffentlichen die Autorinnen und Autoren in losen Abständen kleine Ausschnitte daraus.
www.schreibgruppe-lebensgeschichten.ch