Rückkehr in Ukraine eher unrealistisch
23.02.2024 Bezirk Sissach, Bildung, Bezirk Sissach, SissachVor zwei Jahren hat Russland sein Nachbarland angegriffen
Häuser, Wohnungen und die Infrastruktur sind zerstört, die früheren Arbeitsplätze gibt es nicht mehr. Die meisten Ukraine-Flüchtlinge können sich eine Rückkehr in ihre Heimat kaum noch ...
Vor zwei Jahren hat Russland sein Nachbarland angegriffen
Häuser, Wohnungen und die Infrastruktur sind zerstört, die früheren Arbeitsplätze gibt es nicht mehr. Die meisten Ukraine-Flüchtlinge können sich eine Rückkehr in ihre Heimat kaum noch vorstellen, wie sich am Beispiel Sissach zeigt.
Christian Horisberger
Zwei Jahre ist es her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Und nichts deutet derzeit darauf hin, dass der Krieg in absehbarer Zeit endet: Anstatt über einen möglichen Frieden zu verhandeln, rufen die beiden Kriegsparteien ihre Verbündeten zu weiteren Waffenlieferungen auf.
Als Russlands Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 losschlug und die erste Flüchtlingswelle kurze Zeit später die Schweiz erreichte, hätten die Ukrainerinnen und Ukrainer geglaubt, nach einigen Monaten könnten sie wieder zurück in ihre Heimat, sagt Mattias Plattner, Sissacher Pfarrer und Koordinator der Organisation Freiwillige für Flüchtlinge Sissach. Dass dies nicht so gekommen ist, sorge bei den Geflüchteten für Ermüdung, Frustration und Trauer.
Manche Ukraine-Flüchtlinge, die in Sissach untergekommen sind, hätten im Krieg Kinder, Eltern oder Geschwister verloren, so Plattner. Sie bekämen durch Soziale Medien die Grausamkeit des Kriegs in Echtzeit in Bild und Ton mit. Hinzu komme das Heimweh und das schlechte Gewissen, in die sichere Schweiz «abgehauen» zu sein; sich gegenüber den Landsleuten unsolidarisch verhalten zu haben. «Das alles ist eine schwere emotionale Belastung.»
Der Krieg dauert an, viele ukrainische Städte sind zerstört, Verwandte und Freunde wurden getötet oder sind in alle Winde zerstreut. Beabsichtigen die Geflüchteten, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, sobald die Waffen schweigen? Den Wunsch heimzukehren dürften viele Ukrainerinnen und Ukrainer hegen, schätzt Plattner. Doch je länger der Krieg dauere, desto geringer seien ihre Perspektiven, sich in der Heimat wieder ein Leben aufbauen zu können: «Häuser und Wohnungen und ein grosser Teil der Infrastruktur sind zerstört, die Arbeitsplätze weg. Es braucht viel, um alles wieder aufzubauen.» Ob die Flüchtlinge bereit sind, sich daran zu beteiligen, sei offen. Gut vorstellbar, dass Geflüchtete warten, bis die Kinder erwachsen sind und erst dann eine Rückkehr in Erwägung ziehen.
Laut René Schwarzmeier vom Sissacher Sozialdienst würden die meisten Ukraine-Flüchtlinge angeben, sich nicht mehr vorstellen zu können, in ihre Heimat zurückzukehren. Am allerwenigsten jene, deren Häuser und Wohnungen zerstört sind.
Die Gemeinde Sissach beherbergt zurzeit 71 Flüchtlinge, darunter Einzelpersonen, Paare und Familien, oft Mütter und Kinder, in wenigen Fällen auch junge Väter. Nachdem viele Ukraine-Flüchtlinge nach Kriegsausbruch zunächst von Familien privat aufgenommen worden seien, lebten nun alle in Wohnungen, sagt Schwarzmeier. Berufstätig seien die wenigsten von ihnen. Noch stehe das Erlernen unserer Sprache im Vordergrund: «Damit die Sprachbarriere im Arbeitsprozess nicht allzu hoch ist, sollte man das Niveau B1 erreichen, was rund zwei Jahre dauert», wie Schwarzmeier sagt.
Die Bereitschaft fürs Deutschlernen sei hoch: Neun von zehn erwachsenen Ukraine-Flüchtlingen in Sissach würden einen Deutschkurs belegen und den Unterricht regelmässig besuchen: «Sie wollen vorwärtskommen und sich integrieren», so der Sozialdienst-Mitarbeiter weiter.
Sitzt Deutsch ausreichend für die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit, stellt sich die Frage nach der Anerkennung der in der Heimat erworbenen Berufsabschlüsse, Zertifikate und Diplome in der Schweiz. Laut Schwarzmeier ist zu prüfen, welche Möglichkeiten sich aufgrund des Ausbildungsstands, aber auch des Alters ergeben.
Grosse Dankbarkeit
Im Zusammenhang mit Ukraine-Flüchtlingen ist häufig die Rede von einer hohen Anspruchshaltung gegenüber dem Gastland. «Das kann ich nicht bestätigen», sagt dazu René Schwarzmeier vom Sozialamt. Die Menschen aus der Ukraine brächten andere Voraussetzungen mit, als Flüchtlinge, die zum Beispiel aus dem Nahen oder Mittleren Osten stammten: Sie müssten sich in den meisten Fällen von ihrer Vorstellung, eine Arbeitsstelle und einen Lebensstandard auf dem gleichen Niveau wie in der Ukraine zu bekommen, verabschieden. Für Personen aus dem Mittleren Osten, oft fast ohne Schulbildung und aus viel bescheideneren Verhältnissen, bedeute der Aufenthalt in der Schweiz betreffend beruflicher Perspektive und Lebensstandard einen Aufstieg der Lebensumstände. «Wir haben mit wenigen Ausnahmen sehr viel Dankbarkeit erlebt und auch Wertschätzung gegenüber der Gemeinde.»
Plattner pflichtet ihm bei: «Ich spüre grosse Dankbarkeit für den Schutz, den die Geflüchteten bei uns geniessen dürfen.» Gleichzeitig registriere er eine Frustration darüber, dass es mit dem Arbeiten wegen bürokratischer Hürden oder tiefer Löhne, die eine externe Kinderbetreuung nicht zulassen, trotz Status S oft nicht klappe.
Noch 20 Prozent bei Privaten
tho. Das Entsetzen über den Angriff Russlands auf die Ukraine vor zwei Jahren war riesig. Entsprechend gross war auch die Hilfsbereitschaft: Viele Privathaushalte in der Schweiz erklärten sich sofort bereit, geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern Unterkunft in den eigenen vier Wänden zu bieten. Mittlerweile hat diese Bereitschaft nachgelassen: «Vereinzelt engagierten sich im Baselbiet immer noch Private, jedoch nicht mehr in dem Masse, wie im Frühling 2022», heisst es auf unsere Nachfrage beim Baselbieter Sozialamt. Es seien jedoch immer noch rund 20 Prozent der Personen mit Status S bei Privaten untergebracht: «Dies in den meisten Fällen seit Längerem.»
Per gestern waren es 2621 Ukrainerinnen und Ukrainer, die im Kanton Baselland gemeldet waren: 1215 Frauen, 556 Männer und 850 Kinder. Monatlich wurden dem Baselbiet im zurückliegenden Jahr durchschnittlich 61 Personen mit Schutzstatus S durch den Bund zugewiesen, im Januar 2024 waren es mit 68 Personen leicht mehr. Gemäss Prognosen des Bundes seien für dieses Jahr keine grossen Veränderungen zu erwarten, so das kantonale Sozialamt. Gleichwohl sei die Unterbringungssituation gemäss Sozialamt «generell sehr angespannt», da die Zahl der von den Gemeinden gemeldeten Plätze stark rückläufig sei. Der Kanton war Anfang Februar gezwungen, deswegen eine (weitere) temporäre Unterkunft für 100 Personen in Pratteln in Betrieb zu nehmen (die «Volksstimme» berichtete).
Zuständig für die Unterbringung der Flüchtlinge sind im Baselbiet die Gemeinden. Ebenso für die finanzielle Unterstützung. Das Mass des Grundbedarfs richte sich nach der Unterbringungsform, führt das Sozialamt aus. Der Grundbedarf reicht von monatlich 426 Franken für eine Person in einer Kollektivunterkunft und bis zu 609 Franken für eine Einzelperson in einer Individualunterkunft. Dazu werden laut Sozialamt «angemessene Wohnungskosten» ausgerichtet, sowie die Prämien für die obligatorische Kranken- und Unfallversicherung übernommen.
Generell vermeldet das Staatssekretariat für Migration (SEM) eine positive Entwicklung bei der Arbeitsintegration der Flüchtlinge aus der Ukraine. Mittlerweile liege die Erwerbsquote bei knapp 22 Prozent. Im Baselbiet lag diese Quote Ende Jahr mit 18 Prozent noch etwas tiefer. Vor allem Frauen mit Kindern seien
– vor allem neben der Sprachbarriere – mit dem Hindernis konfrontiert, dass sie die Betreuung der Kinder organisieren müssten.