Politisch zwischen Basel und Buus
25.04.2025 Bezirk Sissach, Gesellschaft, Gemeinden, Politik, Abstimmungen, SissachJe nach Thema stimmt Sissach städtisch oder ländlich ab
Die Volksabstimmungen verraten es: Die Sissacher Volksseele schlängelt sich seit Jahrzehnten nahe am schweizerischen Durchschnitt durch den politischen Stadt-Land-Graben. Je nach Thema zieht es sie aber mehr zur ...
Je nach Thema stimmt Sissach städtisch oder ländlich ab
Die Volksabstimmungen verraten es: Die Sissacher Volksseele schlängelt sich seit Jahrzehnten nahe am schweizerischen Durchschnitt durch den politischen Stadt-Land-Graben. Je nach Thema zieht es sie aber mehr zur Metropole oder mehr ins Dörfliche.
Christian Bolliger
Im vergangenen September gab der Stadt-Land-Graben wieder zu reden: Basel-Stadt nahm die Biodiversitätsinitiative mit 58 Prozent der Stimmen an, während im ländlichen Buus nur 27 Prozent dem Ansinnen der Naturschutzverbände etwas abgewinnen konnten. Am gleichen Tag befürworteten 76 Prozent der Baslerinnen und Basler den «Mantelerlass Strom» zur Förderung der erneuerbaren Energien. In Buus rutschte das von der SVP bekämpfte Gesetz mit 50,3 Prozent der Stimmen nur knapp durch.
Und Sissach? Das regionale Gewerbe-, Industrie- und Dienstleistungszentrum im hügeligen Oberbaselbiet, das gemäss der Gemeinde-Website seinen dörflichen Charakter bewahren will, bewegte sich gut eingemittet zwischen diesen Polen: 40 Prozent stimmten der Biodiversitätsinitiative zu und 64 Prozent dem «Mantelerlass Strom». Diese Anteile lagen jeweils nur wenige Prozentpunkte vom gesamtschweizerischen Ja-Stimmenanteil entfernt.
So ist es fast immer
472 Mal haben die Stimmberechtigten von 1970 bis Ende vergangenen Jahres an der Urne entschieden, wohin sich die Schweiz politisch bewegen soll. Im Durchschnitt wich der Ja-Stimmenanteil in Sissach um gerade 4 Prozent vom gesamtschweizerischen Wert ab. In den vergangenen 25 Jahren stimmten die Sissacherinnen und Sissacher nur bei 5 von 224 Abstimmungen um mehr als 10 Prozent anders als die Schweiz.
Am höchsten war die Abweichung 2003, als der Bezirkshauptort einer Verlängerung des Moratoriums für Atomenergie im Gegensatz zur Schweiz zustimmte. Der Ja-Anteil lag auch höher als im ebenfalls atomkritischen Baselbieter Durchschnitt. Dies passte gut ins Selbstbild einer Gemeinde, die sich als Vorreiterin einer nachhaltigen Energiepolitik verstand, und in der die Grünen mit Maya Graf als Spitzenkandidatin im gleichen Jahr bei den Nationalratswahlen einen Sprung von 15 auf 24 Prozent Wähleranteil machten.
Was sich hier beispielhaft zeigt: Volksabstimmungen sind aussagekräftige Seismografen der politischen Einstellungen in Dörfern, Städten und Kantonen.
Meist etwas urbaner
Die 472 Abstimmungen können uns somit auch viel über Sissach und seine Position zwischen Stadt und Land erzählen. Die Abbildungen in diesem Beitrag zeigen, wie stark der Ja-Stimmenanteil ausgewählter Gemeinden oder Kantone durchschnittlich vom Ja-Anteil der Gesamtschweiz abweicht.
Im Zeitverlauf (Abbildung 1) zeigt sich, dass sich die Kluft zwischen dem städtischen und dem ländlichen Pol seit der Jahrtausendwende geöffnet hat. Basel (graue Punkte) als Vertreter der urbanen Schweiz und Buus (grün) als Vertreter des ländlichen Pols im Baselbiet weichen immer stärker voneinander und vom gesamtschweizerischen Durchschnitt (0-Prozent-Achse) ab (zu den Berechnungen siehe Kasten).
Dagegen ist sich Sissach (rot) treu geblieben: Seine durchschnittlichen Ja-Stimmenanteile liegen immer nahe an der 0-Prozent-Achse, mit leicht negativen Werten. Das heisst: Im Durchschnitt hat der Bezirkshauptort in den vergangenen 55 Jahren tendenziell ein kleines bisschen urbaner gestimmt als die Gesamtschweiz. Damit tickte er ähnlich wie das andere regionale Zentrum Gelterkinden (blau) und seit der Jahrtausendwende sogar ein bisschen urbaner als das Baselbiet als Ganzes. Das überrascht, wird doch der kantonale Wert viel stärker von den einwohnerstarken stadtnahen Gemeinden als vom ländlichen Oberbaselbiet geprägt.
In den 1980er-Jahren lag die durchschnittliche Abweichung von Sissach zum nationalen Ja-Stimmenanteil praktisch bei 0 Prozent. Das heisst nicht, dass Sissach immer genau gleich stimmte wie die Gesamtschweiz. Vielmehr wogen einzelne stadtähnliche Abstimmungsergebnisse wie die hohe Zustimmung zum Atomausstieg (1984) betont ländliche Voten wie das überdurchschnittliche Ja zum bauernfreundlichen, weil protektionistischen Zuckerbeschluss von 1986 auf. Offenbar kommt es auf die Themen an.
Umweltschutz als Besonderheit
In der zweiten Abbildung haben wir die Abstimmungen der Jahre 2000 bis 2024 thematisch gruppiert. Zwar kann man auch hier festhalten: Sissach stimmt bei den meisten Themen gut eingemittet zwischen Stadt und Land und ähnlich wie die ganze Schweiz. Und doch gibt es einige interessante Auffälligkeiten, wenn man Sissach mit anderen Gemeinden und dem Kanton vergleicht.
Einwanderungspolitik: Geht es um die Migrationspolitik, steht Sissach näher am urbanen, einwanderungsoffenen Pol als am ländlichen Pol. Dies zeigt sich weniger am (kleinen) Abstand zur Gesamtschweiz als an der Tatsache, dass Sissachs Ja-Stimmenanteile denjenigen von Basel-Stadt deutlich näher sind als jenen von Buus. Bei gesellschaftlichen Fragen wie der Ehe auch für homosexuelle Paare oder der Toleranz gegenüber anderen Religionen (Minarettinitiative) ist dies nicht der Fall, wie auch bei den meisten übrigen Themenbereichen.
Umweltschutz: Bei keinem anderem Thema weicht Sissach stärker von der Gesamtschweiz und vom Kanton Baselland ab als hier: Ein überdurchschnittlicher Anteil der Sissacherinnen und Sissacher gibt dem Schutz der Umwelt, der Natur und des Klimas den Vorrang vor Wirtschaftsinteressen. Die erwähnten Abstimmungen zur Atomenergie sind somit keine Besonderheit, sondern einfach besonders markante Beispiele einer allgemeinen Tendenz. Bemerkenswert: Bei der Landwirtschaft ist der Abstand zum Kanton und zur Gesamtschweiz etwas kleiner, obwohl es oft auch um den Schutz der Natur geht.
Steuern und Sozialversicherungen: Hier springt zunächst der Abstand von Sissach zu Gelterkinden ins Auge: Während die beiden Zentrumsgemeinden bei der Migration, bei Gesellschaftsfragen und dem Umweltschutz fast wie Zwillinge daherkommen (mit einem leicht urbaneren Sissach) und sich urbaner als der Kanton gebärden, tickt Gelterkinden bei Steuerfragen fast wie Basel, während Sissach so stimmt wie die Landschaft als Ganzes. Auch dem Ausbau der Sozialversicherungen stehen die Sissacherinnen und Sissacher skeptischer gegenüber als Gelterkinden. Bei diesem Thema liegen Stadt und Land zwar insgesamt nicht so weit auseinander. Aber es ist das einzige Thema, bei dem Sissach eher ländlicher stimmt als die Gesamtschweiz.
Christian Bolliger aus Gelterkinden ist Politologe und aktuell Präsident der örtlichen Sozialhilfebehörde. Er war einst Redaktor bei der «Volksstimme».
Zur Berechnung
bol. Nicht alle Abstimmungen polarisieren zwischen Stadt und Land. Erwarten können wir dies insbesondere, wenn sich auch die politischen Parteien über eine Vorlage nicht einig sind. Dabei gibt es seit den 1970er-Jahren zwei typische Muster: Entweder weicht das in den Städten stärker verankerte linke politische Lager mit der SP (und später auch den Grünen) vom bürgerlichen Lager ab. Oder die ländliche SVP schert aus, wie dies gehäuft ab den 1990er-Jahren der Fall war.
350 der Abstimmungen seit 1970 zeigen ein solches Muster. Bei diesen haben wir für Sissach, Buus, Gelterkinden sowie für die Kantone Basel-Stadt und Baselland jeweils berechnet, wie stark ihr prozentualer Ja-Stimmenanteil vom gesamtschweizerischen Ja-Stimmenanteil abweicht. Negative Abweichungen bedeuten, dass die Gemeinde stärker urban stimmt als die Schweiz insgesamt (also wie die SP, wenn sie ausschert, oder anders als die SVP, wenn diese ausschert). Positive Werte bedeuten, dass die Gemeinde eher ländlich stimmt (also wie die SVP, wenn sie ausschert, oder anders als die SP, wenn diese ausschert). In einem zweiten Schritt haben wir den Durchschnittswert dieser Abweichungen berechnet, einerseits für jedes Jahrzehnt, und andererseits (für die Abstimmungen von 2000 bis 2024) für thematische Gruppen von Abstimmungen. Die Daten hierfür stammen vom Bundesamt für Statistik und von der Abstimmungsdatenbank www.swissvotes.ch.
Gelterkinden vorne
vs. Bei Landratswahlen erzielt Gelterkinden vor Sissach jeweils die höchste Wahlbeteiligung aller zwölf Wahlkreise des Kantons. Nur 2011 schob sich Binningen zwischen die beiden Oberbaselbieter. Kilchberg ist die Gemeinde, die bei den Nationalratswahlen jeweils das Spitzenresultat liefert. Am 18. Oktober 2015 lag es mit 76,27 Prozent aussergewöhnlich hoch. Einzig zuletzt, am 22. Oktober 2023, musste Kilchberg (66,9 Prozent) Oltingen (67,1 Prozent) knapp den Vortritt lassen. Bei den letzten Nationalratswahlen lagen bei der Wahlbeteiligung 21 «Volksstimme»-Gemeinden an der Spitze. Dann folgte Biel-Benken.
Die nächsten Jubiläumsanlässe
Seit 17. Januar: Die Kulturkommission Sissach bringt im Rahmen des Jubiläumsjahres «Sissach2025» Vergangenheit und Gegenwart in einen Dialog. Alte Gemälde und Zeichnungen hängen im Gemeindehaus aktuellen Fotografien des Theaterfotografen Ernst Rudin (70) gegenüber. Die Ausstellung kann zu den Schalteröffnungszeiten im Gemeindehaus besichtigt werden.
Sonntag, 27. April: Konzertreihe «Musik – Ohren – Gaumen»: Frühlings-Apéro mit neuer Alter Musik aus Tschechien. Barock-Oboe, Chalumeau/Klarinette, Fagott, Cembalo. Veranstalter: Verein «Flutlicht», erstes von vier Konzerten. 16 Uhr. Jakobshof.
Donnerstag, 1. Mai: «Schweiz bewegt – Jede Minute zählt». Sportliches Gemeindeduell. Bewegungsangebote aller Art in Sissach. Ab 7 Uhr: Vogelexkursion, Besammlung katholische Kirche. 10 bis 18 Uhr: 20 Vereine bieten verschiedene Attraktionen vom Torwandschiessen über Dorf-OL und Velo-Tour bis zum afrikanischen Tanz. In der Begegnungszone, bei den Primarschulen Dorf und Bützenen sowie an der Hauptstrasse 11 (siehe auch Sportteil).
Samstag, 3. Mai: Eröffnung des Erlebnispfads der Bürgergemeinde Sissach. Erweiterung des Waldspielplatzes Tännligarten. Beginn 11 Uhr.
Sonntag, 4. Mai: Sonderausstellung «100 Jahre Heimatmuseum Sissach»: «Chumm cho luege». «Kässeli-Beat» Wallner zeigt seine Sammlung an Sparkassen. Dazu die Dauerausstellung «Baselbieter Trachten» und die Waffensammlung. Geöffnet 11 bis 16 Uhr. Webvorführung von 13 bis 15 Uhr.