«Mir ist das alles viel zu langsam»
30.01.2025 Baselbiet, Gesellschaft, Gesundheit, Gemeinden, Region, BaselbietGesundheitsökonom Urs Roth (SP) zu Thomi Jourdans Strategiepapier
Im November hat Regierungsrat Thomi Jourdan sein lang erwartetes Papier zur Gesundheitsversorgung präsentiert. Im Zentrum stehen vernetzte ambulante Angebote – und das Kantonsspital an einem neuen oder den ...
Gesundheitsökonom Urs Roth (SP) zu Thomi Jourdans Strategiepapier
Im November hat Regierungsrat Thomi Jourdan sein lang erwartetes Papier zur Gesundheitsversorgung präsentiert. Im Zentrum stehen vernetzte ambulante Angebote – und das Kantonsspital an einem neuen oder den beiden aktuellen Standorten. Gesundheitsökonom Urs Roth drängt auf schnellere Entscheide.
Peter Sennhauser
Herr Roth, Gesundheitsdirektor Thomi Jourdan setzt mit seiner Strategie auf ein vernetztes System mit neuen ambulanten Angeboten vor Ort in den Talschaften des Baselbiets. Der richtige Ansatz?
Urs Roth: Ich teile Jourdans Sympathie für die Ambulantisierung. Seit 20 Jahren bin ich ein Befürworter der einheitlichen Finanzierung von stationärer und ambulanter Medizin. Mit der Abstimmung über Efas haben wir die Voraussetzung geschaffen, um die ambulanten Leistungen nun adäquat zu finanzieren. Volkswirtschaftlich ist das günstiger, weil die ambulanten Behandlungen weniger teuer sind und der Patient erst noch schneller wieder in den Arbeitsprozess zurückkehren kann.
Das klingt, als ob jetzt ein «Aber» kommt …
Nun, es ist an der Regierung, die Strategie mit Inhalt zu füllen und auf das Parlament zuzukommen. Ich erwarte, dass die Konkretisierung durch Jourdan bald kommt. Die Strategie ist ja zunächst erst ein Briefing, wir haben noch keinen Drehbuch.
Der zweite grosse Punkt in der Strategie betrifft die Standortfrage für das Kantonsspital Baselland (KSBL). Zur Diskussion steht das Festhalten an den bisherigen Standorten Liestal und Bruderholz oder aber ein ganz neuer Standort auf der «grünen Wiese» …
Mich hat an Jourdans Bericht erstens einmal erfreut, dass er das KSBL als systemrelevantes und zentrales Element bezeichnet. Und es stimmt mich zuversichtlich, dass er zusammen mit dem KSBL-Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung ein Programm anstösst, um das Ergebnis des Spitals zu verbessern: Das ist im Moment der entscheidende Punkt, unbesehen von der Standortdiskussion.
… lassen Sie uns zunächst bei der Standortwahl bleiben – Ihre Ansicht?
Die Politik muss jetzt vor allem aufpassen, dass wir nicht zu lange brauchen, um zu einem Entscheid zu kommen. Das könnte Gift sein für die dringende Verbesserung der Ergebnislage des KSBL.
Bis 2026 soll der Entscheid fallen.
Ja, es gibt allerdings Leute in anderen Fraktionen im Landrat, die gerne nochmals jeden Stein umdrehen würden. Mir dagegen geht das alles viel zu wenig schnell. Wir neigen dazu, Entscheidungen zu verzögern, statt sie zu fällen. Nach der gescheiterten Fusion von USB und KSBL vor fünf Jahren hat man die «grüne Wiese» schon einmal ausführlich diskutiert, hat alles kalkuliert, auf einem Seziertisch mit internen und externen Experten akribisch angeschaut. Zum Schluss ist man dann auf die «Fokus»-Strategie gekommen. Sie beinhaltet, dass man an den Standorten auf dem Bruderholz und in Liestal nicht das Gleiche, sondern mit zwei geschärften Leistungsangeboten operiert. Und dass man allenfalls auch Kooperationen mit anderen Anbietern sucht, dies vielleicht auch über die Kantonsgrenze hinaus. Das alles liegt also längst auf dem Tisch. Ich möchte jetzt endlich einen Schritt weiterkommen …
Kann ein Schaden entstehen, falls der politische Prozess länger dauert?
Wenn wir nun nochmals zwei Jahre zuwarten bis zum Entscheid und es bis zur Umsetzung zehn weitere Jahre dauert, dann laufen wir Gefahr, dass das KSBL weiter Marktanteile verliert. Also hätte ich mir von der Regierung jetzt schon eine eindeutigere Stossrichtung gewünscht. Der Ansatz muss meiner Meinung nach «Focus-Plus-Ambulantisierung» lauten.
Und das bedeutet?
Wir sollten uns dafür entscheiden, weiterhin an zwei Spitalstandorten festzuhalten. Liestal ist für mich gesetzt. Im Falle Bruderholz käme eine Spezialisierung auf einzelne medizinische Disziplinen samt Kooperationen mit Dritten infrage. Aber per se haben wir mit den beiden Standorten und zusätzlich dem Gesundheitszentrum Laufen ein Angebot im Kanton, das insgesamt gut funktionieren könnte. Die Probleme, die wir aktuell haben, beruhen vor allem auf Fehlentscheiden und Managementfehlern. Das hat mit der Standortfrage nichts oder nur wenig zu tun. Diese begangenen Fehler müssen nun rasch korrigiert werden.
Worin bestanden die Fehler?
Man hat sich zu viel mit Fusionen befasst; angefangen mit der Zusammenlegung der Standorte Liestal, Bruderholz und Laufen zu einem einzigen Gebilde. Und danach mit dem Plan zur später gescheiterten Fusion mit dem Unispital Basel. Ich war gegen beides.
Warum?
Ich war nie grundsätzlich gegen die Fusion von Liestal und Bruderholz, aber ein solcher Schritt müsste einen klar definierten Mehrwert bringen. Das war aufgrund der Kennzahlen nicht zu erkennen. Ich hätte für eine Verselbstständigung der beiden Standorte als eigenständige Gebilde mit jeweils eigenständigem Fokus plädiert. Ebenfalls aufgrund der Kennzahlen war ich später ein entschiedener Gegner der Fusion mit dem Unispital – das hätte dem Baselbiet nichts gebracht.
Sie haben beim KSBL gearbeitet, also haben Sie die Zahlen gekannt …
Als ich 2018 aus dem Management des KSBL ausgetreten bin und politisch tätig wurde, habe ich aus meinem Herzen nie Mördergruben gemacht und habe stets meine Meinung gesagt. Leider hatte man viele Fehler gemacht und stürzte sich schon in die zweite Fusion mit dem Unispital, noch bevor man die erste Fusion verdaut hatte. Wie die Zahlen zeigen, hat das zu einem Marktanteilsverlust beim KSBL geführt. Sehr früh bin ich übrigens für die Schliessung des Spitals in Laufen eingetreten – das war noch in meiner Zeit als KSBL-Kadermitarbeiter. Laufen hat man zurecht in ein Gesundheitszentrum umgewandelt. Das scheint gut gelungen zu sein. Bloss hat man zu lange gewartet, was viel Geld gekostet hat.
Ihre Partei war damals in beiden Fällen für eine Fusion.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich ändere aber meine Meinung nicht einfach aus Parteiräson heraus. Ich habe mich mit diesen Angelegenheiten in den vergangenen 35 Jahren vertieft auseinandergesetzt. Ich war von Anfang an klar und transparent. Das wurde auch von der Partei geschätzt. Wir haben inhaltlich solide Diskussionen geführt.
Haben wir es heute mit einem Problem des Baselbieter Gesundheitswesens zu tun? Oder mit Problemen der Baselbieter Gesundheitspolitik?
Im Gesundheitswesen haben wir schweizweit ein generelles Problem – nämlich die unzureichende Finanzierung von stationären Institutionen. Das hat viel mit unzureichenden Tarifen und den stark gestiegenen Kosten zu tun. Nahezu 80 Prozent der Kosten eines Spitals sind Lohnkosten. Nach Jahren der Nullteuerung hat sich die finanzielle Situation schlagartig verschärft. Nach der Pandemie stiegen Löhne, Energiekosten und die allgemeine Teuerung war enorm. Die Tarife konnten da nicht mithalten, es entstand logischerweise sofort eine Lücke zwischen Aufwand und Ertrag.
Das betrifft also alle?
Sehen Sie sich das Unispital Basel mit seinen Schwierigkeiten an, das Insel-Spital Bern mit mehr als 100 Millionen Franken Defizit, auch die Spitäler Aarau, Freiburg oder St. Gallen schreiben rote Zahlen: Durchs Band weg kämpfen alle mit der gleichen Problematik.
Also ein Strukturproblem.
Zum Teil, doch so einfach ist es auch wieder nicht. Die Spitäler, die Effizienz und Effektivität früh gelebt haben, stehen natürlich besser da. Die anderen müssen jetzt schleunigst nachbessern. Und dazu gehört vor allem auch das KSBL. Das Problem hier liegt allerdings nicht primär an der Teuerung, sondern vor allem an den Managementfehlern der Vergangenheit. Kein anderes Spital in der Nordwestschweiz hat mehr Marktanteile verloren!
Woran lag das genau?
Wenn ein Spital Terrain verliert, hat es immer mit dem Abgang von gutem Personal zu tun. Wenn Kaderärzte einem Spital den Rücken kehren, hat das immer auch mit falschen unternehmerischen Entscheiden zu tun. Das schleckt keine Geiss weg: Im Gesundheitswesen ist ein starker Wettbewerb im Gang. Hier hat das KSBL viel Terrain eingebüsst.
Welche Fehler haben zum Rückgang der Fallzahlen und zum Weggang der Patienten geführt?
Das hatte viel mit der ersten Fusion der drei Spitalstandorte im Kanton zu tun. Statt rasch den Fokus zu schärfen, hat man lange Debatten geführt und nichts entschieden. Nur ein Beispiel unter vielen: Man hat die Gynäkologie/Geburtshilfe Bruderholz ohne realen Gegenwert mir nichts, dir nichts ins Bethesda, das heute zum Unispital Basel gehört, abziehen lassen – in der Meinung, dies würde in Liestal einen Zuwachs bringen. Das ist aber nicht passiert. Man hat faktisch eine ganze Klinik ohne Not aufgegeben – eine ganze Klinik!
Wie wichtig sind einzelne Spezialisten und Chefärzte?
Ein Beispiel. Wenn ein Chefarzt und grosser Spezialist für Hüftoperationen das Spital verlässt und in eine Privatklinik wechselt, so kann das in den Kennzahlen der Leistungserbringung direkt festgestellt werden.
Das lässt sich mit einem Effizienzsteigerungsprogramm nicht ausgleichen?
Nein, das reicht nicht: Letztlich geht es auch in einem grossen Spital immer um Menschen und einzelne Personen. Eine wesentliche Rolle spielen bei einem Spital die zuweisenden Ärztinnen und Ärzte. Man kann noch so viel Bandenwerbung machen oder irgendwelche Flyer aushängen – deutlich einflussreicher als die breite Öffentlichkeit sind die Allgemeinpraktiker, die zuweisenden Hausärzte und die zuweisenden Spezialisten. Sie kann man nur mit Qualität überzeugen, nicht mit Werbung. Das Zusammenspiel im gesamten Netzwerk von medizinischer Versorgung ist für ein Spital wichtig. Hier hatte das KSBL zunehmend schlechtere Karten.
Lässt sich das reparieren?
Ich bin überzeugt, dass die verantwortlichen Leute, gerade auch die Verwaltungsratspräsidentin, den Sachverhalt ähnlich sehen. Ich habe eine gewisse Hoffnung, dass man mit der künftigen Strategie aus diesem Tal der Tränen endlich herauskommt.
Die Nordwestschweiz ist ein abgeschlossener Wirtschaftsraum – wer ist die übermächtige Konkurrenz, nur das Unispital Basel?
Wenn man die Patientenströme und den Marktanteilsverlust analysiert, dann ist es tatsächlich das Unispital, aber auch einige Privatspitäler haben hinzugewonnen. Marktanteilverluste wirken sich für Spitäler verheerend aus: Ein Spital verfügt über eine Infrastruktur, die auf eine gewisse Leistungserbringung und eine gewisse Grösse ausgerichtet ist. Wenn man von ursprünglich gegen 30 000 stationären Fällen im Jahr 2012 auf 22 000 im Jahr 2024 abfällt, muss ich Ihnen nicht erklären, was das wirtschaftlich bedeutet, das ist ökonomisches Einmaleins. Die gleichbleibend hohen Fixkosten werden auf immer weniger Fälle heruntergebrochen. Dadurch wird man ökonomisch ineffizient.
Thomi Jourdan sagt, mit nur schon 2000 Fällen mehr pro Jahr wäre das Problem des KSBL gelöst …
Das ist nicht falsch. Bei einer Basisfallrate von 10 000 Franken ist mit 2000 zusätzlichen Fällen schon viel gewonnen – da kommt man finanziell sofort in enorme Dimensionen. Doch das ist genau der Punkt: Die Fallzahlen sind in den vergangenen Jahren so stark zurückgegangen, dass sich das nur schwer wieder aufholen lässt.
Wäre «Gesundschrumpfen» eine Strategie?
Für mich nicht. Wir haben die Erwartung und den Anspruch, die erweiterte Gesundheitsversorgung in diesem Kanton zu einem guten Anteil selbst abzudecken. Allerdings sicher nicht zu 100 Prozent, das gab es im Baselbiet noch nie. Wir haben seit jeher mit den Institutionen in Basel-Stadt kooperiert, was ja auch richtig ist. Als Politiker bin ich aber der Meinung, dass der Versorgungsgrad nun nicht noch weiter sinken darf. Thomi Jourdan weist zurecht darauf hin, dass jeder Baselbieter, der ins Basler Unispital geht, uns wegen der dort höheren Tarife viel Geld kostet. Ich möchte, dass wir nah am Wohnort der Einwohnerinnen und Einwohner des Baselbiets eine eigene, gute Grundversorgung haben und als Kanton selbstbewusst das eigene Spital pflegen. Dafür bin ich schon damals jahrelang als KSBL-Kadermitarbeiter eingestanden. Die Entwicklung der vergangenen Jahre schmerzt mich.
Das KSBL macht derzeit mehr als 20 Millionen Franken Defizit. Warum?
Ich habe die Kosten des KSBL in vier Bereichen von 2012 bis 2020 indexiert analysiert. Fallzahlen und Umsatz sind in diesem Zeitraum deutlich zurückgegangen. Indessen zeigt sich, dass die Lohnkosten der Administration seit der Fusion deutlich gestiegen sind. Es ist die einzige Kurve, die nach oben zeigt! Das ist tödlich. Die Lohnkosten der «Weisskittelbereiche» – Ärzte, Pflege, Therapie und so weiter – sind hingegen leicht gesunken. Hier sind wir im Wertschöpfungsbereich.
Das sind doch wesentliche Fakten.
Genau, ich will eine Stabilisierung dieses Spitals. Die Fehler liegen in der Vergangenheit. Dies ist auch der Grund, warum ich damals beim KSBL gegangen bin. Aber ich bin immer noch mit Leidenschaft ein Verfechter dieses Spitals.
Also sehen Sie die Priorität der Strategie im Ergebnisverbesserungsprogramm?
Unbedingt. Entweder das KSBL gewinnt Marktanteile zurück oder man muss die Kosten dem gesunkenen Ertrag anpassen.
Ein Sparprogramm …
… wäre eine grosse Herausforderung. Und ein Risiko: Man kann auch falsch sparen, wenn man beispielsweise Stellen einspart, die eine hohe Wertschöpfung bringen. Damit wird man sicher nicht effizienter.
Wie wird man effizienter, und welchen Beitrag kann die Ambulantisierung leisten?
Fokussierung, Zusammenarbeit und Vernetzung sind ein guter Ansatz. Man vergisst immer wieder, wie viele Verträge heute zwischen USB und KSBL noch bestünden. Man könnte die Zusammenarbeit wieder schärfen, um effizienter zu werden.
Der Wind weht anders: Die SVP will die Zusammenarbeit mit Basel in der «Gemeinsamen Gesundheitsregion» sofort aufkündigen.
Laut Jourdans Bericht haben die beiden Regierungen entschieden, eine Wirkungsanalyse zu machen und die Ergebnisse auszuwerten, und dann behandelt die Gesundheitskommission des Landrats das Thema. Dabei sind alle Optionen offen. Weitere Vorstösse sind gar nicht nötig. Das ist reine Politik für die Galerie.
Jourdan will in der Ambulantisierung verstärkt mit Privaten zusammenarbeiten.
Es gab auch früher schon Projekte für ein Public Private Partnership. Erfolge bei solchen Abkommen sind immer auch von Konstellationen und Personen abhängig. Und manchmal braucht es das Momentum, damit etwas zustande kommt.
Das hat mit Glück zu tun?
Das hat mit Beharrungsvermögen zu tun! Man muss auch einmal den Mut haben, etwas zu realisieren, ohne das allerletzte Detail abzuklären: Als Ökonom sage ich, ein Nullentscheid oder endloses Abwarten ist letztlich ebenfalls ein strategischer Entscheid – meistens allerdings einer, der sehr teuer wird …
Welche Beispiele gibt es?
In der regionalen Spitallandschaft beispielsweise das Claraspital, das unter laufendem Betrieb die Erneuerung und Erweiterung durchgeführt hat. Das war nie gross in der Öffentlichkeit, dabei wurden zig Millionen verbaut. Es zeigt, dass das geht. Es braucht einfach Beharrungsvermögen, eine gute Strategie und eine gute Umsetzung.
Der Liestaler Privatspitalbetreiber Tibor Somlo sagte jüngst in der «Volksstimme», die Privaten könnten es besser …
In dieser Absolutheit liegt er falsch. Ich habe hohe Wertschätzung für Leute, die es geschafft haben. Aber ich habe in meiner langen Zeit in vielen Gremien sowohl gut geführte öffentliche als auch gut geführte private Spitäler angetroffen – und schlecht geführte öffentliche wie auch schlecht geführte private. Diese Frage ist mehrschichtig: Wenn man nur die Rentabilität eines Spitals anschaut, hat ein Haus, das nur plastische Chirurgie anbietet, ein ganz anderes Standing als ein Haus mit einer Grundversorgung inklusive 24-Stunden-Notfall – da liegen Welten dazwischen.
Jourdan will mehr Ambulantisierung – reduziert das den Druck auf die Notfallabteilungen?
Eine Notfallversorgung ist teuer. Ich möchte am Ende nicht x Notfallstationen verstreut über das ganze Kantonsgebiet sehen. Intensivpflege-Kapazitäten sind extrem aufwendig, und man muss sie konzentriert anbieten. Eine ambulante Erstversorgung ist dezentral, aber gleichwohl möglich, etwa mit Gemeinschaftspraxen. Die liegen im Trend und bieten viele Vorteile, bis hin zur Entlastung der Ärzte in puncto Arbeitszeit. Das «Bachtannen» im Waldenburgertal ist dafür ein Vorzeigeprojekt: Es bietet eine gute Versorgung an, auch in Notfällen – ohne dass es dort gleich eine vollwertige Notfallstation mit dem ganzen Backup braucht.
Hausärzte wollen heute keine 16-Stunden-Tage mehr, Patienten aber wollen 24 Stunden die beste Betreuung. Also rennen sie wegen der Schramme, die laut Internet zur Blutvergiftung führen könnte, in den Spital-Notfall …
Ich war administrativ federführend, als wir die hausärztliche Notfallpraxis am KSBL-Standort in Liestal aufgebaut haben. Dorthin kann man zu Abend-, Nacht- und Wochenendzeiten kommen. Die Hausärzte können so ihre zuvor dezentralen Notfalldienste bündeln. Gleichzeitig gibt es auf dem Notfall in Liestal eine Triage von lebensbedrohlichen Notfällen und den anderen Fällen. Das KSBL hat das vor Jahren mit Erfolg eingeführt, das Universitäts-Kinderspital beider Basel UKBB ist auch daran, diesen Modus weiterzuentwickeln.
Wir reden von Fallzahlen und Tarifen. Müsste man nicht stärker auf die neue Konsumkultur eingehen?
Natürlich sind die gesellschaftlichen Veränderungen zu berücksichtigen. Die Bindung zum Hausarztmodell, wie wir sie kannten, fällt langsam weg. Das lässt sich nicht ändern, aber vielleicht kann man mit passenden Angeboten ein bisschen Gegensteuer geben.
Sie meinen Selbstverantwortung und Anreize, wie die Franchise.
Ich argumentiere in diesen Fragen als Ökonom gerne mit Fakten. Derzeit gibt es die Diskussion darüber, den Besuch der Notfallstation mit einer Gebühr von 50 Franken zu belasten, wenn sich herausstellt, dass es sich nicht um einen «echten» Notfall gehandelt hat. Das geht vollständig in die falsche Richtung. Erstens sind 50 Franken kein besonders grosser Anreiz. Zweitens sollen um Gottes Willen nicht noch mehr bürokratische Nonvaleure in die Abläufe der Spitäler eingebaut werden. Allein die Abklärung, ob es sich um einen «echten» Notfall handelt oder nicht, ist ein administrativer Leerlauf. Das ist vielleicht gut gemeint, aber total falsch. Solche Dinge muss man den Fachleuten überlassen und nicht populistische politische Debatten führen, wie wir es kürzlich im Landrat zu diesem Thema ebenfalls getan haben.
Warum bieten Gesundheitsversorger nicht wie Fastfood-Ketten dezentrale «Drive-Ins» an?
Das wäre im Trend …
Wenn es einen Markt dafür gibt – warum nicht? Apotheken spielen eine wichtige Rolle. Sie sind oft in den dörflichen und städtischen Zentren und es gibt auch Bahnhofsangebote. Die jüngeren Generationen mögen Permanence-Praxen und -Kliniken – all das gehört heute ebenfalls zur Gesundheitsversorgung.
Auf all diese Dinge setzt ja auch Jourdans Strategie.
Man muss es einfach in der Kaskade sehen: Solche Dinge haben ihre Daseinsberechtigung. Aber ich möchte, dass in Liestal weiterhin ein Spital mit einer top eingerichteten Notfallstation steht. Und das kann es nicht zwei- oder dreifach in der näheren Umgebung geben.
Ein Insider
sep. Urs Roth (65), Landrat SP, absolvierte ein Ökonomiestudium an der Universität Basel. In seiner beruflichen Laufbahn war er lange Jahre als Ressortverantwortlicher und Geschäftsleitungsmitglied im Gesundheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt tätig (1991–2003). Anschliessend war er 15 Jahre Bereichsleiter Tarife und Verträge im Kantonsspital Liestal und im Kantonsspital Baselland. Im Jahr 2018 verliess Roth das Kantonsspital und machte sich als Gesundheitsökonom selbstständig. Praktisch gleichzeitig mit seinem Austritt aus dem KSBL engagierte sich Roth verstärkt in der Politik und wurde 2019 für die SP in den Landrat gewählt.
Er ist Mitglied der landrätlichen Volkswirtschafts- und Gesundheitskommission und hat Einsitz in der IGPK des UKBB. In seinem Hauptmandat wirkt Urs Roth als Geschäftsführer des Spitex-Verbandes Baselland. Er geht Mitte dieses Jahres in den Ruhestand, behält aber seine politischen Mandate bei.
Urs Roth ist verheiratet, wohnt in Niederdorf und hat drei erwachsene Kinder.