Hirsch im Anmarsch – Tempo bestimmt Astra
09.07.2024 Baselbiet, Natur, BaselbietIst die Wildtierbrücke bei Oensingen gebaut, dürfte das Rotwild auftauchen
Vereinzelt werden im Kanton immer wieder Rothirsche gesichtet, in diesem Jahr bis jetzt zwei. Doch wirklich besiedeln kann der vor über 200 Jahren ausgerottete Rothirsch die hiesigen Wälder ...
Ist die Wildtierbrücke bei Oensingen gebaut, dürfte das Rotwild auftauchen
Vereinzelt werden im Kanton immer wieder Rothirsche gesichtet, in diesem Jahr bis jetzt zwei. Doch wirklich besiedeln kann der vor über 200 Jahren ausgerottete Rothirsch die hiesigen Wälder erst, wenn die unüberwindbare Barriere A1 am Jurasüdfuss mittels einer Wildtierbrücke passierbar gemacht wird. Das dürfte spätestens 2032 der Fall sein.
Andreas Hirsbrunner
Kein anderer Rückkehrer – vielleicht mit Ausnahme des Wolfs – macht so viel von sich reden, bevor er im Baselbiet richtig angekommen ist, wie der Rothirsch. Deshalb widmen die «Waldnachrichten», herausgegeben vom Amt für Wald beider Basel, dem Verband Forstpersonal beider Basel und dem Waldeigentümerverband, ihre neuste Ausgabe dem König der heimischen Fauna. Und zwar aus verschiedenen Blickwinkeln.
Andreas Boldt, Wildtierbiologe bei Pro Natura, erwartet den Rothirsch uneingeschränkt positiv: «Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Wälder durch die Präsenz des Rothirsches offener, heller, strukturreicher und diverser werden.» Das begünstige die Biodiversität. Der Sissacher Martin Thommen, Präsident von Jagd Baselland, sieht vor allem seine «Zunft» in der Pflicht: «Wir sind auch der Auffassung, dass der Hirsch bei uns seine Daseinsberechtigung hat. Aber es ist wichtig, den Bestand an Rotwild gut geplant von Anfang an zu regulieren.»
Mit gemischten Gefühlen blickt Niggi Bärtschi, ebenfalls aus Sissach und Privatwaldbesitzer, Bürgerrat und Vorstandsmitglied von Wald beider Basel, der Rückkehr des vor mehr als 200 Jahren ausgerotteten Rothirsches entgegen: «Wenn wir ehrlich sind, weiss niemand von uns, wie sich die Situation im Detail präsentieren wird.» Die Rückkehr des Hirsches falle in eine Zeit, in der die Waldbesitzerinnen und -besitzer wegen der Trockenheit ohnehin am Anschlag seien. Bärtschi sagt aber auch: «Ob Reh, Wildsau oder Hirsch – der Wald gehört den Wildtieren.»
Rotwildkonzept ausarbeiten
Keiner aber steht bei der bevorstehenden Rückkehr des Rothirsches so im Spannungsfeld wie Holger Stockhaus. Denn mit seinen Funktionen beim Kanton hat er zwei Hüte auf: Einerseits ist er als kantonaler Jagd- und Fischereiaufseher einer möglichst grossen Artenvielfalt im Baselbiet verpflichtet. Andererseits steht für ihn als stellvertretender Leiter des Amts für Wald beider Basel ein möglichst gesunder Wald ohne Schadensverursacher im Vordergrund.
Der bis zu 250 Kilogramm schwere Rothirsch aber ist ein Schadensstifter grösseren Kalibers, denn er verbeisst den Jungwuchs, schält Bäume und fegt sein Geweih an Baumstämmen, um es von der Basthaut zu befreien. Auf das Dilemma angesprochen, sagt Stockhaus: «Grundsätzlich ist jede zurückkehrende Wildart ein positives Zeichen für die Natürlichkeit des Lebensraums. Für mich persönlich überwiegt die Freude trotz aller Herausforderungen.» Man müsse sich rechtzeitig Gedanken machen, welche Schutzmassnahmen notwendig seien und wie man mit den Schäden umgehe, so Stockhaus. Das betreffe nicht nur den Wald, sondern auch die Landwirtschaft.
Das Amt für Wald hat deshalb eine Arbeitsgruppe mit Vertretern aus verschiedenen Bereichen einberufen, die bis nächstes Jahr ein Rotwildkonzept ausarbeiten soll. Die Einberufung dieser Arbeitsgruppe sei auch der Grund, warum die «Waldnachrichten» gerade jetzt das Thema Rotwild aufgreifen, so Stockhaus.
Den Wolf im Schlepptau
Zwar werden im Baselbiet dank Fotofallen immer wieder vereinzelte, vor allem männliche Rothirsche gesichtet. Im Vorjahr waren es laut Stockhaus neun Tiere bei Ziefen, Lauwil, Langenbruck, Hemmiken und Pfeffingen, dieses Jahr bisher zwei bei Laufen. Sie dürften vor allem aus dem Kanton Jura stammen, möglicherweise auch aus den Kantonen Solothurn und Aargau sowie aus Frankreich, vermutet der Jagdverwalter.
In grösserer Zahl wird der Rothirsch das Baselbiet aber erst besiedeln, wenn das für ihn grösste Hindernis im Mittelland überwindbar wird. Stockhaus: «Die Autobahn A1 ist heute für den Rothirsch, der in grösseren Populationen südlich der Autobahn lebt, eine praktisch unüberwindbare Barriere. Wenn die geplante Wildtierbrücke bei Oensingen gebaut wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Tiere von dort zu uns kommen.»
Diese Wildtierbrücke wird im Rahmen des Sechsspurausbaus der A1 zwischen den Verzweigungen Luterbach und Härkingen erstellt. Laut aktuellem Zeitplan des Astra beginnt der Ausbau im nächsten Jahr, und zwar in drei Baulosen von West nach Ost. Die Erstellung der Wildtierbrücke steht innerhalb des letzten Loses zwischen 2030 und 2032 auf dem Programm.
In welcher Formation die Hirsche dann ins Baselbiet kommen, darüber kann Stockhaus nur spekulieren. Er rechnet aber damit, dass sich bald Rudel bilden werden. Bedeutet das, dass man hier auch vermehrt mit Wölfen rechnen muss? Denn in Lebensräumen, in denen beide Tierarten vorkommen, steht das Rotwild ganz oben auf dem Speiseplan des Wolfs. Stockhaus zögert und antwortet dann: «Ja, das ist nicht ausgeschlossen. Anders als beim Rotwild dürfte das Freudenbarometer bei Förstern und Waldbesitzern also steigen, bei den Jägern aber sinken.»