Höhenangst? Kein Problem
12.08.2025 Bezirk Waldenburg, Natur, Bezirk Waldenburg, Baselbiet, LauwilFlugfest des Delta-/Paraclubs Hohwacht – ein Beinahe-Selbstversuch
«Lauf! Jetzt!» Ich befolge das Kommando und mache wie vorher abgemacht einige Schritte den steilen Hang hinunter. Als ich spüre, wie ich von hinten angeschoben werde, beschleunige ich – und ...
Flugfest des Delta-/Paraclubs Hohwacht – ein Beinahe-Selbstversuch
«Lauf! Jetzt!» Ich befolge das Kommando und mache wie vorher abgemacht einige Schritte den steilen Hang hinunter. Als ich spüre, wie ich von hinten angeschoben werde, beschleunige ich – und verliere eine, zwei Sekunden später den Boden unter den Füssen. Ich fliege.
Es ist Samstagmittag, Flugfest des Delta-/Paraclubs Hohwacht. In der kleinen Festwirtschaft am Dorfrand von Lauwil duftet es nach Grilliertem, die Küchencrew schaltet einen Gang hoch. Während Vereinsmitglieder und Gäste vom Startplatz Hohwacht mit ihren Gleitschirmen starten, werden in der Festbeiz Kontakte gepflegt. Denn der Verein ist auf den Goodwill von Gemeinden, Naturschutz und Landwirtschaft angewiesen.
Louis Diethelm im Jahr 1989 Mitgründer des Vereins und ehemaliger Präsident, gibt am Mikrofon bekannt, wer startet und wer zum Landeanflug auf der Wiese vor dem Festzelt ansetzt. Die Piloten kommen entweder solo an oder mit einem Passagier. Für 100 Franken werden Passagier- oder Tandemflüge von der Hohwacht angeboten. Ich kann dem Reiz nicht widerstehen.
Und schon geht es im voll besetzten Land Rover vom Festplatz aus steil hinauf zum Startgelände auf 1050 Metern Höhe. Im Anhänger befinden sich die in grosse Rucksäcke gestopften Gleitschirme der Flieger. Mein Pilot Rolf Zgraggen (Titterten) sei mit 40 Flugjahren einer der erfahrensten Piloten im Verein, sagt man mir vor der Fahrt. Als ich ihm gestehe, dass ich unter Höhenangst leide, sagt er nur: «Ich auch», beim Gleitschirmfliegen sei das aber kein Problem. Ob er flunkert? Egal, denn es hilft. Ich kann es kaum erwarten, in die Luft zu gehen.
Nicht selten beginnen Passagiere eines Tandemflugs aktiv mit dem Gleitschirmfliegen. Die Mitgliederwerbung sei mit ein Grund, weshalb der Verein jedes Jahr zum Flugfest einlädt, sagt Vereinspräsident Beat Gisin (Thürnen): «Wir können zeigen, dass wir keine lebensmüden Spinner sind.» Auf Neumitglieder angewiesen ist der Verein aber nicht: Mit 222 Mitgliedern von 18 bis 80 Jahren, die meisten aktive Piloten, sei der Delta-/Paraclub Hohwacht der grösste der Nordwestschweiz.
Neben dem Erhalt der Fluggebiete gehöre die Förderung der Flugsicherheit zu den wesentlichen Zielen seines Vereins, so Gisin. Flugschul-Absolventen würden durch Begleitung und Weiterbildungen des Paraclubs in die Selbstständigkeit geführt. Denn obwohl die Ausbildung unter anderem mindestens 50 Flüge umfasst, ist ein Gleitschirmpilot oder eine -pilotin mit dem Brevet längst nicht komplett.
42 Quadratmeter, 7 Kilogramm
Im Startgelände reicht mir Zgraggen einen Kopfschutz und lässt mich in ein «Gstältli» steigen, das er verschliesst und festzurrt. Dann widmet er sich dem Schirm und breitet ihn oberhalb einer steil abfallenden Wiese aus. Unser Fluggerät aus reissfestem, hauchdünnem Nylon hat die Form einer stark in die Breite gezogenen Ellipse, 42 Quadratmeter Fläche und wiegt federleichte 7 Kilogramm. Die Tragkraft seines Schirms betrage bis zu 240 Kilogramm, sagt der Profi. So viel bringen wir beide mit Sicherheit nicht auf die Waage. Das ist gut.
Nach vier Jahrzehnten Flugerfahrung mit dem Gleitschirm sitzt beim 64-Jährigen jeder Handgriff. Schliesslich liegt der Schirm in voller Grösse auf der Wiese, die Leinen sind entwirrt. Nun geht alles so rasch, dass keine Zeit bleibt, nervös zu werden. Zgraggen verbindet sich mit dem Gleitschirm und hängt mich mit zwei Karabinerhaken an sein Gurtzeug. Ich solle nach vorne in den Himmel schauen, sagt er, während er bei einem Hauch von Gegenwind an den Leinen zieht. Der Schirm füllt sich sofort mit Luft und zerrt an den Leinen, am Piloten, an meinem «Gstältli». Wir heben ab. Durch die Steile des Abhangs befinden wir uns rasch 100 Meter und mehr über dem Boden. Von Schwindel oder Angst keine Spur, im Gegenteil: Ich hoffe, dass Rolf Zgraggen einen Kamin mit aufsteigender, warmer Luft findet, die uns weit in die Höhe zieht.
Der Jura sei aufgrund seiner Topografie und Thermik ein ideales Gebiet für Anfänger, erklärt Beat Gisin. Die hochalpine Thermik sei «giftiger» und das Fliegen sowie das Finden geeigneter Landeplätze anspruchsvoller. Doch ist die Flughöhe im Jura auf 3000 Meter beschränkt, je nach Einflugschneise zum EuroAirport sogar nur auf 1750 Metern. In den Alpen sind hingegen bis zu 4550 Meter erlaubt. Und möglichst viel Höhe gewinnen muss, wer lange in der Luft bleiben und weit fliegen will.
Der Vereinspräsident bezeichnet sich als Streckenflieger. Plant er einen langen Flug, checkt er schon Tage zuvor die Wettervorhersagen, um seine Flugroute zu bestimmen: In den 20 Jahren, die er schon fliege, sei er fast zum Wetterexperten gereift, so Gisin. Das zahlt sich aus: An einem sehr guten Tag können ihn vertikale und horizontale Winde in 10 Stunden 200 Kilometer weit tragen.
Bilderbuchwetter und -landung
Die wichtigsten Begleiter auf einem Flug sind das Variometer, das die Steig- oder Sinkrate anzeigt, sowie die Sinne des Piloten. Riecht es in der Höhe nach Gülle oder Heu oder entdeckt man Schmetterlinge, einen Steinadler oder einen Milan, seien das Indizien für aufsteigende Luft, sagt Gisin. Während meines Tandemflugs piepst das «Vario» kaum. Wir haben diesen Samstag zwar Bilderbuchwetter, doch mit der Thermik ist es nicht weit her. Schon nach wenigen – viel zu wenigen – Minuten, immerhin mit einigen spektakulären, schnell geflogenen Kurven, sagt der Pilot, dass ich mich aufrichten soll und dann loslaufen, sobald wir Bodenkontakt haben. Wir legen eine perfekte Landung hin. Mein erster Gedanke: Davon will ich mehr.
Alle 31 Tandem- und auch die rund 150 Soloflüge am diesjährigen Flugfest verlaufen ohne Zwischenfälle. Bei all der Ruhe, die Routiniers wie Rolf Zgraggen oder Beat Gisin ausstrahlen, könnte man beinahe vergessen, dass dieser Sport nicht ungefährlich ist. Im Durchschnitt verunfallen in der Schweiz jedes Jahr sieben Gleitschirmpiloten tödlich. Der Lauwiler Verein hat seit 1989 drei Mitglieder verloren. «So gewissenhaft man sich auch vorbereitet
– ein Restrisiko bleibt», sagt Gisin. Das grösste Unfallrisiko bestehe bei Start und Landung. Bei Problemen in grosser Höhe könne der Notschirm geworfen werden.
Wie gehen die Piloten damit um? «Um weiterzukommen, muss ich an die Grenze meiner Fähigkeiten gehen», sagt Beat Gisin, «aber ich versuche, sie nicht zu überschreiten.» Und wie steht die Familie zum Hobby? «Sie steht dahinter. Alle wissen, dass ich es seriös betreibe und es mir enorm viel Lebensqualität gibt.»
Christian Horisberger