Eltern suchen nach Hilfe
07.11.2025 Baselbiet, Baselbiet, GesundheitBetroffene fordern mehr Unterstützung im Umgang mit Autismus
Autistische Kinder sind betreuungsintensiv. Ein Elternpaar aus Binningen will, dass der Kanton sich stärker beteiligt und richtet sich mit zwei Petitionen an ihn, doch dieser wägt ab.
Daniel ...
Betroffene fordern mehr Unterstützung im Umgang mit Autismus
Autistische Kinder sind betreuungsintensiv. Ein Elternpaar aus Binningen will, dass der Kanton sich stärker beteiligt und richtet sich mit zwei Petitionen an ihn, doch dieser wägt ab.
Daniel Aenishänslin
Noé springt auf seinem Trampolin im Wohnzimmer immer wieder in die Höhe; Noé klopft mit einem Unihockeystock konsequent auf den Wohnzimmerboden; Noé wechselt auf seinem Smartphone von Videoclip zu Videoclip; Noé trägt an einer Schnur um den Hals einen Beissring, um sich abzureagieren, wenn er wütend wird; Noé ist Autist.
Der 11-jährige Binninger Noé Ammann wird von seinen Eltern und seiner Schwester heiss geliebt, bringt sie aber auch immer wieder zur Weissglut. Er lebt in seiner eigenen Welt und hinterlässt in der unseren regelmässig Schäden. Beispielsweise Schlaglöcher zu Hause an der Wohnzimmerdecke oder auf dem Fussboden, wenn er mit einem Stock umherspringt.
Noé redet, schreibt und rechnet nicht. Er hat wenig Sinn für Gefahren, die da im Alltag lauern. Mit Esswaren kann er ebenso wenig umgehen. «Food Waste ohne Ende», sagt Vater Tobias Ammann. Kurz: Noé braucht rund um die Uhr jemanden, der sich um ihn kümmert.
Tobias und Justiana Ammann wollen aber wieder einmal durchatmen. Deshalb richten sie sich mit zwei Petitionen an den Kanton. Ihre Anliegen sind eine Tagesstruktur an heilpädagogischen Schulen für alle Kinder, familienexterne Betreuung an schulfreien Nachmittagen, während der Schulferien, auch nachts, und eine gerechte Bezahlung für entlastende Pflegefamilien. Zudem sollen Kinder wie Noé nicht in Heime gedrängt werden, was der Kanton forciere. «Dabei ist diese Variante kostspieliger als eine ambulante», kritisiert Tobias Ammann.
Heim und Medikamente
Er fühle sich an der Nase herumgeführt, sagt Tobias Ammann. Heime seien meist auf physisch behinderte Kinder ausgelegt. Zwischen den Zeilen der Korrespondenz mit den Ämtern lese er zudem: «Wir sagen Ihnen nicht, wo dieses Heim ist, weil es dieses wahrscheinlich gar nicht gibt.» Ammann wisse jedenfalls nicht, «wo dieses Angebot existieren soll».
Nicht zuletzt, weil Noé auf Medikamente angewiesen ist, wurde der Familie auch schon ein stationärer Aufenthalt Noés in einer Klinik nahegelegt. Noé erhält Medikamente gegen Hyperaktivität, Frustration, Aggression, Tics und Einschlafmittel. Aus einem Schreiben des Amts für Kind, Jugend und Behindertenangebote liest Ammann vor: «Zusätzlich empfehle ich Ihnen zeitnah, mit den geeigneten medizinischen Fachpersonen die Medikation Ihres Sohns zu überprüfen.» Und zum stationären Aufenthalt: «Ein solcher sollte frühzeitig aufgegleist werden, damit sich die Klinik personell auf den Bedarf Ihres Sohnes vorbereiten kann.»
Zwingend ist eine Petition, der Weg, den die Ammanns gewählt haben, nicht. Es handelt sich dabei um ein Gesuch, eine Anregung, eine Bitte oder eine Kritik, die sich an eine staatliche Behörde richtet. Die Behörden sind verpflichtet, die Petitionen zur Kenntnis zu nehmen und zu beantworten.
Fabienne Romanens, Mediensprecherin der Bildungs-, Kulturund Sportdirektion (BKSD), erklärt auf Anfrage, die BKSD habe von der erwähnten Petition offiziell keine Kenntnis, da sie sich an den Landrat richte und von diesem noch nicht entgegengenommen worden sei. Sie führt aber erklärend aus, Sonderschulen könnten bei Bedarf unter der Woche zusätzlich Betreuung an schulfreien Nachmittagen und nach der regulären Unterrichtszeit bis maximal 18 Uhr anbieten. Verpflichtet dazu seien sie nicht.
Schützenhilfe aus dem Landrat
«Einen Anspruch auf Zugang zu und Aufnahme in ein familien- und schulergänzendes Betreuungsangebot gibt es auch für Regelschülerinnen und Regelschüler nicht», so Romanens, «dies für Sonderschülerinnen und Sonderschüler einzuführen, würde gegen das Gebot der Rechtsgleichheit verstossen.» Das hält Tobias Ammann für eine falsche Interpretation von Rechtsgleichheit. Die aktuelle Situation bringe ihn und seine Familie «psychisch und physisch» ans Limit. «Längerfristig ist das kein Zustand. Es gefährdet die familiäre Stabilität.»
Schützenhilfe erhalten Justiana und Tobias Ammann von SP-Landrat Andreas Bammatter. Er verlangte im Juni vom Regierungsrat, die Situation zu prüfen. In seinem Postulat bemerkt er: «In den vergangenen Jahren ist der Anteil von Kindern mit schwerem Autismus, komplexen Entwicklungsstörungen und erheblichem Betreuungsbedarf markant gestiegen.» Die aktuelle Finanzierungssystematik berücksichtige diese Entwicklung nicht und sei trotz Teuerung und zunehmender Komplexität nicht angepasst worden.
Schul- und Betreuungseinrichtungen könnten ihre gesetzlichen Aufgaben gemäss kantonalem Bildungsgesetz sowie Bundesrecht nicht mehr erfüllen, bemängelt Bammatter. Diese Unterversorgung stelle nicht nur eine bildungs-, sondern auch eine sozial- und rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklung dar. Die Chancengleichheit von Kindern mit Behinderungen werde untergraben.
«Das reicht nirgendwo hin»
Betroffenen Familien würden Leistungen der Invalidenversicherung zur Unterstützung zur Verfügung stehen, macht Mediensprecherin Romanens geltend. «Das reicht nirgendwo hin», sagt Tobias Ammann. Je nach Sachverhalt stünden auch Leistungen basierend auf Bundesgesetzebene oder im Rahmen der Finanzierung von Pflegeleistungen zur Verfügung, so Fabienne Romanens weiter.
Der Kanton habe die Aufgabe, Entlastungsangebote wie jene in Heimen zu finanzieren, deren Kosten die finanziellen Möglichkeiten der Familien übersteigen. Das Angebot im Baselbiet sei mit anderen Kantonen vergleichbar oder sogar besser. Der Bedarf an heilpädagogischen Angeboten sei im Baselbiet gedeckt. Im Bereich Heilpädagogik bestehe aber gesamtschweizerisch ein Fachkräftemangel. «Bereits heute können offene Stellen nicht immer innert nützlicher Frist mit qualifiziertem Personal besetzt werden», räumt Fabienne Romanens ein.
Justiana und Tobias Ammann haben nie frei. «Ausser einer von uns beiden beisst in den sauren Apfel», sagt Noés Vater. Die «Schwerfälligkeit» der Ämter sei «extrem». Noé brauche eine Eins-zu-eins-Betreuung, sei anstrengend und wenn er sich nicht genügend bewegen könne, werde er aggressiv gegenüber anderen Kindern. Eine Hoffnung wäre der Sonnenhof in Arlesheim: Sonderschule mit Hort am Wochenende, während der schulfreien Nachmittage und Ferienbetreuung. «Aber eine Betreuung über Nacht können sie auch im Sonnenhof nicht sicherstellen», bedauert Tobias Ammann, «und die Warteliste ist so lang, dass kaum eine Chance besteht, dort reinzukommen.»

