Die Integration eines Most-Inders
21.03.2025 Bezirk Sissach, Region, Baselbiet, Kultur, Sissach«Das ist Sissach» (12. Teil) | Wie sich ein Ostschweizer hier zurechtfindet
Sein Dialekt entlarvt den Schriftsteller und «Volksstimme»- Kolumnisten Hanspeter Gsell aus Sissach sehr schnell als Fremden aus der Ostschweiz. Doch der Zugewanderte ...
«Das ist Sissach» (12. Teil) | Wie sich ein Ostschweizer hier zurechtfindet
Sein Dialekt entlarvt den Schriftsteller und «Volksstimme»- Kolumnisten Hanspeter Gsell aus Sissach sehr schnell als Fremden aus der Ostschweiz. Doch der Zugewanderte findet sich im Oberbaselbiet erstaunlich gut zurecht, ein Muster gelungener Integration.
Hanspeter Gsell
Der Titel dieses Beitrags ist nicht ganz korrekt, ich bin Weinfelder und somit Thurgauer. Auch wenn der Begriff «Most-Indien» bedeuten könnte, ich käme aus Indien: Dem ist nicht so. Mit «Most-Indien» wird in der Schweiz der ganze Kanton Thurgau bezeichnet. Im Kanton selbst ist damit nur der Bezirk Arbon gemeint. Ob der Begriff auf die Form des Thurgaus, die dem indischen Subkontinent gleicht, anspielt, ist fraglich.
Sollten Sie Militärhistoriker sein, werden Sie es natürlich bereits wissen: 1857 wurde das «Mostbataillon» gegründet. Das Staatsarchiv des Kantons Thurgau weiss noch mehr zu berichten: Aus dem im Oberthurgau rekrutierten Infanteriebataillon 7, dem genannten «Mostbataillon», wurde später das Füsilierbataillon 75. Als sich der Kaiser von Hinter-Indien dem aus dem Thurgau stammenden Schweizer Bundespräsidenten Adolf Deucher vorstellte, soll Deucher erklärt haben: «Sie kommen aus Hinter-Indien, ich aus Most-Indien.»
Vor bald 50 Jahren sind wir nach Sissach gezügelt. Wir waren erst seit Kurzem verheiratet, Sissach sollte unsere neue Heimat werden. Weshalb aber sollte gerade dieses Dorf im oberen Baselbiet unser Zuhause werden? Die Lösung ist einfach. Mein Vorgänger – ich arbeitete zu dieser Zeit in Basel – wohnte in Sissach. Ich hatte nicht nur seinen Job «geerbt», sondern gleich auch noch seine Wohnung.
Zusammen mit meiner Frau und zwei Kindern bestiegen wir 1979 den Zügelwagen und fuhren Richtung Nordwestschweiz. Sicher haben auch Sie schon gezügelt, einige von Ihnen vielleicht sogar mehrmals. Ich werde deshalb die Details weglassen. Die folgenden Erklärungen sind nur für Sesshafte gedacht: «Kasten raus aus der Stube, rein in den Zügelwagen. Fahren. Kasten ausladen, rein in die gute neue Stube. Kasten passt nicht in das neue Zimmer, wieder raus, umdrehen, absägen, wieder rein.»
Völlig erschöpft fielen wir spät am Abend in die neuen alten Betten. Wir erwachten früh und wollten uns die neue Heimat anschauen. Von der Margarethenstrasse hinter den sieben Gleisen war es nicht weit bis zum Bahnhof. Doch wir kamen nicht weit. Beim Bahnhof krachte es gewaltig. Sie haben es erraten: Es herrschte Fasnacht. Es war sehr laut, der jüngere Sohn hielt sich verzweifelt die Ohren zu. Verwundert schauten wir dem wilden Treiben zu. Jemand bewarf uns mit Orangen, ein anderer leerte einen ganzen Sack voller Konfetti über mich. Habe ich etwas falsch gemacht? Keine Ahnung.
Von der Rübe zur Räbe
Im Thurgau, in «Most-Indien», waren Fasnachts-Bräuche in jenen Zeiten unbekannt. Man kannte bestenfalls die «Groppenfasnacht» in Ermatingen, den «Bechtelistag» in Frauenfeld und die Weinfelder «Bochselnacht». Wir Weinfelder Schüler mussten Zuckerrüben ernten und aushöhlen und durften lustige Motive in diese «Runggeln» schnitzen. Abends wurden die Strassenlampen gelöscht und die kleinen Kerzen in den Räben angezündet.
Der Weg des Räbenliechtli-Umzugs führte uns durch dunkles Gehölz, die Kirchgasse auf der einen Seite hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Schön war es, zum Schluss gabs es einen Salziss, eine heisse Wurst von der Hirschenmetzg. Noch schöner war, dass wir bereits als 14-jährige Halbwüchsige rauchen durften. Wir fühlten uns wahnsinnig erwachsen. Das Sackgeld reichte zwar nicht für eine Mary Long, wir zündeten «Nielen», getrocknete Waldreben, an.
Das Gefecht zu Sissach
Rums. Es war Abend, rums. Der Boden unserer Wohnung vibrierte, im Badezimmer fielen die Zahnbürsten aus dem Glas, Gläser in der Küche fielen zu Boden. Rums. Waren wir etwa auf einen Truppenübungsplatz gezügelt?
Ich kontrollierte das Telefonbuch, so etwas gab es tatsächlich noch in jenen Tagen, fand aber weder Generäle noch Kasernen. Wir waren doch in ein friedliches und ruhiges Dorf gezügelt. Das Gefecht schien näherzukommen. Ich überlegte mir, meine Familie in den Untergrund zu schicken, als ich erkannte, dass die neue Wohnung kellerlos war. Hinter dem Haus lag ein grosser Kieshaufen. Ob ich daraus kurzfristig einen provisorischen Artillerie-Unterstand bauen konnte? Als es wieder rumste, wusste ich, dass es dafür zu spät war.
Ich rief auf dem Polizeiposten an und wollte das Gefecht von Sissach melden.
«Ein Gefecht?»
«Ja, ein Gefecht.»
«In Sissach?»
«Ja.»
«Zuerst brauche ich Ihren Namen und Adresse und eine kurze Beschreibung des Vorfalles. Dann bräuchte ich noch Ihre AHV-Nummer und die Gewehrnummer.»
«Es handelt sich nicht um einen Vorfall, sondern um ein bedrohliches Gefecht ganz in der Nähe unserer Wohnung. Und meine Gewehr-Nummer kenne ich auch nicht.»
«Jajajaja», meinte der Polizeioberwachtmeister und murmelte so etwas wie «das ist sicher wieder der Bomben-Gysin.»
«Sie wissen also, wer den Radau veranstaltet? Warum verhaften Sie diesen wild gewordenen Bombenleger nicht sofort? Die Kinder sind schon völlig verstört, ich habe möglicherweise bereits einen Dachschaden erlitten.»
Der Polizeioberwachtmeister klärte mich auf: «Das Böllern geht auf eine lange Tradition zurück. Für die Braut ist es die letzte Nacht als Unverheiratete. Der Lärm soll einerseits böse Geister vertreiben und andererseits den neuen Lebensabschnitt willkommen heissen.» Ich war nur teilweise beruhigt. Es waren also weder die wilden Kerle aus Läufelfingen noch die bösen Buben aus Basel, die unsere neue Heimat überfallen haben. Trotzdem … Der Polizeioberwachtmeister unterbrach meine Gedankengänge.
«Die Lärmbelästigung, wenn es denn überhaupt eine ist, wird schon von allein wieder aufhören. Wollen Sie eine Anzeige erstatten?»
Nein, natürlich nicht. Ich will mich doch nicht auch noch lächerlich machen.
Unter die Räder
Wie erwähnt, arbeitete ich mein ganzes Leben in Basel. Meiner Frau oblag es deshalb, die Kinder zu erziehen, einzukaufen und ein soziales Umfeld für die ganze Familie zu schaffen.
Noch verlief eine wichtige Verbindungsstrasse mitten durch Sissach, man musste beim Einkaufen ganz schön aufpassen, dass man nicht unter die Räder kam. Auf der grossen Kreuzung zwischen «Sonne» und «Löwen» stand während den Stosszeiten ein Polizist und leitete unter lebensgefährlichen Bedingungen den Verkehr. Ein wunderbares Schauspiel! Es liess sich perfekt bei einer Portion Kalbskopf von der Terrasse der «Sonne» beobachten.
An heissen Tagen liess es sich in der Badi gut abkühlen. An schönen Sommerabenden wurde dort manchmal gegrillt, man trank dazu ein «Halbeli» und lauschte dem Trio Abt. Wenn es besonders heiss war, liess es der erwähnte Bombenbauer gewaltig krachen. Wenn er sein Abschussrohr beim Bach aufstellte und die Böller gen Himmel schoss, sollen in Basel die Hochhäuser gewackelt haben. Leider sind diese Bräuche heute allesamt verboten.
Ich wurde in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt, ob ich denn auch ein Langfinger sei. Ein für alle Mal: nein. Die Herkunft des Begriffs Langfinger für Thurgauer ist unklar. Ein lächerlicher Erklärungsversuch will uns weismachen, dass er von den thurgauischen Reisläufern herstamme, die gerne geplündert hätten.
Die folgende Version ist überzeugender: Die eidgenössischen Landvögte im Thurgau, die ihr Amt kaufen mussten, wurden auch Thurgauer oder Langfinger genannt. Die Ärmsten mussten natürlich ihre Vorinvestitionen amortisieren. Man zog deshalb den Thurgauern das Geld aus der Tasche. Es gab zu keiner Zeit Sissacher oder Baselbieter Vögte im Thurgau. Die Landvögte stammten vorwiegend aus dem Kanton Zürich und aus der Innerschweiz. Sie sind also die Langfinger.
Die nächsten Jubiläumsanlässe
Laufend: Vergangenheit und Gegenwart im Dialog. Alte Gemälde und Zeichnungen mit aktuellen Fotografien derselben Motive des Theaterfotografen Ernst Rudin. Die Ausstellung kann zu den Schalteröffnungszeiten im Gemeindehaus besichtigt werden.
23. März: «Kammermusik für Sissach». Mit Zerafarez (Gitarre: Farah Erfani, Flöte: Deborah Regez) im Bistro Cheesmeyer, 11 Uhr.
28. März: Vortrag «Die Seidenstrasse und ihre fehlenden Teile im Humboldt Forum», ChinaHouse, 18.30 Uhr.
6. April: «Kammermusik für Sissach». Mit Andrina Roediger, Harfe und Deborah Regez, Flöte. Mit umrahmender Kunstausstellung. Reformierte Kirche Sissach, 17 Uhr.