AUSGEFRAGT | PHILIPP LORETZ, PRÄSIDENT LEHRERINNEN- UND LEHRERVEREIN BL
17.01.2025 Baselbiet, Baselbiet, Bildung«Wissen wird oberflächlich vermittelt»
Baselbieter Lehrpersonen kämpfen mit hoher Belastung durch Bürokratie, integrative Förderung und Lehrermangel, wie aus einer kürzlich veröffentlichten Zufriedenheitsstudie hervorgeht. Der ...
«Wissen wird oberflächlich vermittelt»
Baselbieter Lehrpersonen kämpfen mit hoher Belastung durch Bürokratie, integrative Förderung und Lehrermangel, wie aus einer kürzlich veröffentlichten Zufriedenheitsstudie hervorgeht. Der Präsident des Lehrervereins Baselland, Philipp Loretz, sieht viel Verbesserungsbedarf.
Melanie Frei
Herr Loretz, die Baselbieter Lehrpersonen sind laut einer aktuellen Zufriedenheitsstudie nur mässig zufrieden. Was sind die Gründe dafür?
Philipp Loretz: Die Studie bestätigt die Problemfelder Bürokratie und Integration. Das Ansehen des Lehrberufs in der Öffentlichkeit wird von uns als ungenügend eingeschätzt. Durch die hohe Reformkadenz der letzten 20 Jahre – Frühfremdsprachen, Lehrplan 21, Digitalisierung und so weiter – sah sich die Volksschule mit immer neuen und zusätzlichen Aufgaben konfrontiert.
Sie erwähnen den Lehrplan 21. Inwiefern ist dieser problematisch?
Der Lehrplan 21 hat zu einer Überfrachtung geführt, insbesondere auf der Primarstufe. Die inhaltliche Sintflut ist weder für Primarschulkinder noch für Lehrpersonen zu bewältigen. Es bleibt zu wenig Zeit, um Unterrichtsinhalte wirklich zu üben und zu vertiefen. Statt Wissen nachhaltig zu vermitteln, bleibt vieles an der Oberfläche, was die Bildungsqualität stark beeinträchtigt.
Welche Aufgaben muss aus Ihrer Sicht die Bildungsdirektorin Monica Gschwind bewältigen?
Unsere Forderungen richten sich nicht nur an Bildungsdirektorin Monica Gschwind, sondern an alle politisch Verantwortlichen. Auch die Pädagogische Hochschule der FHNW steht in der Pflicht. Der Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland (LVB) fordert unter anderem, dass Dozierende für Fachdidaktik über eine mehrjährige, erfolgreiche Unterrichtstätigkeit verfügen müssen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Der LVB schätzt die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Monica Gschwind und freut sich über die erreichten Meilensteine: Mit der Einführung der geleiteten Lehrmittelfreiheit wurde die pädagogische Verantwortung der Lehrpersonen gestärkt. Mit dem konsensual entwickelten Massnahmenpaket Zukunft Volksschule werden die Kernfächer Deutsch und Mathematik sowie Medien und Informatik gestärkt.
Die schulische Integration ist ein Dauerthema, was auch in der Zufriedenheitsstudie deutlich wird.
Die Integrative Schule ist sinnvoll, hat aber ihre Grenzen. Kinder mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten oder ausgeprägten kognitiven Beeinträchtigungen benötigen spezielle Unterstützung, die in den Regelklassen oft nicht gewährleistet werden kann. Erfolglose Integrationen müssen deshalb im Interesse aller Beteiligten rechtzeitig abgebrochen werden. Kleinklassen, in denen Kinder mit höherschwelligen Bedürfnissen fachkundig gefördert werden, haben sich bewährt und müssen erhalten bleiben.
Viele Herausforderungen hängen mit der Teilautonomie der Schulen zusammen.
In der Tat. Seit der Einführung der Teilautonomie sind über 100 Schulen permanent mit unzähligen Schulentwicklungsprojekten beschäftigt. Das Bürokratiewachstum belastet die Lehrpersonen und schwächt das Kerngeschäft, den Unterricht.
Hängt das auch mit dem Lehrpersonenmangel zusammen?
Ja, absolut. Überbordende Bürokratie senkt die Berufszufriedenheit, fördert den Berufswechsel und Pensenreduktionen und zieht nicht die richtigen Leute in den Beruf. Schulen, die verantwortungsvoll mit ihren personellen Ressourcen umgehen, sind besser gegen den Lehrpersonenmangel gewappnet.
Welche Rolle spielen Entlastungsmassnahmen wie die Entlastungslektion für Klassenlehrpersonen an Primarschulen?
Diese Massnahme ist essenziell. Klassenlehrpersonen sind Drehund Angelpunkt der Schule. Sie sind zentrale Ansprechperson für Schüler und Schülerinnen, Eltern und externe Fachstellen, koordinieren interne Abläufe, organisieren Schullager und vieles mehr. Hinzu kommen komplexe Herausforderungen wie die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern, anspruchsvolle Elternarbeit und neue Phänomene wie Schulabsentismus. Diese Anforderungen sind auf die Dauer nicht zu stemmen. Es braucht eine Kurskorrektur. Die Schule ist zwar der Spiegel der Gesellschaft, aber nicht ihre Reparaturwerkstatt.
Die Zufriedenheitsstudie hat gezeigt, dass die Lehrpersonen unter ihrer öffentlichen Wahrnehmung leiden.
In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ist ein Verlust an Höflichkeit und gegenseitigem Respekt zu beobachten. Auch Teile der Elternschaft treten aggressiver auf. Die mediale Krisenbewirtschaftung umtriebiger Bildungsmanager von Privatstiftungen und der Spitze des Schulleiterverbandes Schweiz lenkt von den wirklichen Herausforderungen ab und schadet dem Ansehen der Volksschule.
Wie reagiert der LVB auf diese Kritik?
Der LVB ist auf kantonaler und nationaler Ebene politisch bestens vernetzt. In den kantonalen Gremien leisten wir täglich Überzeugungsarbeit. Unsere Fachartikel erfreuen sich einer grossen Leserschaft, auch über die Landesgrenzen hinaus.
Trotz aller Herausforderungen – gibt es auch Lichtblicke?
Ja. Für sein Engagement zugunsten seiner Mitglieder erhält der LVB die Note 5,0 – ein Spitzenwert im interkantonalen Vergleich. Auch die kollegiale Zusammenarbeit und Unterstützung erzielt gute Werte. Erfreulich und bemerkenswert zugleich: Das Item «Der Beruf macht mir Freude» liegt (noch) im grünen Bereich.
Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Zufriedenheitsstudie
mef. Die Baselbieter Lehrpersonen bewerteten ihre berufliche Zufriedenheit mit einer Note von 4,2 auf einer Skala von 1 bis 6, was einem «Genügend» entspricht. Besonders positiv gewertet wurden die Teilzeitmodelle (5,4), also die Möglichkeit, ihre Pensen flexibel anzupassen, die gute Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen (4,7) sowie die Lehrer-Schüler-Beziehung und die Unterstützung durch die Schulleitungen (jeweils 4,6).
Als Belastung empfunden wurden die Bürokratie, die administrativen Aufgaben sowie die integrative Förderung (jeweils 3,7). Auch die beruflichen Perspektiven, also Aspekte wie Karrierechancen, Fortbildungsmöglichkeiten oder Anerkennung im Beruf, erhielten nur eine 3,9.
Das Engagement der Lehrerverbände wurde hingegen mit 5,0 positiv hervorgehoben. Dennoch verstärken der Lehrermangel und der überladene Lehrplan die Herausforderungen für die Lehrpersonen.
Die Zufriedenheitsstudie ist auf der Website lvb.ch in der Dezemberausgabe des lvbinform einzusehen.