«Zweitverdienende werden benachteiligt»
03.01.2023 Bezirk Sissach, Finanzen, SissachDie einst jüngste Jus-Professorin der Schweiz, Andrea Opel, kämpft gegen die Heiratsstrafe
Die in Sissach wohnhafte Andrea Opel ist Professorin für Steuerrecht an der Universität Luzern. Sie befasst sich mit Themen wie die Abschaffung der Heiratsstrafe durch einen Systemwechsel bei der ...
Die einst jüngste Jus-Professorin der Schweiz, Andrea Opel, kämpft gegen die Heiratsstrafe
Die in Sissach wohnhafte Andrea Opel ist Professorin für Steuerrecht an der Universität Luzern. Sie befasst sich mit Themen wie die Abschaffung der Heiratsstrafe durch einen Systemwechsel bei der Ehegattenbesteuerung und mit weiteren gesellschaftlich und politisch relevanten Auswirkungen des Steuerrechts.
Andreas Bitterlin
Frau Opel, was fasziniert Sie am Thema Steuern?
Andrea Opel: Es ist eine herausfordernde Materie, das Steuerrecht ist relativ komplex. Viele haben gewisse Berührungsängste, auch ich hatte sie im Studium. Aber ich suchte die Herausforderung und realisierte, dass das Thema sehr spannend ist. Ich erkenne primär politisch aktuelle Thematiken, welche eng verknüpft sind mit der Gesellschaftspolitik, die wir mit dem Steuersystem mitgestalten können.
Für Sie stehen also gesellschaftspolitische Fragen im Vordergrund und nicht Zahlen?
Zahlen sind nicht der wesentliche Gegenstand des Steuerrechts. Ich rechne sehr selten, sondern befasse mich mit der Ausgestaltung des Steuerrechts und dessen Auswirkungen. Es handelt sich um verfassungsrechtliche Fragen, um Fragen der Gerechtigkeit, und betrifft alle Menschen, die Steuern bezahlen. Wir wollen ein gerechtes Steuersystem. Das sind die Fragen, die mich beschäftigen.
Ist das Rechnen die Domäne Ihres Partners, der als Steuerberater tätig ist?
Ja, das ist eher seine Leidenschaft. In der Beratung befasst man sich mit der konkreten Anwendung des aktuell geltenden Steuerrechts, das Rechnen ist jedoch auch hier nur ein Teil davon.
Sind Sie als Frau in der von Männern dominierten Wissenschaftswelt rund um das Thema Steuern eine exotisch wahrgenommene Fachperson?
Das Fach ist sehr männerdominiert, wobei die Berufsfelder unterschiedlich geprägt sind. Im akademischen Bereich sind die Männer deutlich in der Überzahl. Bei den jungen Menschen, bei den Berufsleuten in der Steuerberatung sind inzwischen sehr viele Frauen tätig. Ich unterrichte auch mehr Studentinnen als Studenten. Gegen oben verschwindet diese Veränderung: bei den Doktoranden sind die Männer in Überzahl. Und noch höher in der akademischen Laufbahn nimmt diese Männerdominanz zu.
Sie setzen sich ein für einen Wechsel von der gemeinsamen Besteuerung von Ehepaaren hin zur Individualbesteuerung. Ein Systemwechsel hat auch eine gesellschaftspolitische Komponente. Welche?
Die gemeinsame Veranlagung der Ehepaare hat zwei Effekte. Der eine ist die Heiratsstrafe, weil die Einkommen und Vermögen summiert werden, was eine höhere Steuerprogression für verheiratete Paare zur Folge hat, als sie es zwei Einzelbesteuerungen hätten. Das wird aber teilweise durch gewisse Entlastungsmassnahmen kompensiert.
Welchen zweiten Effekt stellen Sie fest?
Der zweite Effekt ist die steuerliche Benachteiligung von Zweitverdienenden. Es geht um folgende Ausgangslage: Der eine Ehepartner verdient mehr als der andere. Die weniger Verdienenden sind meistens die Frauen. Deren Steuerbelastung beginnt beim jetzigen System auf dem Niveau des hauptverdienenden Ehemanns. Diese Frauen werden also durch den Verdienst des Mannes in eine höhere Steuerprogression katapultiert. Als Individualbesteuerte würde ihre Progression deutlich tiefer beginnen. Dieser Effekt ist sehr problematisch, weil er Frauen davon abhält, berufstätig zu sein oder ein grösseres Arbeitspensum zu wählen. Der Zweitverdienst lohnt sich beim geltenden System angesichts der höheren Steuern oftmals nicht.
Ist es Ihr Ziel, Frauen zu mehr Arbeit zu verhelfen?
Überhaupt nicht. Ob eine verheiratete Frau arbeitet oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung. Es ist aber falsch, wenn Frauen, die gerne berufstätig wären oder grössere Pensen wählen möchten, wegen des Steuersystems darauf verzichten. In dieser Form sollte das Steuersystem keinerlei Einfluss haben. Richtig wäre eine zivilstandsunabhängige Regelung.
Wie beurteilen Sie das schweizerische System der Ehegattenbesteuerung im Vergleich mit den Regelungen in unseren Nachbarländern?
Nur in wenigen EU-Staaten werden Ehegatten noch gemeinsam veranlagt. Die Schweiz hat einen Exotenstatus. Die meisten europäischen Staaten kennen die Individualbesteuerung, und in einzelnen Ländern existiert ein Wahlrecht zwischen gemeinsamer Veranlagung und Individualbesteuerung. Dieser Ansatz könnte auch eine Kompromisslösung in der Schweiz sein.
Gibt es Konstellationen, bei denen die gemeinsame Veranlagung Vorteile bietet?
Wenn der Mann Alleinverdiener ist, profitiert das Ehepaar vom Ehegattentarif und spezifischen Abzugsmöglichkeiten und fährt so besser als mit einer Individualbesteuerung. Unser Steuerrecht bevorzugt das klassische traditionelle Rollenmodell, wenn nur einer arbeitet. Das ist nicht mehr zeitgemäss. Denn heute sind 80 Prozent der Mütter mit Kindern berufstätig, meistens in einem Teilzeitpensum.
Die Einführung der Individualbesteuerung würde voraussichtlich zu Mindereinnahmen des Staates führen. Rechnen Sie als Konsequenz mit einer Reduktion der staatlichen Leistungen?
Der Bund rechnet mit bis zu einer Milliarde Franken Steuerausfälle. Am Schluss hängt dies aber von der Ausgestaltung der Individualbesteuerung ab. Es muss auch berücksichtigt werden, dass durch die Einführung der Individualbesteuerung mehr Frauen arbeiten oder höhere Arbeitspensen wählen werden, was wiederum höhere Steuereinnahmen generieren wird. Momentan geht es darum, ein System zu finden, das auf lange Sicht sinnvoll ist.
Wird im politischen Diskurs das traditionelle Familienmodell mit dem Mann als Hauptverdiener thematisiert?
Es gibt Bestrebungen, mit dem bestehenden System die traditionelle Familie zu bewahren. Dieses Rollenverständnis ist legitim, aber für diese gesellschaftspolitische Ausrichtung ist nicht das Steuerrecht zuständig. Ausserdem: Die Einführung der Individualbesteuerung würde meines Erachtens gerade die Ehe fördern. Wenn die gemeinsame Veranlagung abgeschafft wird, werden mehr Paare heiraten, nämlich auch all jene, die jetzt aus Steuergründen auf den Ehestand verzichten.
Eine aktuelle Steuerthematik ist die von der OECD initiierte Mindeststeuer für internationale Konzerne mit mehr als 750 Millionen Franken Umsatz. Die Mindeststeuer beträgt 15 Prozent. Die Schweiz setzt diese OECD-Regelung nun um. Passt diese flächendeckende Regelung zu unserer föderalistischen Steuersystematik mit grossen Unterschieden zwischen den Kantonen?
Nein, das passt nicht in die Schweizer Steuersystematik. Wir sind faktisch aber gezwungen, die Mindeststeuer zu übernehmen. Tun wir es nicht, überlassen wir Steuersubstrat, welches in der Schweiz erwirtschaftet wird, dem Ausland. Das wäre irrational.
Es geht um erwartete Mehreinnahmen für den Staat von 1 bis 2,5 Milliarden Franken pro Jahr. Von diesen zusätzlichen Mitteln werden besonders diejenigen Kantone profitieren, die Sitze von vielen finanzpotenten Konzernen sind. Wird sich dadurch die Schere zwischen ärmeren und reichen Kantonen weiter öffnen?
Wem allfällige Mehreinnahmen zukommen sollen, ist noch Gegenstand von politischen Diskussionen. Der geltende Finanzausgleich zwischen den Kantonen hat eine kompensatorische Wirkung, damit diese Schere nicht allzu sehr auseinanderklafft.
Sie sind Professorin in Luzern, Konsulentin in Zürcher Anwaltskanzleien, Mitglied von Stiftungsräten und Fachgremien, zum Beispiel des Beratungsausschusses Advisory Board Center for Philanthropy Studies (Ceps) der Universität Basel. Welchen Zweck hat dieses Center for Philanthropy Studies?
Ich engagiere mich für gemeinnützige Organisationen, so auch im Ceps, welches die Professionalisierung von gemeinnützigen Organisationen fördert. Es sammelt relevante Daten und bietet für Stiftungsräte und Vereinsvorstände Weiterbildungen und Schulungen an.
Wie bringen Sie als zweifache Mutter alle diese Engagements unter einen Hut?
Auch mein Partner engagiert sich in der Kinderbetreuung, ausserdem geht unser siebenjähriger Sohn in eine wunderbare Kita hier in Sissach, die «Bärenbande». Dort ist er sehr gut aufgehoben. Das ist für uns eine sehr wichtige Unterstützung. Ohne sie könnte ich mich beruflich nicht so entfalten, wie ich es jetzt kann. Aber Stress ist trotzdem vorhanden. Ich erlebe abwechslungsweise sehr fordernde und etwas weniger anstrengende Phasen. Im Moment habe ich die Hoffnung, dass ich dieser Tage wenigstens eine Woche Ferien in den Bergen verbringen kann.
Sie haben zahlreiche Wirkungsorte. Welche Bedeutung hat der Wohnort für Sie?
Sissach ist mein Rückzugsort. Ich fühle mich wohl auf dem Land, in der Natur und unter den Menschen hier. Als ich in Zürich lebte, realisierte ich, dass das Oberbaselbiet seit jeher meine Heimat ist. Ich bin in Wenslingen geboren und kein Stadtmensch und ich möchte nicht weg von dieser Gegend hier.
Zur Person
abi. Andrea Opel ist Professorin für Steuerrecht an der Universität Luzern und daneben als Konsulentin in der Steuerberatung tätig. Sie wurde nach Studium und Doktorat an der Universität Basel mit 31 Jahren zur damals jüngsten Jus-Professorin in der Schweiz berufen. Andrea Opel forscht und arbeitet primär im nationalen Steuerrecht mit Fokus auf aktuelle, politisch relevante Themen. Sie ist ausserdem Chefredaktorin der Fachzeitschrift «Steuer Revue», Präsidentin der Trägerorganisation für die Steuerexpertenprüfung und Mitglied verschiedener Stiftungsräte und Fachgremien.
Andrea Opel ist 43 Jahre alt, Mutter von zwei Söhnen im Alter von 24 und 7 Jahren und lebt mit ihrer Familie in Sissach.