Auch Frauen sollen bis 65 arbeiten
02.09.2022 Abstimmungen, Baselbiet, Schweizsda. Das Problem ist seit längerer Zeit bekannt: Die Babyboomer-Generation geht in Rente, womit das Verhältnis zwischen Rentnern im Vergleich zu den Menschen, die noch am Arbeitsmarkt teilnehmen und somit in das Rentensystem einzahlen, zugunsten der Pensionierten steigt. ...
sda. Das Problem ist seit längerer Zeit bekannt: Die Babyboomer-Generation geht in Rente, womit das Verhältnis zwischen Rentnern im Vergleich zu den Menschen, die noch am Arbeitsmarkt teilnehmen und somit in das Rentensystem einzahlen, zugunsten der Pensionierten steigt. Ausserdem beziehen diese aufgrund ihrer Lebenserwartung zunehmend länger ihre Renten.
In den vergangenen Jahren sind sämtliche Bemühungen gescheitert, die AHV zu stabilisieren – die letzte Reform fand 1997 statt. Mit der damaligen zehnten AHV-Reform wurde das Frauenrentenalter von 62 auf 64 Jahre erhöht. Eine Atempause verschaffte der AHV die 2019 vom Volk angenommene Steuerreform und AHV-Finanzierung (Staf). Die AHV erhält seither jährlich über 2 Milliarden Franken zusätzlich. Schon damals war aber klar, dass diese Finanzspritze nicht ausreicht.
Die AHV-Reform (AHV 21) soll dafür sorgen, dass die Einnahmen der AHV deren Ausgaben weiterhin decken können. Das ordentliche Rentenalter soll für Frauen schrittweise von 64 auf 65 Jahre erhöht werden. Tritt die Reform Anfang 2024 in Kraft, werden Frauen mit Jahrgang 1964 als Erste mit 65 Jahren pensioniert. Das neue Referenzalter gilt auch für die berufliche Vorsorge. Die Vorlage bringt weiter eine flexible Pensionierung zwischen 63 und 70 Jahren. Bundesrat und Parlament wollen zudem mehr Anreize setzen, damit auch über 65-Jährige einer bezahlten Arbeit nachgehen.
Die AHV soll zudem mehr Geld erhalten. Der Normalsatz der Mehrwertsteuer soll zugunsten der AHV um 0,4 Prozentpunkte auf 8,1 Prozent angehoben werden, der reduzierte Satz und der Sondersatz für Beherbergungsleistungen je um 0,1 Prozentpunkte.
Das eine nicht ohne das andere
Die Änderungen im AHV-Gesetz ist geknüpft an die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die eine Teilvorlage kann ohne die andere nicht in Kraft treten. Für die Erhöhung der Mehrwertsteuer muss die Bundesverfassung geändert werden; entsprechend ist neben dem Volks- auch das Ständemehr nötig.
Sozialminister Alain Berset nennt die Vorlage im Namen des Bundesrats und einer Parlamentsmehrheit «einen Kompromiss aus Mehreinnahmen und Einsparungen». Die Reform sei nötig und dringend, damit sich die finanzielle Situation der AHV nicht verschlechtere. Ab dem Jahr 2029 würde sie ohne die Reform rote Zahlen schreiben.
Mit den Massnahmen bei der AHV und der Erhöhung der Mehrwertsteuer hat die AHV in den nächsten zehn Jahren rund 17,3 Milliarden Franken mehr zur Verfügung. Der Bund hat errechnet, dass dann noch eine Finanzierungslücke von rund 1,2 Milliarden Franken bleibt.
Der Nationalrat hiess die Änderungen im AHV-Gesetz mit 125 zu 67 Stimmen und die Mehrwertsteuererhöhung mit 126 zu 40 Stimmen gut. Der Ständerat sagte mit 31 zu 12 Stimmen respektive mit 43 zu 0 Stimmen Ja zur Doppelvorlage. SVP, Mitte, FDP, GLP und EVP unterstützen die Vorlage.
Referendum durch linkes Bündnis
Gegen die Reform der Alters- und Hinterlassenenversicherung hat ein linkes Bündnis aus SP, Grünen und Gewerkschaftsbund das Referendum ergriffen. Mit der Erhöhung des Rentenalters werde zulasten der Frauen gespart, argumentieren die Gegner. Es gehe um 7 Milliarden Franken in den nächsten zehn Jahren, die eingespart werden sollen. Das bedeute für die Frauen, die ohnehin schon rund ein Drittel tiefere Renten hätten als Männer, eine Rentenkürzung von durchschnittlich 26 000 Franken – jede Frau müsse auf eine Jahresrente von rund 22 000 Franken verzichten und werde in diesem Jahr weitere 4000 Franken in die AHV einzahlen.
Auch die Mehrwertsteuererhöhung sei abzulehnen, so die Referendumsführer. Das Timing dafür sei falsch und falle in eine Zeit, in der die Preise explodieren würden und ein Prämienschock angekündigt worden sei.
Tiefer Geschlechtergraben
Die AHV-Reform weist einen tiefen Geschlechtergraben auf. Dominant für die Meinungsbildung ist gemäss der neuesten Umfrage von Tamedia und «20 Minuten» die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre. Insgesamt sprechen sich für das höhere Rentenalter 52 Prozent der 15 718 Befragten aus. 63 Prozent der Frauen waren gegen das Gesetz. Die Männer stimmten hingegen mit 70 Prozent deutlich zu.
Bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV liegt die Zustimmung bei 54 Prozent. 43 Prozent der Befragten lehnen sie ab, 3 Prozent machten keine Angaben. Auch bei der Finanzierung sprechen sich lediglich 43 Prozent der Frauen gegenüber 65 Prozent der Männer für die Vorlage aus.
DARUM STIMME ICH JA
AHV vor Schiefl age bewahren
Daniela Schneeberger, Nationalrätin FDP, Thürnen
Die AHV ist in einer finanziellen Schieflage: Zwischen 2014 und 2019 gab unser wichtigstes Sozialwerk mehr Geld aus, als es einnahm. Nur dank der Steuerreform und AHV-Finanzierung (Staf) schreibt sie seit 2020 wieder schwarze Zahlen. Doch bereits ab 2025 drohen gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wieder rote Zahlen. Alleine bis ins Jahr 2030 rechnet das BSV mit einem kumulierten Umlagedefizit von 8,7 Milliarden Franken.
Dieses hohe Defizit ist kein Grund zur Sorge, denn dank guter Wertschöpfung können wir es uns leisten, nun die AHV-Reform zu machen, ohne dass jemand dabei verliert – und dies, obwohl die Menschen immer älter werden, was sehr erfreulich ist.
Mit einem doppelten Ja zur AHV 21 haben wir am 25. September die Möglichkeit, den Reformstau – die letzte AHV-Revision trat vor 25 Jahren in Kraft – zu überwinden und die AHV in den nächsten Jahren vor einer finanziellen Schieflage zu bewahren und sie nachhaltiger zu finanzieren.
Die AHV-21-Reform besteht aus zwei Vorlagen, die rechtlich miteinander verknüpft sind: Einerseits ist dies die Änderung des AHV-Gesetzes, welche die Erhöhung des Frauen-Rentenalters sowie die längst überfällige Flexibilisierung des Rentenbezugs zwischen 63 und 70 Jahren vorsieht und andererseits ist es die minimale Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte (Normalsatz) respektive um 0,1 Prozentpunkte (reduzierter Satz für Nahrungsmittel und Medikamente sowie der Sondersatz für Beherbergungen).
Da die Erhöhung des Frauen-Rentenalters die Lebensplanung von Frauen kurz vor der Pensionierung treffen kann, profitiert eine Übergangsgeneration von neun Jahrgängen von lebenslangen Ausgleichsmassnahmen: Der Grundzuschlag wird 160 Franken für tiefe (bis 57 360 Franken), 100 Franken für mittlere (bis 71 700 Franken) und 50 Franken für höhere Jahreseinkommen (über 71 701 Franken) betragen und abgestuft nach Jahrgang ausbezahlt werden. Wichtig zu wissen ist zudem: Der lebenslange Rentenzuschlag erfolgt ausserhalb des Rentensystems und unterliegt deshalb nicht der Plafonierung der Altersrenten von Ehepaaren. Es gibt also keine Verlierer, wie von den Gegnern der Vorlage fälschlicherweise behauptet wird.
Das Argument der Gegner, die Frauen erhalten eine tiefere Rente, ist irreführend: Zwar ist es in der Tat so, dass Frauen in der Summe weniger Rente erhalten als Männer. Dies ist jedoch auf die 2. Säule und die individuelle Erwerbsbiografie und nicht per se auf das Geschlecht zurückzuführen. Auch Männer, die in Teilzeitpensen gearbeitet haben oder keiner Erwerbstätigkeit nachgingen, erhalten weniger Geld aus der 2. Säule. In der AHV hingegen sind Frauen gegenüber Männern sogar bessergestellt: Während Frauen 34 Prozent aller AHV-pflichtigen Einkommen aufbringen, beziehen sie 55 Prozent aller AHV-Rentenleistungen.
Die AHV-21-Reform ist ausgewogen und ein sozialverträglicher Kompromiss. Wer auch in Zukunft eine sichere AHV will, legt am 25. September ein doppeltes Ja in die Urne.
DARUM STIMME ICH NEIN
Gegen eine Schwächung der AHV
Samira Marti, Nationalrätin SP, Binningen
Die AHV ist das wichtigste Sozialwerk unseres Landes. Sie soll gemäss Bundesverfassung nach der Pensionierung die Existenz sichern. Mit einer Durchschnittsrente von 1800 Franken ist das heute nicht der Fall. Viele Menschen leben deshalb im Alter in Armut. Besonders betroffen sind Frauen, weil sie während des Erwerbslebens oft in Teilzeitpensen gearbeitet haben. Die Frauenrenten sind deshalb mit knapp 2800 Franken im Schnitt rund ein Drittel tiefer als jene der Männer.
Mit 2800 Franken kann man kaum leben. Jede zehnte Frau muss deshalb im Alter Ergänzungsleistungen beantragen, obwohl sie das Leben lang gearbeitet hat. Immer noch wird der grösste Teil der Haus- und Sorgearbeit von Frauen erledigt. Sie schauen zu den Kindern, kümmern sich um den Haushalt, um pflegebedürftige Angehörige. Insgesamt hat diese unbezahlte Arbeit einen Wert von 200 Milliarden Franken pro Jahr.
Wir dürfen die Bedingungen für Frauen mit geringem Einkommen nicht noch weiter verschlechtern. Ich zweifle daran, dass die Situation der Frauen in der 2. Säule verbessert wird. Und nun soll ausgerechnet die Generation meiner Mutter die Sanierung der AHV bezahlen. Das ist ungerecht! Betroffen sind die Frauen, die typischerweise sowohl erwerbstätig sein mussten, als auch die gesamte Familienarbeit zu Hause erledigt haben, und dabei von keinerlei Massnahmen gegen die Lohnungleichheit oder für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf profitieren konnten. Apropos Lohnungleichheit: Den Frauen entgehen 7,7 Milliarden Franken Lohneinkommen wegen der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Würden die Frauenlöhne endlich ansteigen, wäre die AHV dank der Lohnabzüge bereits saniert. Stattdessen soll mit der AHV 21 jede Frau weitere 26 000 Franken verlieren. Ehepaare sind mit 24 000 Franken ebenfalls stark betroffen.
Oft wird argumentiert, dass zur Gleichstellung sowohl Rechte wie auch Pflichten gehören und es darum an der Zeit sei, dass Frauen und Männer gleich lang arbeiten. Nun ist es aber längstens nicht so, dass alle Menschen zur gleichen Zeit in Pension gehen. Wer es sich leisten kann, lässt sich heute schon frühpensionieren und geniesst das Leben. Im Bankensektor macht das jede zweite Person. Das ist kein Zufall. Denn je höher die Löhne, desto tiefer das Rentenalter (und desto höher die Lebenserwartung!). Menschen mit tiefen Einkommen müssen bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten, weil ihre Monatsrente sonst zu stark gekürzt würde. Das sind Arbeiten, die körperlich sehr anstrengend sind, wie die Pflege, die Reinigung oder im Detailhandel.
Schon heute ist es deshalb für die Detailhändlerinnen, die Raumpflegerinnen und Pflegefachfrauen ein Kraftakt, bis 64 zu arbeiten. Die Erschöpfung ist riesig. Ausgerechnet sie sind es, die von der Erhöhung des Rentenalters durch die AHV 21 betroffen wären. Sie könnten es sich aufgrund der schlechten Bezahlung nämlich auch in Zukunft nicht leisten, sich frühpensionieren zu lassen. Wer das so wie ich nicht in Ordnung findet, stimmt Nein. Das gibt den Weg frei für eine ausgewogenere und sozialere AHV-Revision.