Schöne Fotos und schnelle Autos
12.10.2021 Bezirk Liestal, Porträt, Bezirk Sissach, SissachDer Liestaler Fotograf Martin Spiess hat sich in einer Autoeinstellhalle eingerichtet
Martin Spiess hat schon Hunderte Frauen leicht geschürzt oder splitternackt fotografiert und könnte ohne Autos nicht leben. Ohne Parkplätze schon gar nicht. Nach dem Verkauf seines Fotolabors in Liestal ...
Der Liestaler Fotograf Martin Spiess hat sich in einer Autoeinstellhalle eingerichtet
Martin Spiess hat schon Hunderte Frauen leicht geschürzt oder splitternackt fotografiert und könnte ohne Autos nicht leben. Ohne Parkplätze schon gar nicht. Nach dem Verkauf seines Fotolabors in Liestal samt Liegenschaft hat Spiess in Sissach eine vorübergehende Bleibe gefunden.
Christian Horisberger
Kein Kindertheater, kein Konzert und keine Reise findet heute noch statt, ohne dass eifrig Bilder geknipst, herumgezeigt und versendet werden. Smartphones haben der Fotografie zu einem nie dagewesenen Höhenflug verholfen. Für Fotos auf Papier bedeutete die totale Digitalisierung den Niedergang.
Martin Spiess kann ein Liedlein davon singen. Der langjährige Inhaber eines Fotolabors hat in seinem Geschäft am Liestaler Fischmarkt millionenfach Ferienerinnerungen, Landschaften und Gesichter auf Fotopapier gebracht und davon während 35 Jahren gut gelebt. Zuletzt dümpelte das Geschäft vor sich hin, die Filmentwicklungsmaschine wurde schon seit einiger Zeit nicht mehr angeworfen.
Kürzlich hat Spiess die Gerätschaften in Liestal ausser Betrieb genommen und seine Geschäftsliegenschaft, in der sich neben dem Fotolabor und Studio Büroräume und Wohnungen befinden, verkauft. Der Handel wurde so flott abgewickelt, dass Spiess auf die Schnelle eine neue Bleibe suchen musste, bis er einen Standort gefunden hat, an dem er sich eine neue Existenz aufbauen will. In der Tiefgarage der ehemaligen Six Madun in Sissach ist der Fotograf fündig geworden.
Halbnackte Tatsachen
In der 15 mal 16 Meter grossen Einstellhalle befinden sich das Fotostudio, Monitore, Arbeitsflächen für den Zuschnitt von grossformatigen Bildern. An den Wänden hat der Fotograf einige Dutzend seiner Arbeiten aufgehängt: erotische Porträts von Frauen. Junge und alte, schlanke und üppigere Damen zeigen sich mehr oder weniger knapp bekleidet; einige in verführerischer Pose, andere mit aufreizendem Blick, manche können beides. Die Erotikfotografie ist eines der Standbeine des Fotografen, die Bilder sind Anschauungsmaterial für Kundinnen, die vor der Kamera die Hüllen fallen lassen wollen. Das ungenierte Präsentieren der sexy Fotos in den Geschäftsräumen ist ein Statement: «Hier gibt es nichts zu verstecken, hier passiert nichts Anrüchiges.» Die Bilder sind ausschliesslich von Frauen. Männer fotografiert Spiess nicht.
Kundinnen kämen zu ihm, um sich mit einem schönen Bild von sich selber zu bestätigen oder ihrem Partner ein Geschenk zu machen, sagt der Fotograf. Ihre Accessoires brächten die Frauen mit zum Shooting. «Ich will die Frauen nicht kostümieren, sodass sie sich selbst nicht wiedererkennen. Sie sollen tragen, worin ihnen wohl ist.» Während nunmehr 35 Jahren hat Spiess mehrere Hundert «ganz normale» Frauen im Alter von 18 bis 70 Jahren leicht geschürzt abgelichtet. Wobei es einen Ausreisser nach oben gibt: Sein ältestes Erotikmodell sei 89 Jahre alt gewesen, verkündet Spiess und präsentiert das Foto der alten Dame. Es zeigt kaum nackte Haut, aber eine selbstbewusst und fröhlich wirkende Frau in Spitzen-Unterwäsche.
Mit Sex oder Pornografie habe seine Arbeit gar nichts zu tun, stellt der Profi klar. Er sehe seine Aufgabe darin, mit den Bildern die Fantasie des Betrachters anzuregen, indem er seine Modelle lieber weniger als mehr zeigen lässt. Das Andeuten sei das Geheimnis der Erotikfotografie. Mit dieser Aussage decken sich die «Playboy»-Magazine nicht unbedingt, die auf dem Besprechungstisch liegen.
Handelt es sich um weiteres Anschauungsmaterial für besonders offenherzige Damen? Oder hat Spiess gar einmal fürs legendäre Herrenmagazin fotografiert? Er winkt ab. Tatsächlich habe er mit Jolanda Egger und Christina Bönzli zwei Playboy-«Häschen» abgelichtet, aber nicht nackt, sondern festlich gekleidet an deren Vermählung. Spiess war Hochzeitsfotograf, als Marc Surer die Playmates zum Altar führte. Zum Ex-Autorennfahrer später mehr.
Der grösste Teil des Inventars in der Tiefgarage hat mit Fotografie nichts zu tun. Den meisten Raum nehmen Autos und Elektromobile, Reparatur-Werkzeug und zwei Regale mit Dutzenden neuer Autoreifen ein. Was im ersten Moment befremdend wirkt, ergibt einen Sinn, wenn man die Biografie von Spiess kennt: Eine Lehre als Fotograf oder Fotolaborant hat er nie absolviert. Das hat er sich selber beigebracht. Hingegen absolvierte er einst bei der Garage Singeisen in Gelterkinden eine Lehre als Automechaniker. Die Begeisterung für Blech und Benzin und Rennwagen sollte ihn nie loslassen.
Audi-Legenden
So handelt es sich bei der kleinen Autoflotte in der Einstellhalle um die Fahrzeuge, die Spiess über die Jahre gekauft, gefahren und gehätschelt hat und nicht wieder hergeben konnte. Alles Audis, seit den 1970er-Jahren jeweils das herausragende Modell des Jahrzehnts. Den Audi 80 GTE, Jahrgang 1977, hat er als «Totalschaden» für 1000 Franken kaufen können und ihn mit viel Eigenleistungen wieder auf die Strasse gebracht. «110 PS bei 800 Kilogramm Gewicht. Das war damals das Beste vom Besten», schwärmt der Autonarr. Selbstredend steht der «Quattro» mit Fünfzylinder-Turbo, das Modell, mit dem Audi Rallye-Geschichte geschrieben hat, ebenfalls in der Garage. Erst zwei Jahre aus der Lehre und 22 Jahre alt war Spiess, als er für dieses Auto um die 50 000 Franken hinblätterte. Ein Vermögen. Verdient hatte er das Geld mit Fotoaufträgen für Vereinsanlässe und Hochzeiten und für die Umbauten an den Fahrschul-Autos seines Vaters, der alle drei Monate ein neues Fahrzeug anschaffte.
Naheliegend, dass sich der Sohn eines Fahrlehrers für die Lehre als Automechaniker entschied. Obwohl er schon als Teenager oft mit der Kamera unterwegs war und ihm seine Eltern eine eigene Dunkelkammer einrichteten. Als Hobby sei die Fotografie in Ordnung, nicht aber als Beruf, habe ihm sein Vater klargemacht, erzählt Spiess: Fotografen seien Künstler und Künstler seien Spinner, er solle «etwas Rechtes» lernen.
Wer mit Martin Spiess über Autos und Fotografie sprechen möchte, sollte sich dafür viel Zeit nehmen. Von beidem hat der 61-Jährige unendlich viel zu berichten. Er erzählt frisch von der Leber weg und hat jede Menge Anekdoten parat. Wie jene, als er in den frühen 1970er-Jahren als Halbwüchsiger aus einem antiquierten Töffhelm, Karton und einer Skibrille den Helm von Marc Surer nachbaute und damit auf dem Velo durch Ziefen und nach Reigoldswil in die Schule fuhr. Der spätere Formel-1-Rennfahrer lebte damals in Ziefen, mit dabei der Rennkart, mit dem er seine Motorsport-Karriere begann. Der junge Martin Spiess ging Marc Surer beim Aus- und Einladen des Rennkarts zur Hand und half ihm beim Schrauben. Seine Tante schenkte ihm ein T-Shirt mit der Aufschrift «Marc Surer Fan». Das ist er bis heute geblieben. Mehr als das: Die beiden verbindet eine enge Freundschaft.
10 x 15 Glanz anstatt 9 x 13 matt
Nach der Automechaniker-Lehre arbeitete sich Spiess zum Werkstattchef hoch, in der Freizeit war er oft mit dem Fotoapparat unterwegs. Die Filme und Fotos liess er auswärts entwickeln, was jeweils eine längere Wartezeit für seine Kundinnen und Kunden bedeutete. Sein Bruder arbeitete damals als Ingenieur beim Fotolabor-Hersteller Gretag in Regensdorf. Dadurch entstand die Idee, eine eigene Firma zu gründen und die Fotos selber zu entwickeln. Spiess eröffnete am 1. August 1986 im Liestaler Fischmarkt die Fotolabor Spiess AG. Es sei das erste kleine Fotolabor gewesen, das sich nicht in einem Tourismusort befand, merkt er an.
«Das Standard-Format war damals 9 x 13 matt, wir boten 10 x 15 und Glanz an, da wirken die Farben brillanter. Damit haben wir den Nerv der Kundschaft getroffen», blickt Spiess zurück. Das Geschäft lief gut an, doch war es im Lokal sehr eng. Fünf Jahre später kaufte er in unmittelbarer Nachbarschaft ein Abbruchhaus, baute es neu auf und stattete die Geschäftsräume mit einer Filmentwicklungsmaschine und drei Minilabs sowie einem Fotostudio aus.
Während seiner besten Zeiten beschäftigte die Fotolabor Spiess AG vier Angestellte und weitere sechs freie Mitarbeitende gingen für den Betrieb an Hochzeiten auf Fotoreportage. Als die Ditigalfotografie ab 2005 und später auch die Smartphones dem Hauptgeschäft immer mehr das Wasser abgruben, konzentrierte sich der Unternehmer stärker auf Geschäftskunden, für die er Sachaufnahmen und Reportagen von Firmenevents machte, und auf erotische Porträts.
Frauen fahren besser Formel 1
Seine andere Passion, das Auto, hatte er währenddessen nie ganz aufgegeben: Wer für sein Auto neue «Finken» oder ein «Navi» brauchte, bekam diese von Spiess. Das gilt bis heute. Aus seiner Begeisterung für den Rennsport entwickelte der Unternehmer einen weiteren Geschäftszweig: In einen fahrbereiten Formel-Renault-Rennwagen (Spitze: 300 km/h) baute er die Technik ein, um Computerspiele damit steuern zu können. Mit dem Formel-1-Simulator sorgt er an Gewerbeschauen oder Firmenanlässen für einen Blickfang und Wettkampf-Feeling. Was dem Fahrlehrer-Sohn aufgefallen ist: «Manche Frauen fahren besser als Männer, sie sind feinmotorisch geschickter, machen kleinere Lenkbewegungen.» Einige Männer würden es nicht sonderlich gut verkraften, von Frauen in die Tasche gesteckt zu werden.
Derlei könnte – oder sollte – Spiess nicht passieren: Er hat den Vorteil, den Rennwagen schon mehrfach auf der Rennstrecke bewegt zu haben – und im Tunnel der Liestaler Umfahrung. Jetzt kommt Spiess in Fahrt und er erzählt mit immer breiterem Grinsen: Die damalige Baudirektorin Sabine Pegoraro habe am Einweihungsfest des Millionen-Projekts im Jahr 2013 keine oder bestenfalls Elektro-Autos durch den Tunnel fahren lassen wollen. «Geht gar nicht», fand der Autofan. Er gewann die Verantwortlichen der Zeremonie für einen Autocorso mit 100 Fahrzeugen, die meisten davon Oldtimer, aber auch einige Nutzfahrzeuge und Supersportwagen. Er selber sass am Steuer seines weissen Rennautos. «Ich habe Frau Pegoraros Zeremonie damit um 180 Grad gedreht», freut sich Spiess spitzbübisch, «aber es war eine Riesen-Show, sogar die Linken und die Grünen haben auf den Stockzähnen gegrinst.»
Liestals Autovertreiber
Liestal und die Linken und Grünen, Liestal und die Autos, Liestal und die Parkplätze: Mit keinem lässt es sich trefflicher über die «Autovertreibungspolitik» streiten als mit dem langjährigen Vizepräsidenten von KMU Liestal. Für Spiess ist in Stein gemeisselt: Ohne Autos und kostengünstige, zentrumsnahe Parkplätze wandert die Kundschaft in die umliegenden Gemeinden ab, die alle Gratisparkplätze haben, zum Beispiel nach Sissach, und der Detailhandel im «Stedtli» leidet darunter. Punkt. Er habe nichts gegen Fussgänger und Velofahrer, versichert Spiess, ein jeder solle sich so fortbewegen können, wie es ihm beliebt. Umgekehrt würden diese aber den Autofahrern ihre Ideologie aufzwingen und «das Auto ausrotten» wollen. Von dieser Überzeugung lässt er sich keinen Millimeter abbringen.
In Liestal scheint Spiess den Kampf um die Parkplätze zu verlieren. Die Stadt will im Zentrum rigoros Parkplätze streichen, jene im «Bücheli-Center» kosten 2 Franken in der Stunde – für Spiess ist das viel zu teuer. Als weiterhin in Liestal amtierender Interessenvertreter des Detailhandels regt er sich von Amtes wegen darüber auf. Wegen seines eigenen Geschäfts braucht er sich jedoch darüber den Kopf nicht mehr zu zerbrechen: Der 61-Jährige möchte einen Gewerbe-Neubau erstellen, in dem er das Fotostudio einrichten und seine Fahrzeuge einstellen kann – an einem Ort ausserhalb von Liestal, wo es keine Diskussionen über Parkplätze gibt.