Der Kick aus der Rahmbläser-Kapsel
09.07.2021 Baselbiet, Gesundheit, Gesellschaft, SissachChristian Horisberger
Was für eine Sauerei. Der Picknickplatz auf Berg in Liestal, nahe der Grenze zu Seltisberg, gab am Sonntag ein himmeltrauriges Bild ab. Bei der Feuerstelle und den Sitzbänken war der Boden mit Müll übersät: halb leere Getränkedosen und ...
Christian Horisberger
Was für eine Sauerei. Der Picknickplatz auf Berg in Liestal, nahe der Grenze zu Seltisberg, gab am Sonntag ein himmeltrauriges Bild ab. Bei der Feuerstelle und den Sitzbänken war der Boden mit Müll übersät: halb leere Getränkedosen und -flaschen, Shot-Fläschchen, Drehverschlüsse und Kronkorken aus Blech, Verpackungen von Esswaren und Taschen aus Papier und Plastik. Ausserdem: Luftballons und Kisag-Rahmbläser-Kapseln; Dutzende davon. Es scheint, als habe hier am Vorabend eine rauschende Feier stattgefunden – Rausch inklusive.
Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die etwa 30 auf dem Boden verstreuten Kapseln dazu dienten, den Rahm für eine Geburtstagstorte zuzubereiten. Vielmehr dürften die Partygäste das in den Patronen enthaltene Lachgas über Luftballone inhaliert und sich so einen Kick verschafft haben. Das Einatmen des Gases sorgt für ein Kribbeln im ganzen Körper, Schwindel im Kopf, und es kann auch für einige Sekunden zu einer Ohnmacht kommen, ist in Online-Foren und -Erlebnisberichten nachzulesen. Die Wirkung lässt wenige Minuten nach dem Inhalieren nach.
«Marginales Phänomen»
Obwohl Lachgas auch in der Lebensmittelindustrie zur Anwendung kommt (siehe «Nachgefragt»), ist es keineswegs harmlos. Es verdrängt beim Einatmen den Sauerstoff im Körper, wodurch bei regelmässigem, starkem Konsum das Hirn geschädigt werden kann, wie Thomas Furrer vom Jugendsozialwerk (JSW) des Blauen Kreuzes Baselland ausführt. Das Risiko steige, wenn der Stoff zusammen mit Alkohol oder anderen Drogen konsumiert wird.
Lachgas taucht seit vielen Jahren wellenförmig als Partydroge auf. Berichte in französischen Medien über das jüngste Wiederaufkeimen des Rauschs aus der Gaspatrone haben den Westschweizer SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez zu einer Interpellation bewogen, zu welcher der Bundesrat im Februar dieses Jahres Stellung nahm: Es handle sich in der Schweiz um «ein marginales Phänomen». Gemäss Spitälern komme es nur selten zu gesundheitlichen Problemen. So habe beispielsweise die Notfallstation des Universitätsspitals Basel 2019 drei Fälle infolge Lachgasmissbrauchs registriert und 2020 keinen einzigen. Auch in der Suchtberatung spiele Lachgas eine untergeordnete Rolle und szenennahe Suchtinstitutionen stellten gemäss Bundesrat keinen erhöhten Konsum fest. Daher sehe der Bundesrat keine zusätzlichen Aktivitäten zur Prävention vor.
Exzessive Fälle von Lachgas-Konsum wie jener bei Seltisberg sind in der Region selten. Die Multikulturelle Suchtberatungsstelle beider Basel hat gemäss Rea Ammann, Bereichsleiterin Prävention, bis anhin keinerlei Erfahrung mit dem Thema. Dem Jugendarbeiter Thomas Furrer kommen kaum Fälle zu Ohren. Einmal im Jahr werde er damit allenfalls konfrontiert, meist dann, wenn sich besorgte Eltern ans Jugendsozialwerk wendeten. Dagegen sei es vor etwa zehn und wieder vor fünf Jahren jeweils zu Häufungen von Fällen gekommen. Gemäss Furrers Erfahrung sind es Jugendliche im Alter von 13 bis 16 Jahren, die den Kick mit dem problemlos erhältlichen Rauschmittel suchten. Auch für die Baselbieter Polizei ist Lachgaskonsum von Jugendlichen «seit Jahren ein bekanntes Thema», wie Marcel Wyss von der Polizei-Medienstelle auf Anfrage sagt. Die Zweckentfremdung der Rahmbläser-Kapseln sei jedoch «kein Riesenproblem».
Erwerb und Besitz nicht illegal
Die Polizei könne gegen das «Ballönle», wie das Inhalieren von Lachgas salopp genannt wird, wenig ausrichten, da der Erwerb und Besitz der Kartuschen nicht illegal sei. «Stellen wir jedoch eine grössere Anzahl Patronen bei Jugendlichen fest und besteht der Verdacht, dass diese zweckentfremdet werden, stellen wir diese im Sinne der Gefahrenabwehr sicher», so Wyss. Bei Unter- 15-Jährigen informiere die Polizei zudem die Erziehungsberechtigten.
Die Rahmbläser-Kartuschen sind im Handel frei erhältlich, sowohl online als auch im Laden. In manchen Supermärkten sind die mit einem Warnhinweis versehenen Verpackungen in den Verkaufsregalen leer; der Inhalt muss nach dem Bezahlen beim Kundendienst abgeholt werden. Die Massnahme geht auf eine Vereinbarung von Hersteller Kisag mit dem Handel zurück und sie dürfte auch dem Diebstahlschutz dienen.
Apropos Diebstahl: Eltern sind gut beraten, genauer hinzuschauen, wenn ihre Kinder für die Party im Wald die Rahmbläser-Kartuschen aus der Küchenschublade plündern.
Lachgas beim Zahnarzt
vs. Distickstoffmonoxid (N2O), im Volksmund Lachgas, kommt nicht nur in der Lebensmittelindustrie zum Einsatz, sondern wird unter anderem auch in der Zahnmedizin als sanfte Alternative zur Vollnarkose verwendet. Es hat eine schmerzstillende und beruhigende Wirkung, die wenige Minuten nach der Verabreichung nachlässt.
NACHGEFRAGT
«Es gilt, die Konsumenten zu schützen»
Bellach | Philipp Schwander, CEO von Kisag
Herr Schwander, ist der Kisag der Missbrauch ihrer Rahmbläser-Kapseln bekannt
Philipp Schwander: Ja, dass ein gewisser Missbrauch besteht, wissen wir. Die Thematik besteht seit vielen Jahren und ist international bekannt.
Stellten Sie eine Umsatzentwicklung fest, die Sie auf den Missbrauch zurückführen?
Nein. Aus den Umsatzzahlen liesse sich aber Gebrauch und Missbrauch auch nicht unterscheiden. Bei Direktverkaufsanfragen, die uns auffällig erscheinen, prüfen wir den Verwendungszweck soweit möglich nach und verkaufen nicht, wenn von einem Missbrauch ausgegangen werden muss. In den vergangenen 18 Monaten gab es dazu allerdings lediglich eine Auffälligkeit, die dann aber letzlich auch geklärt werden konnte. Einige Verkaufsstellen von Grossverteilern haben auch Massnahmen getroffen, einen allfälligen Missbrauch zu unterbinden. Dies alles geschieht überall auf freiwilliger Basis.
Seit wann befindet sich der Warnhinweis «Nicht inhalieren. Missbräuchliche Verwendung kann Ihre Gesundheit gefährden.» auf der Verpackung der Gaskapseln?
Seit vielen Jahren, seit wann genau kann ich nicht nachvollziehen. Dazu bestünde keine Verpflichtung, denn im Gebrauch ist die Anwendung und der Konsum von Distickstoffmonoxid absolut ungefährlich. Lediglich der offensichtliche und mutmassliche Missbrauch kann die Gesundheit gefährden. Es gilt in jedem Fall, den Konsumenten zu schützen, auch den, der einen Missbrauch des Produkts plant; deshalb der Hinweis auf der Verpackung.
Wurden Überlegungen angestellt, das Lachgas durch ein anderes Treibmittel zu ersetzen?
Mehr als nur Überlegungen: Es gibt dazu Untersuchungen und zahlreiche Tests. Wir sind dazu im Austausch mit anderen grossen europäischen Herstellern.
Gibt es keine adäquate Alternative zu Lachgas?
Für unsere bestimmten Zwecke in der Kulinarik leider nicht. Das Gas muss einen aufschäumenden Effekt haben und natürlich als Inhaltsstoff in Lebensmitteln geeignet und für die Gesundheit absolut unbedenklich sein. Diese beiden Kriterien erfüllt so weit lediglich Distickstoffmonoxid.