«Ihr Problem ist, dass dieser sprichwörtliche Esel schon lange davongaloppiert ist»
28.05.2021 Baselbiet, Verkehr, Bauprojekte, PolitikPratteln | Ist die Tramverlängerung nach Salina Raurica nötig oder unnütz?
Im Streitgespräch zwischen Befürworter Johannes Sutter, seines Zeichens Gemeindepräsident von Arboldswil, und Gegner Louis Kuhn, Mitglied des Referendumskomitees und der Gruppe «aapacke», ...
Pratteln | Ist die Tramverlängerung nach Salina Raurica nötig oder unnütz?
Im Streitgespräch zwischen Befürworter Johannes Sutter, seines Zeichens Gemeindepräsident von Arboldswil, und Gegner Louis Kuhn, Mitglied des Referendumskomitees und der Gruppe «aapacke», zeigt sich, dass es bei der Verlängerung der Tramlinie 14 um mehr als bloss um das ÖV-Projekt an sich geht.
Tobias Gfeller
Johannes Sutter und Louis Kuhn treffen sich an der aktuellen Endhaltestelle der Tramlinie 14 in Pratteln. Man kennt sich. Kuhn war einst Ombudsmann des Kantons Baselland, Sutter ist seit Jahren im Baselbiet politisch aktiv. Kuhn legt noch vor Ort los und zeigt Sutter anhand der scharfen Kurve, die das Tram bei einer Verlängerung der Linie bis Salina Raurica gleich nehmen müsste, dass dies erhebliche bauliche Eingriffe nötig machen würde und auch Enteignungen erforderlich wären. Das eigentliche Streitgespräch, das auch mal emotional wird, führen die zwei bei Louis Kuhn zu Hause, der unweit der Endhaltestelle in Pratteln wohnt.
Herr Kuhn, nervt es Sie nicht, wenn ein Johannes Sutter aus dem Oberbaselbiet meint, er könne Ihnen sagen, was Sie in Pratteln machen sollen?
Louis Kuhn: Nein. Wir haben Unterschriften gegen die Verlängerung des 14er-Trams aus allen 86 Gemeinden erhalten. Wir haben politisch wache Leute im Oberbaselbiet angetroffen. Man versteht nicht, dass man dort im Oberbaselbiet wenige Aren aufgrund des Raumplanungsgesetzes auszonen muss und man hier unten die riesige Retortenstadt Salina Raurica, davon allein auf 9 Hektaren Kantons- und Gemeindeland, mit einer neuen Kantonsstrasse für 70 Millionen Franken und einem Tram für 200 Millionen Franken bauen kann.
Johannes Sutter: Der Kanton wird, mithilfe des Bundes, die Tramlinienverlängerung bezahlen. Also soll auch der ganze Kanton darüber abstimmen dürfen. Hier geht es aber noch um etwas anderes: Wenn beim Landratsbeschluss über den Ausbau der Waldenburgerbahn jemand gefunden hätte, man müsste dagegen das Referendum ergreifen, dann hätte Herr Kuhn als Prattler genauso über die Waldenburgerbahn abgestimmt wie ich jetzt als Arboldswiler über die Tramverlängerung in Pratteln. Das hat nicht nur mit Geld zu tun, sondern ist auch eine Frage der Solidarität: Wenn wir im Oberbaselbiet für uns in Anspruch nehmen, dass für uns unrentable Buslinien betrieben werden, damit der Service public erhalten bleibt, dass wir für 350 Millionen Franken eine neue Waldenburgerbahn erhalten und dass das «Läufelfingerli» eine Bahn bleiben und keine Busverbindung werden soll, dann dürfen wir uns im Oberbaselbiet nicht zurückhalten, wenn es um ein Infrastrukturprojekt hier im mittleren Baselbiet geht, auch wenn viele von uns dieses Tram nie benützen werden. Aber alle Baselbieterinnen und Baselbieter haben etwas davon, wenn das wichtigste kantonale Entwicklungsgebiet Salina Raurica auch entwickelt wird, wenn neue Wohnungen und Arbeitsplätze entstehen und der Kanton insgesamt prosperiert.
Kuhn: Man kann auch mit uns in Pratteln solidarisch sein, da wir die Retortenstadt und die Tramlinienverlängerung als unnötig und nicht dringend erachten. Das Tramtrassee bleibt zudem rechtskräftig, wenn die Verlängerung am 13. Juni abgelehnt wird. Man kann sie auch später bauen. Wir wollen jetzt einen Marschhalt, eine Denkpause, und das Volk soll klären, ob es Sinn macht, 200 Millionen für den Tram-Endausbau auszugeben.
Herr Kuhn, die Gruppe «aapacke» will ja gar nicht, dass dort unten in Salina Raurica gebaut wird.
Kuhn: Es wird behauptet, dort unten wird sowieso gebaut. Das stimmt nicht. Bei der Umzonung des Gebiets durch den Prattler Einwohnerrat im Mai 2016 von einer Industrie- und Gewerbezone in eine Mischzone mit Wohnen und Gewerbe wurde der Bedarfsnachweis gemäss Artikel 15 des Raumplanungsgesetzes nicht erbracht. Ein elementarer Rechtsmangel. Wir haben in Pratteln bereits drei nicht voll belegte Hochhäuser und drei grosse Industrieareale für mehrere Tausend Wohnungen an bestens erschlossener Lage werden umgenutzt. Wir wollen eine Denkpause, damit die junge Generation, welche die Klimafrage ganz praktisch anpackt, ihre Chance erhält und nicht schon alles zubetoniert ist.
Sutter: Sie wollen eigentlich nicht, dass dort unten gewohnt und gearbeitet wird. Wenn Sie nun die Tramlinienverlängerung bekämpfen, schlagen Sie den Sack, meinen aber den Esel.
Kuhn: Sie meinen den Goldesel?
Sutter: Der Esel ist die ganze Entwicklungsplanung in Salina Raurica. Und Ihr Problem ist, dass dieser sprichwörtliche Esel schon lange davongaloppiert ist: Alleine seit 2007 gab es sechs Möglichkeiten, gegen Beschlüsse des Landrats, des Einwohnerrats Pratteln und der Gemeindeversammlung Augst das Referenden zu ergreifen. Keine wurde genutzt, ausser kürzlich gegen eine Überbauung in Augst. Da sagte das Stimmvolk aber klar Ja zum «Gmäini»-Entscheid. 2016, als der Einwohnerrat die Umnutzung beschlossen hat, haben Sie dies verpasst oder anders gesagt verschlafen. Die Planung für Salina Raurica ist rechtskräftig, und es ist wichtig, dass der Kanton Baselland nicht abgehängt wird bei der wirtschaftlichen Entwicklung.
Kuhn: Wir kommen spät, aber nicht zu spät. Über den besagten elementaren Rechtsmangel entscheidet das Kantonsgericht im Rahmen der Gemeindeinitiative «Salina Raurica bleibt grün» wohl im Herbst. Mit der Tramlinienverlängerung eilt es nicht. Wir gehen, wenn nötig, ans Bundesgericht. Zudem gibt es in der Rheinebene einen Landwirt, der sein Land sehr gerne weitere 10 oder 20 Jahre nutzen will.
«Aapacke» behauptet, die Tramverlängerung kostet weit mehr als die von der Regierung im Abstimmungsbüchlein kolportierten 170 Millionen Franken und hat deshalb eine Stimmrechtsbeschwerde eingereicht.
Kuhn: Der Regierungsrat schreibt von plus/minus 10 Prozent. Da kann man sicher davon ausgehen, dass es plus sein wird. Im Kommissionsbericht steht sogar plus/minus 20 Prozent. Es werden also mindestens 200 Millionen Franken sein.
Sutter: Mit Verlaub, Herr Kuhn, aber das Argument ist hanebüchen. Wir reden aktuell von den grob geschätzten Kosten. Bei der anstehenden Abstimmung geht es ja genau darum, für die Projektierung und den Landerwerb den Kredit zu sprechen. Über den definitiven Baukredit befindet dann noch einmal der Landrat; bis dann ist auch der Kostenvoranschlag genauer. Wenn der Landrat findet, das sei jetzt zu teuer, kann er den Kredit ablehnen oder es kann sogar ein Referendum dagegen geben.
Sprechen wir zum Schluss noch über den praktischen Nutzen der Tramlinienverlängerung. Wieso braucht es das Tram dorthin zum noch fast leeren Gebiet?
Sutter: Die Anbindung des Trams an den Prattler Bahnhof wird endlich vollzogen. Dazu wird das Einkaufsgebiet Grüssen besser erschlossen. Nicht jeder, der dorthin geht, fährt mit dem Auto und kauft sich ein Bett in der Ikea, sondern vielleicht auch nur ein Ladekabel im Media Markt. Das Tram sorgt in den Quartieren zwischen Bahnhof Pratteln und Augst für eine Feinerschliessung. Es ist immer auch eine psychologische Entscheidung, ob man ein Auto kauft oder auf den öV setzt. Wenn man nach Salina Raurica ziehen will und sieht, dass dort eine hervorragende ÖV-Erschliessung besteht, entscheidet man sich eher gegen das Auto. Verschieben wir die Tramlinienverlängerung um weitere zehn Jahre, ist Salina Raurica schon zu grossen Teilen bebaut, aber es ist dann kein Tram da. Mit der gleichen Folge wie sie in Allschwil heute sichtbar ist: Die Strassen sind überlastet.
Kuhn: Das Einkaufsgebiet Grüssen ist schon heute durch drei Buslinien und Salina Raurica mit zwei Buslinien und der SBB-Station, die im Abstimmungsbüchlein entgegen dem Kommissionsbericht irreführend nicht eingezeichnet ist, bestens erschlossen. 500 Meter zu Fuss bis zur SBB-Station sind zumutbar. Die Busse garantieren optimale Flexibilität. Die bereits bestehende, kaum befahrene Zurlindenbrücke reicht dafür aus. Es braucht keine neue, 280 Meter lange, vergoldete Mega-Tram-Brücke.
Warum 170 Millionen Franken ausgeben, wenn es Buslinien und die S-Bahn gibt?
Sutter: Das ist nicht eins zu eins vergleichbar. Busse schaffen nie die Kapazität einer Tramverbindung und sind stauanfällig. Im Oberbaselbiet sind auch immer mehr Busverspätungen zu beklagen, weil die Busse im Verkehr stecken bleiben. Das 14er-Tram soll dort ein unabhängiges Trassee haben, wo die Strassen stark belastet sind. Deshalb die neue Brücke über die Autobahn. Es geht um die grobe Erschliessung mit S- oder U-Bahn, die mittlere Erschliessung mit Trams und die Feinerschliessung mit Bussen.
Kuhn: Wie gesagt, wir sagen Nein zum Planungskredit für eine Tramlinienverlängerung für 200 Millionen Franken im Endausbau. Die Busse können, wenn je nötig, wie in Basel, bestens auch im 8-Minuten-Takt fahren.