Die nächste erdnussfreie Schule
24.11.2020 Bezirk Sissach, Gelterkinden, BildungPrimarschule will Allergiker normaleren Alltag ermöglichen
Weil der Kontakt mit Erdnussrückständen für einen Schüler lebensbedrohlich ist, gilt in der ganzen Primarschule von Gelterkinden ein Erdnussverbot. Die betroffenen Eltern sind froh, dass die Schulleitung mit grossem ...
Primarschule will Allergiker normaleren Alltag ermöglichen
Weil der Kontakt mit Erdnussrückständen für einen Schüler lebensbedrohlich ist, gilt in der ganzen Primarschule von Gelterkinden ein Erdnussverbot. Die betroffenen Eltern sind froh, dass die Schulleitung mit grossem Verständnis reagiert hat.
Jürg Gohl
Kommt er in Kontakt mit Rückständen von Erdnüssen, so kann dies für Raphael, wie wir den Gelterkinder Knaben hier nennen, schnell lebensbedrohlich werden. Raphael leidet an einer Nuss- und vor allem Erdnussallergie. Nüsse kann er – bloss – nicht essen. Anders bei den Erdnüssen, bei denen es sich eigentlich um Hülsenfrüchte und nicht um Nüsse handelt: Schon nur Rückstände von ihnen, etwa an einer Türklinke, können zur Lebensgefahr für Raphael werden.
Der Knabe würde einen sogenannten «anaphylaktischen Schock» erleiden und wäre darauf angewiesen, dass sein Umfeld schnell und richtig reagiert. Das heisst: Jemand muss ihm die Notfallspritze, die er stets mit sich trägt, verabreichen. Viele, gerade Erwachsene, würden oft dazu neigen, «die Situation zu bagatellisieren», sagt Raphaels Mutter. «Aber es geht dann wirklich um Leben und Tod.» Worte, die keine Mutter gerne ausspricht.
Trotz seiner Allergie und der zahlreichen Einschränkungen, die sie für ihn mit sich bringt, soll Raphael ein möglichst normales Leben gewährt werden. Deshalb besucht er in Gelterkinden die ordentliche Primarschule. Das Gesetz lässt auch nichts anderes zu. Allen Schülern soll nach Möglichkeit der Besuch der Regelschule ermöglicht werden. Doch damit mussten Raphaels Eltern erst gar nicht argumentieren. Ihr Anliegen machte die Schulleitung in Gelterkinden sofort zu ihrem eigenen. «Wir spürten sogleich Empathie und erhielten nie das Gefühl vermittelt, der Schule mit unserem Anliegen zur Last zu fallen», sagt die Mutter, «dafür sind wir der Schulleitung sehr dankbar.»
Ab sofort und für beide Schulen
An der Schule zog man die Konsequenzen: Das Schulareal gilt ab sofort als erdnussfrei. Im Gegensatz zur Primarschule Lausen: Sie hat im Sommer 2016 erst in der «Volksstimme» und danach sogar national für Schlagzeilen gesorgt, weil sie sich aufgrund zweier gefährdeter Kinder zur nuss- und erdnussfreien Schule erklärt hat. Seit mehreren Jahren gelten (beziehungsweise galten) diese Einschränkungen aus den gleichen Gründen auch in anderen Primarschulen, etwa in der Sissacher Bützenen und in Ramlinsburg. In Gelterkinden stehen wie in Lausen inzwischen Plakate, die an die Einschränkungen erinnern.
Konkret ist es verboten, auf das Schulareal Erdnüsse, geschälte wie ungeschälte, mitzunehmen, geschweige denn sie dort zu essen. Das Gleiche gilt für Chips, Snickers, Balisto und ähnliche Produkte, die Spuren von Erdnuss enthalten. Sie sind als Pausenverpflegung tabu. Ebenfalls zu den Vorbeugungsmassnahmen zählt, dass sich Schülerinnen und Schüler regelmässig die Hände waschen, erst recht nach dem Konsum von Erdnüssen daheim. Da hat Corona bereits eine gewisse Vorarbeit geleistet. Einen Brief, der diese Schutzmassnahmen auflistet, haben die Eltern vergangene Woche erhalten. Die Massnahmen gelten auch für die Sekundarschule Gelterkinden und ebenfalls auf dem ganzen Schulareal.
«Wir sind uns bewusst, dass derartige Vorgaben ein gewisses Befremden auslösen können», schreiben Yolanda Spross Hasler und Beat Flückiger namens der Schulleitung, «allerdings sind wir davon überzeugt, dass die relativ kleinen Einschränkungen in Form des Verzichts auf Erdnüsse ein gut leistbarer Beitrag jedes Einzelnen zugunsten dieses Kindes sind.» Man appelliere an die Loyalität der Schulgemeinschaft.
Loyalität von allen Seiten
Diese scheint bei allen Betroffenen in hohem Masse vorhanden zu sein. Spross erhielt bisher nur Anrufe von Eltern, die aus Vorsicht genaueren Bescheid über Verbotenes wünschten, oder wegen Verständnisfragen. In Lausen verlief das damals nicht so reibungslos. Auch die Lehrerinnen und Lehrer lassen sich bereitwillig anleiten, wie sie sich in einem Notfall zu verhalten haben. Und die Kinder? «Sie können heute mit Individualitäten umgehen, weil sie das schon früh gelernt haben», sagt die zuständige Schulleiterin. Denn die Hauptaufgabe jeder Schule, das Lehren und Lernen, sei nicht eingeschränkt.
Nun setzt Spross Hasler sich dahinter, Merkblätter, einen Notfallplan und sogar eine Notfallübung zu entwerfen. Dabei kann sie auf die Unterstützung ihres Lausner Kollegen Urs Beyeler zählen, dessen Schule in diesem Bereich Vorreiterin ist. «Wir müssen ja nicht alles neu erfinden», sagt sie. Im Gegensatz zur Lausner Schule, die zur nuss- und erdnussfreien Zone erklärt wurde und wo sogar eine Übertragung über die Luft möglich ist, besteht bei Raphael erst bei Kontakten Lebensgefahr. Auch musste bei ihm noch nie von der Spritze, dem letzten Mittel nach Tropfen und Tabletten, Gebrauch gemacht werden.
Und wie muss sich in wenigen Tagen der «Santichlaus» verhalten? «Da haben wir noch ein Jahr Zeit zum Überlegen», sagt Spross und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, «da spielen uns für einmal Corona mit dem Kontaktverbot und der Kalender in die Hände. Der 6. Dezember fällt auf einen Sonntag.» Und sie äussert die Hoffnung, dass sich Raphaels Allergie bis dahin abgeschwächt hat.