«E-Bikes sind ein Problem für mich»
16.10.2020 Bezirk Sissach, Verkehr, Gesundheit, Gesellschaft, DiepflingenAusgefragt mit dem sehbehinderten Max Grieder zum Tag des Weissen Stocks
Vor gut fünf Jahren verschlechterte sich das Sehvermögen von Max Grieder so dramatisch, dass er seither auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen ist. Was bedeutet die zusätzliche Belastung durch Corona für ...
Ausgefragt mit dem sehbehinderten Max Grieder zum Tag des Weissen Stocks
Vor gut fünf Jahren verschlechterte sich das Sehvermögen von Max Grieder so dramatisch, dass er seither auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen ist. Was bedeutet die zusätzliche Belastung durch Corona für den Sehbehinderten?
Sebastian Schanzer
Herr Grieder, überall im öffentlichen Raum und vor Geschäften hängen Plakate mit Anweisungen, wie man sich vor dem Covid-19-Virus schützen soll. Wissen Sie, welche Regeln derzeit gelten?
Max Grieder: Die Plakate nützen mir freilich nichts. Ich sehe, dass sie hängen, was aber draufsteht, kann ich nicht entziffern. Auf meinem rechten Auge sehe seit etwa einem Jahr noch knapp 10 Prozent, auf dem linken sehe ich praktisch nichts mehr. Ich halte mich aber insbesondere mit dem Radio auf dem Laufenden und weiss daher, wo etwa eine Maske getragen werden muss.
Sie sind 87 Jahre alt und gehören somit zur Risikogruppe. Tragen Sie eine Maske, wenn Sie beispielsweise im öffentlichen unterwegs sind?
Ich habe immer eine Maske dabei. Allerdings bereitet mir das Tragen grosse Mühe. Meine Brille läuft ständig an, was dazu führt, dass ich noch weniger Dinge erkennen kann als ohnehin schon. Mein Arzt hat mich deshalb von der Maskenpflicht dispensiert. Wenn ich im Zug sitze, achte ich aber darauf, dass ich alleine sitze und mit niemandem rede. Die Masken bereiten mir aber auch andere Probleme. Es fällt mir noch schwerer, Menschen zu erkennen, wenn sie eine Maske tragen.
Als Sehbehinderter nehmen Sie wohl mehr als andere die Geräuschkulisse um Sie herum wahr. Wie haben Sie in dieser Hinsicht den Lockdown erlebt?
Es ist deutlich ruhiger geworden. Die ersten paar Wochen habe ich in meinem Haus in Diepflingen verbracht. Zunächst fiel mir auf, dass kaum Spaziergänger unterwegs waren.Nach den ersten Lockerungen der Massnahmen kamen einzelne wieder auf die Strasse. Ich habe an deren Silhouetten erkannt, dass sie neu Abstand voneinander hielten. Und auch den stark reduzierten Flugbetrieb habe ich deutlich wahrgenommen. Ich bin nämlich an warmen Tagen in meinem Garten liegend eingeschlafen. Das war wunderbar. Bei normalem Flugverkehr mit mindestens 100 Flugzeugen, die jeden Tag übers Dorf fliegen, ist mir das nie passiert. Gleichwohl: Ich habe durch autogenes Training und Yoga gelernt, Lärm in entspannende Geräusche zu überführen.
Etwas entspannter dürften für Sie während des Lockdowns auch die Zugfahrten zur Augenklinik in gewesen sein.
Ja, das ist so. Ich mag kein Gedränge im Zug oder im Tram. Es bedeutet immer Stress für mich. Einmal wurde ich im Zug bestohlen, ohne es bemerkt zu haben. Zudem ist es mir unangenehm, ohne Maske neben den Leuten im öffentlichen Verkehr zu sitzen. Die Zeit der halb leeren Züge kam mir zumindest in dieser Hinsicht entgegen.
Gestern war der internationale Tag des Weissen Stockes. Kaum jemandem dürfte das aufgefallen sein. Kämpfen Sie im Alltag mit mangelnder Aufmerksamkeit gegenüber Blinden und Sehbehinderten?
Am Bahnhof in Bern habe ich einmal eine Frau gefragt, ob dieser Zug nach Olten fahre. Sie sagte mir: «Ja, aber schauen Sie doch hier oben, da steht es auch», und zeigte auf die Anzeigetafel. Solche Erlebnisse haben mir wehgetan. Ich musste den Leuten immer wieder sagen, dass ich sehbehindert bin. Mit dem weissen Stock, der mich als Sehbehinderten kennzeichnet, hat sich das dann verbessert. Ich erfahre seither im Alltag viel Hilfsbereitschaft. Die Menschen erkennen, dass ich auf Hilfe angewiesen bin. Ein grosses Problem für mich ist aber, dass ich Bekannte bis auf einen halben Meter vor mir nicht erkennen kann. Ich würde mir wünschen, dass sie sich kurz mit Namen vorstellen, wenn sie mir begegnen. Daran denken sie aber meist nicht.
Vielen Menschen fällt es schwer, Hilfe überhaupt anzunehmen.
Es ist schon ein seltsames Gefühl, aber es geht schlicht nicht anders. Ich brauche die Hilfe. Es gibt sehr wohl Geräte, wie etwa Vergrösserungsgläser oder eben diesen Stock, die mir den Alltag erleichtern. Aber viel wichtiger sind die Rücksicht und Hilfe der Menschen. Wenn ich vor dem Einkaufsregal stehe, bin ich sehr dankbar, wenn mir jemand das gewünschte Produkt heraussucht. Sonst müsste ich andauernd selbst mit der Lupe das Regal absuchen. Auf der Strasse bin ich vor allem darauf angewiesen, dass mich die Verkehrsteilnehmer früh genug wahrnehmen.
Vermehrt sind auf unseren Strassen auch E-Bikes unterwegs. Ein Problem für Sie?
Ja, ein grosses Problem für Blinde und Sehbehinderte. E-Bikes sind schnell und man hört sie nicht. Kürzlich stand ich am Fussgängerstreifen und hielt den Stock nach draussen. Auf beiden Seiten haben die Autos angehalten. Das habe ich gehört. Was ich aber nicht hörte, war der junge Mann auf seinem E-Bike, der vor meiner Nase einfach vorbeirauschte, als ich loslaufen wollte. Ich hatte Glück, dass er mich nur streifte. Aber solche Zwischenfälle sind glücklicherweise eher selten.
Zur Person
ssc. Max Grieder ist 87 Jahre alt. Der gelernte Auto- und Schriftenmaler liess sich nach einigen Jahren in der Autobranche beim Kantonsspital in Liestal zum Rettungssanitäter ausbilden – sein Traumberuf, in dem er bis zur Pensionierung arbeitete. Gemeinsam mit einigen Weggefährten gründete er den Schweizerischen Rettungssanitäterverband. Erste Probleme mit den Augen traten bei Grieder vor 24 Jahren auf. Am linken Auge stellte er eine starke Trübung fest. Dafür verantwortlich war eine Degeneration der Makula, wie ihm die Augenärzte diagnostizierten. Im Jahr 2002 fiel sein Sehvermögen auf dem linken Auge unter das Limit für das Autofahren. Vor fünf Jahren wurde dann auch am rechten Auge eine Makuladegeneration festgestellt. In der Folge verschlechterte sich das Sehvermögen dramatisch. Seit gut einem Jahr beträgt Grieders Sehleistung auf dem rechten Auge noch 10 Prozent, jene des linken Auges 2 Prozent.