«Separierung ist oft die bessere Integration»
29.11.2019 Baselbiet, Bildung, BubendorfFür Elternlobby-Präsident Fredi Jaberg aus Bubendorf scheitert die Volksschule an ihren Ansprüchen
«Bildungswahl für alle statt für wenige» fordert die Elternlobby Schweiz in einer Petition. Deren Präsident, Fredi Jaberg, erklärt, weshalb die barrierefreie Schulwahl die Volksschule ...
Für Elternlobby-Präsident Fredi Jaberg aus Bubendorf scheitert die Volksschule an ihren Ansprüchen
«Bildungswahl für alle statt für wenige» fordert die Elternlobby Schweiz in einer Petition. Deren Präsident, Fredi Jaberg, erklärt, weshalb die barrierefreie Schulwahl die Volksschule nicht schwächen, sondern stärken würde.
Christian Horisberger
Die Elternlobby Schweiz hat in zehn Kantonen eine Petitionen eingereicht, in der sie die freie Schulwahl fordert anstelle der Volksschul-Pflicht. Herr Jaberg, was haben Sie gegen die Volksschule?
Fredi Jaberg: Ich bin ein Freund der Volksschule. Ich möchte sie stärken, indem man ihr Konkurrenz macht. Wir sind im Moment festgefahren in einer Richtung, in der Kinder zu viel Schaden nehmen. 30 Prozent der Kinder in der Volksschule brauchen Medikamente oder Therapien, damit sie ihre obligatorische Schulzeit überstehen.
Die Gesellschaft verändert sich: soziale Medien, wachsender Anteil Fremdsprachiger, Einflussnahme der Eltern … aber für Sie ist die Schule dafür hauptverantwortlich?
Dieser Wert war nicht immer so hoch und lässt sich nicht auf die gesellschaftlichen Veränderungen zurückführen. Wir kennen viele Eltern, die ihre Kinder in die Privatschule geschickt haben und denen es dort plötzlich besser ging. Die Situation hat sich mit Harmos derart gravierend verändert.
Inwiefern?
Ich betrachte die Umsetzung der integrativen Schulung als gescheitert. Das sagen selbst wichtige Leute im Amt für Volksschulen. Deren Lösung ist allerdings, die Eltern noch mehr zu entrechten. Unser Ansatz dagegen ist, punktgenaue Lösungen für die Kinder zu finden.
Lehrer können sich doch Unterstützung zur speziellen Förderung ins Klassenzimmer holen.
Das Prozedere im heutigen System läuft wie folgt ab: Wenn ein Kind in einer Klasse nicht klarkommt, erhält es allenfalls die Möglichkeit, innerhalb der Gemeinde das Schulhaus zu wechseln. Oder die ganze Familie zieht um. Ist ein Schulhauswechsel nicht möglich oder bringt er nichts, gibt es eine spezielle Förderung. Wenn die ebenfalls nichts bringt, gibt es Assistenzlösungen, bei denen eine zusätzliche Person in die Klasse kommt. Wenn das nichts bringt, kommt die Sonderschule zum Zug – auf IV-Ebene. Das bezahlt grossmehrheitlich die IV.
Und was ist daran falsch?
Ich weiss von drei Elternpaaren, die erzählen, dass ihre Kinder mit Hochoder Inselbegabungen auf die IV-Schiene abgestuft wurden und nun zusammen mit Kindern mit deutlich unterdurchschnittlicher Intelligenz unterrichtet werden. Die Kaskade ist der Volksschule heiliger und wichtiger als das Zugeständnis, dass man ein Kind, das in einem anderen pädagogischen Setting besser aufgehoben ist, entsprechend platziert, oder auch ein Kind mit sehr schwachem Intellekt direkt in einer Sonderschule platziert. Das ist ein Fehler des heutigen Systems.
Mit der freien Schulwahl würden wegen den Mindest-Klassengrössen Volksschulstandorte gefährdet. Dorfschulen.
Die Erfahrung in anderen europäischen Ländern zeigt, dass nur etwa 10 Prozent der Eltern die freie Schulwahl nutzen, wenn der Bildungsfranken mit der Schülerin oder dem Schüler mitwandert. Ich behaupte zudem: Die Volksschule würde durch die Konkurrenz gestärkt. Denn wenn 10 Prozent ihrer Lehrerschaft den Job verloren haben, muss sich die Schule überlegen, was sie besser machen muss, damit es so nicht weitergeht. Dann würde man eine integrative Schule erzeugen, die auch funktioniert.
Was machen freie Schulen Ihrer Meinung nach besser als die Volksschule?
Nicht besser, sondern anders. Bei der Vermittlung des Stoffs ist nicht das Alter eines Kindes massgebend, sondern dessen Entwicklungsstand. Der Lernplan richtet sich individuell nach den einzelnen Schülerinnen und Schülern. Unterforderung bringt nichts und Überforderung bringt nichts. Das weiss man. Die einzelnen Privatschulen haben zudem unterschiedliche Philosophien und Stärken – für unterschiedliche Bedürfnisse von Kindern. Die öffentliche Schule dagegen hat den Anspruch, allen Bedürfnissen gerecht zu werden, sie will für alle alles anbieten. Das ist für die Lehrerschaft aber nicht leistbar. Die läuft am Limit …
… und möchte zurück zur Separation?
Wenn man die 10 Prozent Kinder, die nicht ins Korsett der Volksschule passen, aus den Klassen herausnehmen und ohne finanzielle Hürde anderswo beschulen könnte, würde dies die Homogenität im Schulzimmer und den Klassenverband stärken. Es gibt Situationen, in denen eine Separierung die bessere Integration ist als die Integration, wie sie derzeit in unseren Volksschulen praktiziert wird.
Die Volksschule hat einen ehrenwerten Anspruch: integrieren statt ausgrenzen.
Integration in Ehren, aber damit bringt man einem Goldfisch das Klettern nicht bei.
Die perfekte Welt funktioniert in der Schule Ihrer Meinung nach nicht?
Ich bin selber Lehrer an einer Sek und erlebe das Gegenteil. 20 Prozent der Schulabgänger sind funktionale Analphabeten. Ein furchtbarer Wert. Ich schäme mich dafür, dass ich in einem Schulapparat mitwirke, in dem ein Drittel der Kinder krank wird und einer von fünf Schulabgängern nicht versteht, was sie lesen und damit eigentlich nicht vertragsfähig sind.
Warum unterrichten Sie noch an einer Sekundarschule, wenn Ihnen das System derart zuwider ist?
Ich erteile Werken und kann einen Unterricht machen, der stark auf die Wünsche der einzelnen Schüler ausgerichtet ist. Das kommt so gut an, dass mehrere Schüler über ihre Pflichtstunden hinaus meine Lektionen besuchen.
Auch an freien Schulen sind Kinder, die für die Lehrerschaft und den Klassenverband eine Herausforderung darstellen – womöglich im Verhältnis sogar mehr als an der Volksschule. Und das soll besser funktionieren?
Erstens hat eine Beschulung ausserhalb der Volksschule einen stärkeren individuellen Fokus und erzeugt damit mehr Erfolgserlebnisse für Schüler. Das baut viel Stress ab. Zweitens behaupten freie Schulen nicht, sie seien «für alle» da. Eine Schulleitung soll auch das Recht haben, ein Kind abzulehnen, wenn sie denkt, sie sei nicht die richtige Umgebung für ein Kind. Wenn ich den Slogan der Volksschule «eine Schule für alle» lese, bekomme ich einen dicken Hals. «Eine Partei für alle» oder «eine Kirche für alle» wäre in der Erwachsenenwelt undenkbar. «Eine Schule für viele» würde mir viel besser gefallen.
Gegner der freien Schulwahl argumentieren, dass sie eine Zweiklassengesellschaft hervorbringen würde.
Die haben wir heute doch: Nur Eltern, die finanziell gut ausgestattet sind, können ihre Kinder in eine Privatschule schicken, wenn diese in der Volksschule nicht funktionieren. Das empfinden wir als ein Unrecht. Deshalb lautet der Aufhänger unserer Petition «Bildungswahl für alle, nicht für wenige».
Wie sind die Unterschriftensammlungen verlaufen?
Wir haben die Petition in zehn Kantonen am 20. November, dem nationalen Kinderrechtstag, eingereicht. Die Unterschriften würden niemals reichen, um eine Initiative zu starten. Das wussten wir. Aber wir spüren, dass vonseiten der Behörden und Politik der Handlungsspielraum der Eltern noch enger gemacht werden soll. Deswegen die Petition.
Welcher Hadlungsspielraum?
Der Kanton hat die Möglichkeit, die Kinder in ein alternatives Setting zu überweisen, was günstiger wäre als die Volksschule. Doch Überweisungen des Kantons an Privatschulen werden seit einem Bundesgerichtsurteil von 2014 regressiv gehandhabt.
Sie sagen selber, das Thema ist nicht mehrheitsfähig, wofür denn dann die Petition?
Wir wollen eine politische Diskussion. Wir finden es schade, dass der Verwaltungsapparat und die Staatsschulen die Eltern immer mehr in die Ecke drängen und ihnen weniger Rechte zugestehen. Sie wollen alles selber entscheiden. Nun gibt es neue Vorlagen zur «Stärkung der Schule – spezielle Förderung und Sonderschulung» – das ist nahezu die komplette Entrechtung der Eltern.
Das heisst?
Die Volksschule kann demnach einen Schüler oder eine Schülerin an den Eltern und an der Kesb vorbei in einem Setting nach ihrem Gutdünken unterbringen.
Das klingt nach einer Massnahme in Extremsituationen. Schiessen Sie mit Ihrer Forderung nach einer freien Schulwahl nicht mit Kanonen auf Spatzen?
In anderen Ländern macht man gute Erfahrungen damit. Die Rate von Schülerinnen und Schülern, die aus der öffentlichen Schule genommen und hinterher wieder rückplatziert werden, ist klein. Dazu trägt auch bei, dass mit den Eltern Bedingungen vertraglich vereinbart werden, um dem «Grashüpfer-Effekt» von «Helikopter-Eltern» vorzubeugen.
Stichwort «Helikopter-Eltern». Oft glauben Eltern, alles besser zu wissen als die Fachkräfte an der Schule und lähmen damit den Schulbetrieb.
Eltern wissen tatsächlich am besten, was ihren Kindern guttut. Die Art und Weise ihrer Kritik mag nicht immer ideal sein. Aber wenn sie mitbekommen, dass etwas nicht rund läuft, sollen sie doch darauf hinweisen dürfen. Wie das Problem behoben wird, ist dann Aufgabe der Schule.
Zur Person
ch. Fredi Jaberg (56) aus Bubendorf ist seit Mai dieses Jahres Präsident der Elternlobby Schweiz. Der gelernte Schlosser, Maler und ausgebildete Pädagoge ist Werklehrer an der Sekundarschule Reigoldswil. Er ist verheiratet mit der ehemaligen EVP-Landrätin Priska Jaberg. Das Paar hat drei Kinder und ein Grosskind. Zur Elternlobby Schweiz kam Jaberg als persönlich Betroffener: Eines seiner Kinder kam in der Regelschule nicht zurecht, worauf die Jabergs eine Alternative suchten und in einer Privatschule fanden, die sie vollumfänglich selber bezahlen. Der Schritt sei der richtige gewesen, sagt Fredi Jaberg.