Wisente im nahen Thal gedeihen prächtig
21.12.2023 Region, NaturWelschenrohr | Verläuft alles nach Plan, wird die Herde 2027 in die Freiheit entlassen
Die Planung des Wisent-Projekts war ein «Geknorze», weil sich bäuerliche Einsprecher querlegten. Seit das Bundesgericht aber vor bald zwei Jahren grünes ...
Welschenrohr | Verläuft alles nach Plan, wird die Herde 2027 in die Freiheit entlassen
Die Planung des Wisent-Projekts war ein «Geknorze», weil sich bäuerliche Einsprecher querlegten. Seit das Bundesgericht aber vor bald zwei Jahren grünes Licht gab, läuft es wie geschmiert: Die Herde ist dank der Geburt von zwei Kälbern auf sieben Tiere angewachsen. Die Büffel fühlen sich pudelwohl, wie ein Augenschein vor Ort zeigt.
Andreas Hirsbrunner
Wir stapfen mit Benjamin Brunner durch den Schnee bei seinem Hof Solmatt. Der 66-Jährige bewirtschaftet zusammen mit seiner Frau nicht nur den stattlichen, 45 Hektaren Land haltenden Hof hoch über Welschenrohr im solothurnischen Thal, sondern arbeitet in einem 50-Prozent-Pensum auch noch als Ranger. Und zwar als eine Art Ranger, wie sie einmalig ist in der Schweiz: Er überwacht die siebenköpfige Wisent-Herde, deren 50 Hektaren grosses, eingezäuntes Areal gleich oberhalb des Hofs beginnt.
Wir gehen durch ein Tor, Brunner hält sein Telemetrie-Gerät in die Höhe und sondiert damit, in welchem Teil des grösstenteils bewaldeten Areals sich die Wisente aufhalten. Wir laufen los in die Richtung, aus der die Signale kommen, und nach ein paar Hundert Metern eröffnet sich uns ein beeindruckendes Bild, wie man es allenfalls von Nordamerika mit den mit den Wisenten verwandten Bisons kennt: Die imposanten Tiere liegen friedlich im Schnee, sind am Wiederkäuen und lassen sich von uns nicht beeindrucken. Ohne Telemetrie – zwei Kühe tragen GPS-Sender – hätten wir die Tiere trotz ihrer Grösse wahrscheinlich nie im Wald gefunden.
Ja, diese Herde – bestehend aus einem Bullen, drei Kühen, einem Jungtier mit Jahrgang 2022 und zwei Kälbern, die im vergangenen Juli auf die Welt kamen – beschäftigte in den vergangenen Jahren die Schweiz bis vors Bundesgericht. Wobei es weniger die Tiere an und für sich waren, sondern das Projekt dahinter mit dem ehrgeizigen Ziel, den vor etwa 1000 Jahren in der Schweiz ausgerotteten Wisent wieder heimisch werden zu lassen. Die opponierenden Bauern unterlagen und das Bundesgericht attestierte dem geplanten Zaun, der momentan vier Kilometer lang ist, Gesetzeskonformität. Somit konnte der Verein Wisent Thal sein seit 2017 sorgfältig aufgegleistes Projekt fünf Jahre später umsetzen. Der Einzug der Wisente im Herbst 2022 war dann ein Meilenstein, aber noch nicht der Kulminationspunkt des Vorhabens.
Weniger Schäden – mehr Freiheit
Im kommenden Sommer beginnt die Phase zwei des Projekts: Das Wisent-Gehege wird in Richtung Balmberg auf 100 Hektaren verdoppelt. Diese Ausdehnung des Territoriums schadet zwar der Attraktivität von Wisent-Beobachtungen, weil man einiges weiter laufen muss, um die Tiere zu Gesicht zu bekommen, stärkt dafür die Aussagekraft der wissenschaftlichen Begleituntersuchungen.
Denn ein wichtiger Teil des Projekts ist es, die Schäden, welche die Wisente verursachen, detailliert aufzuzeichnen. Im Vordergrund stehen jene an Bäumen und im Grünland. Letztere, weil die Büffel keine Leichtgewichte sind. Eine Kuh werde bis zu 400 Kilogramm, ein Bulle doppelt so schwer, sagt Brunner. Und das kann Trittschäden verursachen, zudem vertilgen die Tiere ansehnliche Mengen Gras. An den Bäumen hinterlassen die Tiere ihre Spuren, weil sie gerne die mineralhaltigen Rinden sowie Blätter und Triebe vor allem entlang der Waldränder fressen.
Auf dem jetzigen Territorium seien die Schäden, die von Studenten aufgenommen und von Experten ausgewertet würden, allerdings nur bedingt aussagekräftig. Dies, weil die 50 Hektaren ein Bruchteil dessen seien, was eine Wisent-Herde in freier Natur als Lebensraum beanspruchen würde – der Ranger spricht von einer Fläche von 20 bis 40 Quadratkilometern, also das 40bis 80-Fache.
Die dritte Phase soll, sofern die begleitenden Studien nicht zu einem anderen Schluss kommen, 2027 eingeläutet werden. Sie dürfte einigen Landwirten und Förstern im Thal Bauchweh und Anhängern eines möglichst grossen Artenreichtums Freude machen: Vorausgesetzt, der Kanton Solothurn stimmt zu, werden dannzumal die Zäune entfernt und die vielleicht auf etwa 15 Tiere angewachsene Herde in die Freiheit entlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt rechnet der von «Mitte»-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt präsidierte Trägerverein mit Kosten von 3,9 Millionen Franken, inklusive Schadensvergütungen.
Bis jetzt sei die Umzäunung mit 450 000 Franken der grösste Ausgabenposten gewesen, die Verdoppelung des Lebensraums nächsten Sommer koste nochmals 120 000 Franken für die Zäune, sagt Brunner. Dass die zweite Etappe nicht mehr kostet, hat damit zu tun, dass es sich dabei nur noch um Elektrozäune handelt. Ins Geld gegangen sind bei der ersten Etappe vor allem die beiden Abschnitte mit massiven Stahlzäunen, wofür laut Brunner 14 Tonnen Stahl verbaut wurden. Deren Zweck ist, dass Wildschweine und Rehe sie im Gegensatz zu den Wisenten passieren können und so die Wildwechsel nicht unterbrochen werden.
Besucher halten Abstand nicht ein
Hauptgeldgeber sind Stiftungen sowie die Gönner des Vereins Freunde Wisent Thal. Aber das Projekt generiert selbst auch Einnahmen. Dazu Brunner: «Unsere Guides machen Führungen zu den Wisenten für die halbe Schweiz. Am Anfang kamen vor allem Schulklassen aus der Region, mittlerweile Firmen, Ämter, Vereine, Gemeinden, Umweltorganisationen sowie Private aus der ganzen Deutschschweiz.» Eine Führung mit bis zu 15 Personen kostet 290 Franken; grössere Gruppen werden aufgeteilt, entsprechend steigt der Preis. Man kann das Gehege aber auch ohne Führer durch eines der vier Tore betreten.
Wichtigste Verhaltensregel ist, einen minimalen Abstand von 50 Metern zu den Wisenten einzuhalten. Brunner: «Wisente sind in der Regel harmlos, doch Kühe verteidigen ihre Kälber, wenn man ihnen zu nahe kommt. Es ist unglaublich, wie dumm sich gewisse Besucher verhalten.»
Und der Ranger, zu dessen Aufgaben auch die Besucher-Überwachung gehört, zeigt Bilder, auf denen Fotografen wenige Meter vor den Wisenten stehen. Er erzählt auch kopfschüttelnd von jenem Basler Porschefahrer, der versucht habe, mit seinem Sportwagen durchs Tor ins Wisent-Gehege hineinzufahren. Brunner betont: «Wenn es zu einem Angriff von einem Wisent auf einen Menschen kommt, ist das ein Killerargument gegen die Auswilderung der Tiere.»
Dass sich die Büffel bis jetzt so harmlos auch gegenüber den dreistesten Annäherungen verhalten haben, hat mit ihrer Vergangenheit zu tun: Sie stammen mit Ausnahme der Kälber, die vor Ort auf die Welt kamen, aus dem Tierpark Zürich Langenberg und sind somit an Menschen gewöhnt. Der Bulle übrigens wird ausgewechselt, sobald die Jungtiere geschlechtsreif werden, um Inzucht zu vermeiden. Welcher Bulle dann nach Welschenrohr kommt, wird in Polen entschieden, wo das Zuchtbuch für ganz Europa geführt wird. Denn alle heute lebenden 8000 bis 9000 Wisente – der grössere Teil davon frei vor allem in Polen, Weissrussland, der Ukraine und Rumänien – stammten von denselben zwölf Tieren ab, welche die fast vollständige Ausrottung vor 100 Jahren überlebt hätten, erläutert Brunner.
Sofort begeistert
Wieso ist eigentlich er selber als einer von wenigen Landwirten im Thal ein überzeugter Anhänger einer Wisent-Auswilderung? «Als die Projekt-Initianten vor etlichen Jahren zu mir kamen, wusste ich nicht einmal, dass es Wisente gibt. Aber als sie ihre Ideen vorstellten, hatten sie mich nach fünf Minuten im Sack.»
Die Initianten gingen nicht aus persönlichen, sondern aus kartografischen Gründen zu Brunner. Sie wollten ihr Projekt in einem Gebiet mit möglichst wenigen Landbesitzern lancieren, weil das einfacher war. Und im Gebiet Solmatt gibt es nur deren zwei: Brunner (7 Hektaren) und die Bürgergemeinde Solothurn (der ganze Rest, inklusive Erweiterungsgebiet). Und auch diese war schnell Feuer und Flamme für das Projekt.