«Wir wollen die Krankheit Noma ausmerzen»
04.07.2024 Bezirk Liestal, Arisdorf, BaselbietMit seinem Engagement gehört Fidel Strub zu den 100 «Top-Leaders» im Gesundheitswesen
Der in Burkina Faso geborene Fidel Strub wuchs ab dem achten Lebensjahr in Arisdorf auf. Jetzt hat ihn das renommierte amerikanische «Time»-Magazin in die Liste ...
Mit seinem Engagement gehört Fidel Strub zu den 100 «Top-Leaders» im Gesundheitswesen
Der in Burkina Faso geborene Fidel Strub wuchs ab dem achten Lebensjahr in Arisdorf auf. Jetzt hat ihn das renommierte amerikanische «Time»-Magazin in die Liste «Top-Leaders» der weltweit 100 einflussreichsten Persönlichkeiten im Bereich Gesundheit aufgenommen. Fidel Strub ist selbst an Noma erkrankt.
Andreas Bitterlin
Herr Strub, Noma ist eine Infektion. Was sind die Ursachen für die Erkrankung?
Man geht davon aus, dass die Ursache bakteriell ist, allerdings ist das Wissen über die Krankheit noch mangelhaft. Man weiss, dass Unterernährung und ein schlechtes Immunsystem beim Ausbruch der Infektion eine entscheidende negative Rolle spielen. Dazu kommt, dass sich die Erreger der Krankheit in einem warmen Klima sehr gut entwickeln.
Was sind die Symptome?
Die Infizierung erfolgt oftmals im Mund mit Zahnfleischbluten. Innerhalb von wenigen Wochen entwickelt die Krankheit eine Entzündung, dann folgt sehr rasch die Nekrose, das heisst ein Absterben von Zellen.
Wann sind Sie infiziert worden?
Ich erkrankte mit drei Jahren. Meistens geschieht die Infektion im Alter von drei bis sieben Jahren, aber auch Erwachsene können betroffen sein.
Wie wurden Sie in Ihrer damaligen Heimat im afrikanischen Burkina Faso behandelt?
Wie ich genau behandelt worden bin, weiss ich nicht mehr. Zuerst benötigt man eine Wundbehandlung mit einer Desinfektion und im Rahmen einer Nahrungsergänzung die Zuführung von Mineralstoffen, was mehrere Wochen dauert.
Ist diese Behandlung in Burkina Faso Standard?
Nein, die Behandlung ist in Burkina Faso nicht für alle zugänglich. Es gibt zu wenig Ärzte, und es mangelt an Fachwissen. Das ist nicht nur ein Problem in Afrika, sondern überall, also auch hier in Europa. Es ist ein globales Problem.
Wie kamen Sie in die Schweiz?
Es existierte eine karitative Schweizer Organisation, die in Burkina Faso eine Basis aufbaute. Meine Grossmutter konnte mich dank dieser Organisation einer medizinischen Behandlung zuführen. Nach der Stabilisierung der Krankheit wurde ich mit Unterstützung der Organisation nach Genf überführt, wo ich mehrfach operiert wurde. Danach wurde ich nach Afrika zurückgeschickt.
Sie waren genesen?
Ja, die primäre Behandlung dauerte nur einige Monate. In Burkina Faso erkrankte ich aber zusätzlich an Malaria und wurde mehrfach zwischen Burkina Faso und Genf hin- und hergeschickt, bis mich ein Ärzte-Ehepaar 1998 in der Schweiz adoptierte und wir von Genf nach Arisdorf umzogen. In der Schweiz wurde ich als Kind und Jugendlicher 27-mal operiert. Die Gesichtsrekonstruktion war sehr komplex.
Wie verliefen diese Eingriffe?
Die rechte Seite meines Gesichts wurde mit Muskelgewebe von meinem Rücken und meinem Schädel rekonstruiert.
Wie geht es Ihnen heute?
Mir geht es gut. Ich habe keine Sorgen hier in der Schweiz. Hier ist das Sozialsystem sehr stark. Ich konnte mich hier gut entwickeln und kann heute sagen, noch schweizerischer kann ich nicht werden, als ich es bin.
Sie engagieren sich zusammen mit anderen Noma-Betroffenen für den Kampf gegen diese Krankheit. Was ist das Wichtigste, um dieses Leiden zu überwinden?
Der Kampf ist sehr breit gefächert. Als Betroffene fokussieren wir auf drei Hauptpunkte: erstens Aufmerksamkeit zu erlangen, zweitens Unterstützung zu generieren und drittens Noma als ganzes Paket zu betrachten.
Was verstehen Sie unter dem ganzen Paket?
Ich benötige beispielsweise Zahnprothesen, die bezahlt werden müssen. Man benötigt Logopädie. Die Nase muss korrigiert werden. Es müssen sehr viele soziale, emotionale und psychologische Aspekte berücksichtigt werden im Kampf gegen Noma. Es reicht nicht, nur die Symptome zu beachten und zu bekämpfen. Auch die Langzeitfolgen müssen involviert werden. Für all das engagieren wir uns.
Zusammen mit der ebenfalls von Noma befallenen Mulikat Okanlawon, die in einem nigerianischen Spital arbeitet, gründeten Sie 2022 die Organisation Elysium für Noma-Überlebende. Wie gehen Sie vor?
Wir bekämpfen die Stigmatisierung der Betroffenen. Wir haben festgestellt, dass wir nicht immer fair behandelt werden. Egal, wie namhaft jemand ist, wir sind konsequent und sagen bei Bedarf bereits geplante Events ab, wenn wir das Gefühl haben, die Interessen der Betroffenen werden zu wenig berücksichtigt. Oftmals wird die Krankheit als Problem nur von Zahlen erfasst und das Menschliche vergessen. Diese Problematik betrifft nicht nur Noma-Patientinnen und -Patienten, sondern auch Betroffene anderer Leiden. Dagegen wehren wir uns.
Wie sieht dieses Engagement konkret aus?
Von einer grossen Organisation erhielten wir eine Einladung. Wir fragten, worum es geht, wer involviert ist und wie der Zeitplan aussieht. Wir wollen einbezogen werden in die Planung von Projekten. Aber die Verantwortlichen gaben uns keine präzisen Auskünfte. «Elysium» will nicht, dass wir von Organisationen zu Handlungen gezwungen werden, nur weil wir eingeladen sind.
Und deshalb sagten Sie die Teilnahme ab?
Ja. Doch es gab noch ein anderes Faktum, das wir nicht akzeptierten. Wir wollen grundsätzlich nicht ausgenutzt werden, deshalb sagen wir, wenn es notwendig ist, Teilnahmen ab.
Welches Faktum passte Ihnen nicht?
Die Organisation wollte einen Artisten engagieren, der den Event als Comic darstellen sollte. Das kann durchaus eine interessante Idee sein, aber dass wir in eine derartige Aktion nicht einbezogen wurden, das geht nicht. Oft wird unsere persönliche Würde missachtet. Für gesunde Menschen mag eine Comic-Darstellung problemlos sein, aber nicht für Menschen wie wir mit einem grossen Grundproblem.
Geht es auch um Finanzielles?
Eine namhafte Universität plante eine Veranstaltung und wollte den Anlass filmisch dokumentieren. Dagegen haben wir grundsätzlich keine Einwände, aber uns war nicht klar, wie das Material anschliessend verwertet werden soll. Wir erhielten keine Informationen, ob sie es für eigene kommerzielle Zwecke verwenden wollten. In einer solchen Situation verweigern wir uns.
Wie ist «Elysium» personell aufgestellt?
Mulikat Okanlawon, die ebenfalls an Noma erkrankt ist, arbeitet in ihrer Heimat Nigeria und unterstützt dort Betroffene mental und klärt die Bedürfnisse der Erkrankten ab. Ich erledige in der Schweiz das Management mit einer weiteren Person. Wir sind also drei Personen, die rund 30 Betroffene in sechs Ländern unterstützen.
Das renommierte amerikanische «Time»-Magazin nahm Sie neben Mulikat Okanlawon in die Liste der «Top 100 health leaders» auf, zeichnete Sie also als eine der international 100 einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres im Bereich Gesundheit aus. Was bedeutet Ihnen diese Ehre?
Diese Ehrung ist ein Zeichen, dass wir eine Lücke füllen und unser Engagement anerkannt wird. Wir haben viel erreicht mit anderen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und der nigerianischen Regierung. Die Auszeichnung des «Time»-Magazins wurde in zahlreichen Zeitungen und im Fernsehen gewürdigt. Schon zuvor waren wir auch in ausländischen Medien präsent, wie etwa in der traditionsreichen englischen Zeitung «The Guardian». Für uns ist das perfekt, weil es uns endlich einmal Aufmerksamkeit beschert, was unsere Arbeit und ihre Akzeptanz fördert. Wichtig ist, dass Überlebende und ihre Situation endlich wirklich wahrgenommen werden.
Sie wurden in der Schweiz von einem Ärzte-Ehepaar adoptiert. Wie haben Sie den Wechsel von Burkina Faso ins Baselbiet damals erlebt?
Ich wollte schon als sechsjähriger Knabe Burkina Faso verlassen. Ich wollte weg von Burkina Faso, weil ich meine damalige Heimat vor allem mit Elend und Leid in Verbindung brachte. Ich war also bereit für diese Reise in die Schweiz. Ich wusste, dass das Leben dort besser ist, musste mich aber umstellen. Ich lernte unter anderem auch, mit Messer und Gabel zu essen. Das neue Leben war für mich als Kind keine problematische Angelegenheit. Erst als Teenager wurden das Leben und meine Identitätsfindung sehr schwierig.
Inwiefern?
Es dauerte Jahre, bis ich mein Aussehen akzeptieren konnte. Erst um das Jahr 2014 begann ich anzuerkennen, dass ich damit leben muss. Um das zu erreichen, brauchte es einen starken Willen meinerseits und zahlreiche psychotherapeutische Sitzungen.
Ist die Schweiz nun endgültig und uneingeschränkt Ihre Heimat?
Für mich ist insbesondere das Baselbiet meine Heimat. Ich wohne momentan im bernischen Seeland, aber mein Ziel ist es, wieder im Baselbiet zu leben.
Welche emotionale Beziehung haben Sie zu Burkina Faso?
Keine. Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, sage ich in der Regel «aus der Schweiz». Nur wenn ich explizit nach meinem Geburtsort gefragt werde, nenne ich Burkina Faso. Ich habe auch noch einen afrikanischen Sonnenhut von meinem Vater. Damit hat es sich aber mit Burkina Faso. Ich bin hier zu Hause, auch emotional.
Was ist das Fernziel Ihres Engagements im Kampf gegen Noma?
Ziel ist, dass Noma verschwindet, dass die Krankheit ausgemerzt wird. Es ist eine Schande, dass diese Krankheit noch Leid verbreitet, denn sie ist medizinisch sehr einfach zu bekämpfen.
Welche Massnahmen müssen getroffen werden?
Primär ausschlaggebend ist das medizinische Angebot, denn die Überlebenschance ist mit einer Behandlung sehr hoch, der Erfolg der Behandlung liegt bei 80 Prozent. Ohne Behandlung liegt das Risiko, innert kurzer Zeit zu sterben, bei 90 Prozent. Deshalb muss unbedingt die Infrastruktur verbessert werden. Hauptproblem ist der Zugang zur Medizin. Die Ärztedichte ist in Afrika minimal. Innerhalb eines Radius von 200 Kilometern praktiziert oft nur ein einziger Arzt. Schon allein die Reise zu einem Mediziner ist sehr umständlich und schwierig. Die medizinische Infrastruktur in Afrika und ähnlich gelagerten Gegenden der Welt und auch das Fachwissen der Ärzteschaft über Noma müssen zwingend markant verbessert werden.
Was können und müssen die einzelnen Menschen, insbesondere in den besonders gefährdeten Gegenden, tun?
Ganz wichtig ist die Mundhygiene. Diese muss weltweit verbessert werden, damit Infizierungen mit Noma via Mund keine Chance mehr haben und keine weiteren Kinder mehr darunter leiden müssen.