«Wir müssen Widersprüche einer Persönlichkeit aushalten»
31.12.2024 Bezirk Sissach, SissachJohann August Sutter wurde lange als Held gefeiert – ein Pionier, der in Kalifornien eine Kolonie gründete. Doch moderne Forschung zeigte auch seine dunklen Seiten: Sutter war ein skrupelloser Ausbeuter. Ein Gespräch mit der Historikerin Rachel Huber über die neue Sicht auf ...
Johann August Sutter wurde lange als Held gefeiert – ein Pionier, der in Kalifornien eine Kolonie gründete. Doch moderne Forschung zeigte auch seine dunklen Seiten: Sutter war ein skrupelloser Ausbeuter. Ein Gespräch mit der Historikerin Rachel Huber über die neue Sicht auf die Vergangenheit. Huber hatte die Diskussion um «General Sutter» in der Schweiz vor einiger Zeit angestossen.
Matthias Manz
Frau Huber, als ich zur Schule ging, war Johann August Sutter ein lokaler Held, der zwar seine Familie sitzen liess, aber in Kalifornien die Kolonie Neu-Helvetien gründete und zu einem berühmten Mann wurde. Seit einiger Zeit wird Sutter als brutaler Kolonialist und Unterdrücker der indigenen Bevölkerung (siehe unten) verschrien. Was ist da in der Zwischenzeit geschehen?
Rachel Huber: Die Geschichtsschreibung lag früher weitgehend in der Hand von Männern, welche die Geschichte aus Sicht der handelnden Personen beschrieben, im Fall von Sutter die Geschichte eines Abenteurers und Pioniers. Andere Aspekte wurden kaum beachtet.
Nicht einmal der Baselbieter Politiker Martin Birmann, der 1865 als Erster eine Geschichte über Sutter veröffentlichte und Vormund der zurückgelassenen und verarmten Ehefrau von Sutter war, machte die Opfer von Sutter zum Thema.
Genau. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Erlebnis des Holocaust begann sich die Geschichtswissenschaft auch mit den Opfern der Geschichte zu befassen. In den USA begannen Geschichtsforschende in den 1980er- und 1990er-Jahren, sich für das Schicksal der indigenen Bevölkerung, die von den europäischen Siedlern vertrieben und beinahe ausgerottet worden war, zu interessieren. Diese Forschungen förderten auch die Untaten von Johann August Sutter zutage, die bis anhin grosszügig übersehen worden waren.
Sie sind zum Teil in Sissach aufgewachsen. War dies der Grund, weshalb Sie sich mit Sutter zu beschäftigen begannen und vor fünf Jahren eine kritische Studie über «General Sutter» veröffentlichten?
Als Baselbieterin war mir Sutter natürlich bekannt. Aber den Anstoss zur Forschung gab mein Professor Aram Mattioli in Luzern, der im Fricktal aufgewachsen ist und ein Standardwerk über die Indigenen in Nordamerika verfasste. Er regte an, mich damit auseinanderzusetzen, wie das Bild von Johann August Sutter im Baselbiet entstanden ist und wie es sich gewandelt hat.
Was empfehlen Sie, wie die Baselbieterinnen und Baselbieter Johann August Sutter heute sehen sollten?
Wir müssen die Widersprüche einer Persönlichkeit wahrnehmen und aushalten, wir müssen uns nicht für die gute oder schlechte Seite entscheiden. Sutter war einerseits eine initiative, unternehmerische und zupackende Persönlichkeit, die faszinieren konnte; andererseits aber auch ein Hochstapler, der seine Geldgeber wiederholt täuschte, und ein skrupelloser Ausbeuter und Menschenhändler, was schon seine Zeitgenossen in Amerika befremdete. Diese Seite von Sutter wurde im Baselbiet lange Zeit nicht wahrgenommen. Wenn man aber eine Person auf den Sockel stellt, gerät sie auch eher ins Interesse gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Dann kommen irgendwann alle biografischen Aspekte zutage. Amerikanische Forschungen haben aufgezeigt, dass Johann August Sutter damals dazu beigetragen hat, die indigenen Menschen nicht als Menschen, sondern als Tiere wahrzunehmen, mit denen man als Weisser machen kann, was man will.
Sie sind eine Spezialistin für Fragen der Erinnerungskultur. In Sacramento wurde die Sutter-Statue im Jahr 2020 demontiert; in Rünenberg wurde das Sutter-Denkmal mit einem blutigen Tuch verhüllt, nachfolgend wurde von den Behörden eine Informationstafel mit den Schattenseiten von Sutter angebracht. Haben die Menschen in Amerika überreagiert oder jene im Baselbiet sich zu wenig entschieden von Sutter distanziert?
An beiden Orten standen die Denkmäler während Jahrzehnten, bis sie in Widerspruch zu neueren Erkenntnissen und Wertvorstellungen gerieten. In Sacramento waren es Indigene, also Nachfahren der von Sutters Grausamkeiten direkt betroffenen Bevölkerungsgruppe, die gegen das Denkmal anhaltend protestierten. Die Eigentümerin der Statue, ein Spital, gab dem politischen Druck schliesslich nach und entfernte das Denkmal. In Rünenberg war die Protestaktion eine politische Meinungsäusserung von Personen, die einen moralischen Anspruch erhoben, aber nicht direkt betroffen waren. Insofern sind die unterschiedlichen Herangehensweisen gut nachvollziehbar.
Sie haben sich im Auftrag der Stadt Zürich damit beschäftigt, wie man mit öffentlichen Darstellungen umgehen soll, die heute Anstoss erregen: Statuen mit unterwürfigen Frauen oder rassistische Darstellungen an Häusern in Zürich («Zum Mohrenkopf»). Soll man solche Denkmäler und Inschriften fortschaffen oder mit einer Tafel erklären oder unberührt lassen? Gibt es eine generelle Linie, wie man mit solchen Fragen verfahren soll?
Öffentliche Auseinandersetzungen über Diskriminierungsformen im öffentlichen Raum sind notwendig, sie müssen aber mit Respekt geführt und sich innerhalb des demokratischen und rechtlichen Rahmens bewegen. Vandalismus ist kein Vorgehen, das einen offenen Dialog ermöglicht. Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir als Gesellschaft mit Diskriminierungen wie zum Beispiel Rassismus umgehen wollen. Auch Minderheiten verdienen Respekt, sie sind Steuerzahlende wie alle anderen. Bei unterschiedlichen Meinungen muss man sich auf beiden Seiten ins Gegenüber versetzen, um die jeweils andere Haltung zu verstehen und ernst zu nehmen. Wenn jedoch das Diskriminierungsverbot geritzt wird, gibt es nicht mehr viel Verhandlungsspielraum.
Wie finden wissenschaftliche Erkenntnisse den Weg von der Fachliteratur in den Schulunterricht und ins allgemeine Geschichtsbewusstsein?
Das ist mir ein grosses Anliegen. Das Verständnis der Geschichte ist zentral für das Verständnis der Gegenwart, in der wir uns orientieren müssen. Es ist wichtig, dass in der Schule ein guter und präziser Geschichtsunterricht geboten wird. Schülerinnen und Schüler sind die künftigen Stimmberechtigten, die über die Zukunft mitentscheiden. Als Wissenschaftlerin verstehe ich es als Auftrag, meine Erkenntnisse verständlich zu machen und einem Publikum ohne Spezialwissen näherzubringen. Deshalb nehme ich an Podien wie zum Beispiel im «Cheesmeyer» in Sissach teil oder freue mich, mit Ihnen für die «Volksstimme» ein Gespräch zu führen.
Als Indigene werden auf der ganzen Welt Bevölkerungen bezeichnet, die vor der Einwanderung durch Siedler und Kolonialisten in den betroffenen Ländern lebten. Die indigene Bevölkerung in den USA wurde traditionell auch als «Indianer» bezeichnet.
Zur Person
ma. Rachel Huber wuchs in Sissach und Frenkendorf auf. Sie studierte Kulturmanagement in Zürich, Kulturwissenschaften in Luzern und Globalgeschichte an der Excellenzuni Hamburg. 2016 bis 2023 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin an der Universität Luzern und forschte vor allem zu Fragen der Erinnerungskultur und Diskriminierungsgeschichte in den USA. In ihrer Doktorarbeit behandelte sie den Umgang der Geschichtswissenschaft mit digitalen Dokumenten. Im Jahr 2019 veröffentlichte sie den Aufsatz «General Sutter – die obskure Seite einer Heldengeschichte». 2023 erarbeitete sie im Auftrag der Stadt Zürich zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen eine Studie über den Umgang der öffentlichen Hand mit anstössigen historischen Skulpturen und Inschriften («Auslegeordnung Erinnerungskultur der Stadt Zürich»). Heute arbeitet Huber beim Kanton Zürich in der Koordinationsstelle Teilhabe als Spezialistin für Diskriminierungsschutz. Ihr ist es wichtig, dass die Rollen der Wissenschaft und jene des Aktivismus klar getrennt und nicht vermischt werden. Diese Arbeitsfelder können sich aber gegenseitig Impulse liefern.
Johann August Sutter
ma. Johann August Sutter, der später als «General Sutter» bekannt werden sollte, wurde 1803 als Bürger von Rünenberg in Kandern im Schwarzwald geboren. Nach einer Lehre in Basel arbeitete er 1824 bis 1828 in einem Textilgeschäft in Burgdorf. Hier heiratete er Anna Dübeld, mit der er fünf Kinder hatte. Nachdem das von ihm gegründete Textilgeschäft in Konkurs gegangen war, floh er vor den Gläubigern in die USA und liess seine Familie zurück. In Missouri floh Sutter nach kurzer Zeit wieder vor einem Gerichtstermin und Gläubigern und kam 1839 in Kalifornien an, das damals von Mexiko beherrscht wurde. Auf den 200 Quadratkilometern Land nördlich von San Francisco, das er vom Gouverneur zugeteilt erhielt, gründete der Schweizer die Kolonie Neu-Helvetien und liess von seinen indigenen Zwangsarbeitern ein Fort bauen. Für den Landwirtschaftsbetrieb und für die Rückzahlung von Krediten versklavte Sutter Indigenenfamilien und verkaufte indigene Frauen und Kinder. Seine eigene Familie liess er 1849/50 aus der Schweiz kommen. 1848 fanden Indigene Gold auf Sutters Land, was einen enormen Zuzug von europäischen Siedlern bewirkte; Sutter verlor die Kontrolle über den Grossteil seines Landes. 1865 fiel seine Farm einem Brandanschlag zum Opfer. In dieser Zeit versuchte es Sutter in der Politik und der kalifornischen Miliz, was ihm den Titel «Major General» (etwa: Oberstdivisionär) eintrug. Johann August Sutter führte vergebens Prozesse für die Rückgabe seines Landes und starb 1888 in Washington D.C.