Wenn «Tiktok» zur Beratungsstelle wird
18.11.2025 Baselbiet, Region, BaselbietWarum Jugendliche psychische Themen auf «Tiktok» verarbeiten – und welche Risiken das birgt
«Tiktok» schafft Nähe, birgt aber auch Gefahren: Medienpsychologin Ronia Schiftan erklärte an einer Orientierungsveranstaltung aus der Reihe «Wie ...
Warum Jugendliche psychische Themen auf «Tiktok» verarbeiten – und welche Risiken das birgt
«Tiktok» schafft Nähe, birgt aber auch Gefahren: Medienpsychologin Ronia Schiftan erklärte an einer Orientierungsveranstaltung aus der Reihe «Wie geht’s dir?», wie Jugendliche in den Sozialen Medien Rat zu mentalen Themen suchen.
Wendy Maltet
«Wie geht’s dir?» fragte eine Veranstaltungsreihe in der Kantonsbibliothek Baselland am Donnerstag ein weiteres Mal. Unter dem Titel «Zwischen toxisch, narzisstisch, Trigger und AD(H)S – wie sich Jugendliche mit dem Thema psychische Krankheit auf Social Media auseinandersetzen», sprach die Medienpsychologin Ronia Schiftan darüber, weshalb Jugendliche auf Plattformen wie «Tiktok» nach Antworten auf psychische Fragen suchen – und welche Chancen und Risiken dies birgt.
Die Reihe wird gemeinsam von der Kantonsbibliothek Baselland, der Gesundheitsförderung Baselland und der Psychiatrie Baselland organisiert und möchte die Bevölkerung für einen offenen Umgang mit psychischer Gesundheit sensibilisieren in einer Lebensphase im Ausnahmezustand
Um die Dynamik zwischen Jugendlichen und Social Media zu verstehen, müsse man die Jugendzeit selbst betrachten, erklärte Schiftan zu Beginn. Diese Phase sei «eine per se anstrengende Lebensphase», in der körperliche, soziale und emotionale Veränderungen gleichzeitig stattfinden. Hormonelle Umstellungen, erste romantische Erfahrungen, ein oft wechselnder Freundeskreis, der Übergang von der Schule in die Lehre sowie das Bedürfnis, sich vom Elternhaus abzulösen – all dies pralle in kurzer Zeit aufeinander.
Jugendliche bauten in diesen Jahren ihre «Säulen der Stabilität» auf: Freundschaften, Hobbys, schulische oder berufliche Orientierung und Identität. «Soziale Zugehörigkeit ist in dieser Phase zentral – und sie findet heute nicht mehr nur offline statt», sagt Schiftan. Wo früher Eltern oder enge Freundinnen und Freunde die ersten Ansprechpersonen waren, ist es heute häufig die digitale Welt, die schnelle Antworten verspricht.
Wie ernst die Lage hinsichtlich mentaler Gesundheit ist, zeigen die Daten, die Schiftan präsentierte. Pro Juventute spricht dabei von einer «Multikrise». Die Pandemie habe diese Entwicklungen zusätzlich verstärkt: «Corona hatte einen Brennglaseffekt – dort, wo bereits Belastung vorhanden war, wurde es noch schwieriger», erklärt sie.
Eine Unicef-Studie von 2021 zeigt: 37 Prozent der befragten Jugendlichen gaben an, psychische Probleme zu haben. 8 Prozent aller Befragten berichteten, bereits versucht zu haben, sich das Leben zu nehmen. Ein Drittel fühlte sich minderwertig. Besonders problematisch: 29,1 Prozent sprechen nicht über ihre Schwierigkeiten – aus Scham, aus Angst vor Reaktionen oder weil sie Hilfsangebote nicht kennen. Genau an diesem Punkt setzen Soziale Medien an: Sie wirken vertraut, niedrigschwellig – und versprechen Orientierung.
Warum «Tiktok» Orientierung gibt
Soziale Medien bedienen wesentliche menschliche Grundbedürfnisse: nach Zugehörigkeit, nach Kontrolle, nach Selbstwirksamkeit und nach Orientierung. Wer nach dem Gefühl fragt «Was ist los mit mir?», findet dort oft schnell Menschen, die ähnliche Erfahrungen schildern – häufig in direkt verständlicher Sprache, humorvoll, alltagsnah und ohne akademische Distanz. Das schafft Nähe und senkt die Hemmschwelle, sich mit eigenen Ängsten auseinanderzusetzen.
Doch Schiftan betont auch die problematische Seite dieser Entwicklung: Ein zentrales Risiko liegt in den Algorithmen der Plattformen. Wer einmal Inhalte zu Angst, Trauma oder ADHS anklickt, erhält fortlaufend ähnliche Videos. «Man landet rasch in einer sehr engen Themenwelt», so Schiftan. Das könne den Eindruck verstärken, dass jede Unsicherheit ein Hinweis auf eine Diagnose sei.
Hinzu komme die inflationäre Nutzung psychologischer Begriffe. «Aus einer Unsicherheit wird eine Angststörung, aus Stress ein Burnout, aus einem unangenehmen Verhalten ein Narzisst», sagt Schiftan. Diese unscharfe Verwendung führe zu einer «Pathologisierung normalen Erlebens» – also dazu, alltägliche Gefühle vorschnell als krankhaft zu deuten.
Ein weiterer Faktor: Jugendliche vertrauen Influencern oft stärker als Fachpersonen. Grund dafür sind parasoziale Beziehungen – das Gefühl von Nähe, das entsteht, wenn man jemandem über Wochen oder Monate folgt. Fachpersonen wirken im Vergleich dazu häufig distanzierter oder zu komplex. Influencer hingegen reduzieren Komplexität und sprechen die Sprache der Jugendlichen. Das mache Inhalte zugänglich, könne aber auch zu Fehldeutungen führen.
«Wir müssen mit ihnen und nicht gegen sie denken», so Ronja Schiftan über Social-Media-Plattformen wie «Tiktok». Was also tun? Sie rät von einfachen Antworten ab. Weder sei es sinnvoll, Soziale Medien zu romantisieren, noch, sie zu verteufeln. Vielmehr müsse man lernen, mit diesen Plattformen umzugehen. «Lassen Sie sich einen Abend von den Inhalten, die Ihnen angezeigt werden, berieseln. Sehen Sie, wie die Plattformen auf Sie wirken», empfiehlt sie den Eltern und Fachpersonen im Publikum. Wer verstehe, wie «Tiktok» funktioniert, könne Jugendliche besser begleiten.
Psychische Erkrankungen würden durch Soziale Medien nicht ausgelöst, betont Schiftan zum Schluss der Veranstaltung noch einmal. Der grösste Stressfaktor sei nach wie vor der Leistungsdruck. Unterstützung funktioniere am besten durch vier Dinge: zuhören, eine verlässliche Bezugsperson sein, Hilfe holen, Druck rausnehmen.
