Wenn Scham in die Armut führt
06.02.2024 Bezirk Waldenburg, Finanzen, Region, LiedertswilAus dem Leben eines Betroffenen
Nicht weniger als 10 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz sind armutsgefährdet. Das Leben in Armut belastet enorm und läuft meistens im Verborgenen ab. Die Folgen sind gravierend, wie das Beispiel eines Oberbaselbieter Rentners zeigt.
...Aus dem Leben eines Betroffenen
Nicht weniger als 10 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz sind armutsgefährdet. Das Leben in Armut belastet enorm und läuft meistens im Verborgenen ab. Die Folgen sind gravierend, wie das Beispiel eines Oberbaselbieter Rentners zeigt.
Sander van Riemsdijk
Die Not steht ihm ins Gesicht geschrieben. Man sieht und spürt, dass es das Leben nicht gut mit ihm meint. Früher stand er noch auf der Sonnenseite des Lebens. Früher, das war noch vor seiner Pensionierung vor bald 20 Jahren und noch vor der Scheidung. Jetzt sitzt er – nennen wir ihn Willi – in seiner heruntergekommenen Wohnung in einem Oberbaselbieter Dorf und sagt gleich zu Beginn: «Sobald die Dämmerung einsetzt, wird es dunkel sein in der Wohnung. Dann sehen wir nichts mehr.»
Vor mehreren Wochen ist ihm der Strom abgestellt worden, da er die Rechnung nicht bezahlt hat. Das bedeutet kein Licht, kein Fernsehen, keinen Kühlschrank, kein warmes Wasser. «Ich zünde dann eben am Abend Kerzen an», sagt Willi emotionslos. Die Kerzen sind ihm gestern ausgegangen. Er behilft sich mit einer Taschenlampe bis die AHV in einigen Tagen überwiesen wird. «Dann wird es auch wieder für eine warme Mahlzeit reichen.»
Laut dem Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2021 fast 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung von Armut betroffen, viele sind armutsgefährdet. Oft ist die Armut nicht sichtbar. «Es sind die strukturellen Aspekte, die ausgeblendet werden», sagt Domenico Sposato, Geschäftsleiter der Caritas beider Basel. «Wenn jemand in seiner Berufstätigkeit ein Geringverdiener war, reichen im Pensionsalter die Einnahmen aus der AHV und der Pensionskasse kaum aus, um die Rechnungen zu bezahlen.» Ältere Menschen sind der Armutsgefährdung am stärksten ausgesetzt. Jede fünfte Person ist betroffen.
«Armut ist zwar nichts Neues», so Sposato. «Die grundsätzliche Problematik bei den Armutsbetroffenen ist jedoch die gesellschaftliche Akzeptanz.» Die Betroffenen wollen nicht als arm erkannt werden. «In unserer Gesellschaft herrscht die Meinung, wenn du arm bist, hast du etwas falsch gemacht», erläutert Sposato.
Am Abend, wenn es in der Wohnung dunkel ist, löst Willi im Schein der Taschenlampe Kreuzworträtsel. «Was will ich sonst machen?», fragt er resigniert. Ob er sich überlegt habe, Ergänzungsgelder anzufordern. «Nein, gar nicht», gibt er zur Antwort. Ob er denn nicht wisse, dass er darauf Anspruch hätte. «Es ist halt, wie es ist», antwortet er leicht verärgert und verwirft die Hände. Die Rolle des Bittstellers will er nicht annehmen. «Dann gibt es auch kein Gerede.»
Wer in die Armut rutscht, kommt schwer wieder heraus. Oft, weil die Personen nicht die Hilfe suchen, die sie benötigen, oder sich aus Scham zurückziehen und sich ihrem Schicksal ergeben. «Ich schlage mich auch so durch, es gibt Schlimmeres», sagt Willi. Was ihm mehr zu schaffen macht, ist die Einsamkeit, die manchmal nicht zum Aushalten sei. «Schön wäre es, wenn in der Wohnung einmal wieder eine Frauenstimme zu hören wäre und ich jemanden zum Reden hätte.» Immerhin: Was Willi wichtig ist und worauf er nicht verzichten möchte, ist seine Mitgliedschaft beim Jodlerverein. Die Probe besucht er einmal in der Woche.
Wann der Abstieg begann, weiss der über 80-Jährige nicht mehr so genau. «Ich möchte nicht darüber reden», sagt er zunächst und fängt nach einer kurzen Pause trotzdem an, seine Geschichte zu erzählen: Es ging abwärts, als ihn seine Frau verliess und das geordnete Leben mit zwei Kindern auf den Kopf gestellt wurde; als er plötzlich auf sich alleine gestellt war und die finanziellen Probleme immer grösser wurden.
«Will niemanden belästigen»
«Früher hatte ich ein Auto, mit dem ich im Nachbardorf einkaufen konnte. Eines Tages aber haben sie mir die Nummer weggenommen.» Jetzt nimmt er den Bus. Wenn er Glück habe, nehme ihn jemand auf dem Rückweg mit. «Ich war lange ein Optimist. Ich dachte, dass es irgendwie gut kommt.» Wie haben denn die Bekannten auf seine Situation reagiert? «Ich will niemanden mit meinen Sorgen belästigen. Es stört mich nicht mehr. So bin ich niemandem etwas schuldig.»
«Der Scham-Aspekt ist nicht zu unterschätzen», erklärt Domenico Sposato die Situation von Willi. «Es ist das Gefühl, dass man versagt hat.» Dieses Gefühl verhindere, jemanden um finanzielle Hilfe zu bitten, auf die man eigentlich Anrecht habe. Und diese Menschen verabschieden sich aus dem sozialen Leben, insbesondere im Alter, wenn die geistige und körperliche Gesundheit allmählich nachlassen. Wie bei Willi.
16 000 Menschen im Kanton sind arm
svr. Gemäss Armutsmonitoring gelten im Kanton Baselland rund 16 000 Menschen als arm (Stand 2019). Dies entspricht einer absoluten Armutsquote von 6,1 Prozent. Damit liegt sie deutlich unter dem Schweizer Wert (8,7 Prozent). Menschen im Rentenalter (7,9 Prozent) weisen überdurchschnittlich hohe Armutsquoten auf. Die Nichtbezugsquote von Sozialhilfe liegt im Kanton bei 37,6 Prozent, obwohl die Betroffenen rechnerisch gesehen darauf Anspruch hätten.