«Viele Angebote sind nicht wirksam»
20.11.2025 Baselbiet, GesundheitRemo Schraner will dabei helfen, den Umgang mit psychischen Erkrankungen zu verbessern
Im Interview spricht der Gelterkinder Remo Schraner, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Basel, über mentale Gesundheit von Jugendlichen. Er sagt, es brauche noch mehr ...
Remo Schraner will dabei helfen, den Umgang mit psychischen Erkrankungen zu verbessern
Im Interview spricht der Gelterkinder Remo Schraner, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Basel, über mentale Gesundheit von Jugendlichen. Er sagt, es brauche noch mehr Aufklärung.
Wendy Maltet
Herr Schraner, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit psychischer Gesundheit von Jugendlichen. Was bedeutet mentale Gesundheit für Sie persönlich? Remo Schraner: Für mich bedeutet dies, genügend Energie für das zu haben, was mir guttut – für soziale Kontakte, Ruhe und Wanderungen im Baselbiet. Fehlt diese Energie über längere Zeit, ist das für mich ein Zeichen, dass meine psychische Balance aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Viele Jugendliche fühlen sich psychisch belastet, suchen aber keine Hilfe. Woran liegt das?
Oft wissen die Jugendlichen nicht, an wen sie sich mit ihren Problemen wenden können und ein Gespräch mit den Eltern oder Gleichaltrigen kann zu schambehaftet sein. Es ist immer noch «ein Tabu», psychische Probleme zu haben und darüber zu sprechen. Darum ist es wichtig, dass Stigmata abgebaut werden und niederschwellige Anlaufstellen konstant sichtbar bleiben. Zum Beispiel die Schulsozialarbeit, das Gratistelefon der Pro Juventute 147 oder die Basler Walk-in-Ambulanz. Natürlich ist die Jugendzeit immer herausfordernd, ganz egal, ob sich eine psychiatrische Diagnose dahinter verbirgt oder nicht. So oder so ist es wichtig, sich Unterstützung zu holen.
Wie beurteilen Sie den Stand der Prävention in der Schweiz?
Ein aktueller Bericht zeigt, dass viele Präventionsangebote an Schweizer Schulen nicht wirksam sind, vor allem, wenn es sich um einmalige Massnahmen handelt. Dabei wissen wir, dass Prävention eher wirksam ist, wenn die Interventionen über einen längeren Zeitraum mehrmals wiederholt werden. Kurz gesagt: Wirksame Prävention von psychischen Erkrankungen braucht Geld und somit eine höhere politische Priorität. Nur so kann sie strukturell verankert werden und nachhaltig wirken.
Was wäre für Sie ein Effekt eines guten Präventionsprojekts?
Dass die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen weiter abnimmt. Obwohl man heute über psychische Gesundheit spricht, ist das Thema in vielen Betrieben noch ein Tabu. Vorgesetzte sind oft überfordert, wenn der oder die Lernende sagt: «Ich habe Depressionen.» Unternehmen und Arbeitnehmende sollten hier besser unterstützt werden. Denn nicht jede Depression führt zwangsläufig zu einer Arbeitsunfähigkeit von 100 Prozent. In Absprache mit der Person, der Ärzteschaft und dem Betrieb kann festgehalten werden, dass jemand weiterarbeitet, aber vorübergehend nur einen Teil der Leistung erbringt. Das ist oft ein Gewinn für alle: Der Arbeitgeber muss nicht vollständig auf die Person verzichten und das Weiterarbeiten gibt der Person eine Tagesstruktur, was den Erholungsprozess erleichtern kann.
Sie haben gesagt, die Jugendzeit sei immer herausfordernd. Wo liegt die Grenze zwischen Belastung und Erkrankung?
Um eine Erkrankung festzustellen, gibt es diagnostische Kriterien, etwa in der internationalen Krankheitsklassifikation ICD-11. Nur Fachpersonen sollten eine entsprechende Diagnose vornehmen. Eine Kombination aus Symptomen wird vor allem dann als Erkrankung gesehen, wenn subjektiv ein grosser Leidensdruck herrscht und eine Person ihr tägliches Leben nicht mehr gut bestreiten kann. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Jugend und vor allem die sogenannte Adoleszenz auch für psychisch stabile Personen enorm herausfordernd ist: Der Körper verändert sich, man löst sich vom Elternhaus, wechselt die Schule oder beginnt eine Lehre. Entscheidend ist hier, dass man ein unterstützendes Umfeld hat. Sei das in Form von Familie, Freunden, Fachpersonen oder einer Mischung von allem.
Wie kann man Jugendliche dabei unterstützen, frühzeitig Hilfe anzunehmen?
Indem man über das Thema spricht und somit die Hemmschwelle senkt und mit Vorurteilen aufräumt. Ich finde es schade, dass viele erst eine Therapie oder einen Klinikaufenthalt in Anspruch nehmen, wenn gar nichts mehr geht. Wer früh Hilfe erhält, braucht sie meist weniger lang und spart somit auch Gesundheitskosten. Das ist ein weiterer Grund, warum die Politik vorwärtsmachen muss, um genügend Therapieplätze zu schaffen und zu sichern.
Wie sehen Sie die Rolle der Sozialen Medien in diesem Zusammenhang?
Ambivalent. Social Media kann Verbindung, aber auch Druck schaffen. Persönlich habe ich «Tiktok» gelöscht und nutze «Instagram» nur beruflich.
Die Plattformen sind darauf ausgelegt, dass man sie möglichst lange nicht verlässt. Sie bieten Unterhaltung und kurzfristige Entspannung, aber sie können auch Energie rauben, wenn man dafür Dinge aufgibt, die guttun, wie Sport, Musik oder das Treffen mit Freunden.
Sie sind Co-Leiter des Forschungsprojekts «Voices in Youth Mental Health Research» an der Universität. Was steckt dahinter?
Das Projekt, das ich zusammen mit Prof. Dr. Ines Mürner-Lavanchy und Dr. Noemi Walder leite, läuft von Januar 2026 bis Dezember 2027 und untersucht, wie Jugendliche als gleichberechtigte Co-Forschende in Forschungsprozesse eingebunden werden können. Wir wollen mit Jugendlichen forschen, nicht über sie. Acht junge Menschen zwischen 14 und 18 Jahren begleiten zwei Jahre lang unsere Studien. Mit ihnen zusammen wollen wir Forschungsfragen formulieren, Studienmaterialien beurteilen und Ergebnisse verständlich kommunizieren. Die Jugendlichen werden geschult, entlöhnt und arbeiten auf Augenhöhe mit.
Warum ist dieser Ansatz so wichtig?
Weil wir als Forschende zwar Fachwissen haben, aber uns die Lebensrealität der Jugendlichen fehlt. Wenn sie mitbestimmen, wie und worüber geforscht wird, entstehen hoffentlich alltagsnahe Ergebnisse, die wiederum zu Präventionsangeboten führen können, die genutzt werden und wirksam sind.
Wie wird das konkret untersucht?
Wir prüfen, wie machbar und akzeptiert dieser Forschungsansatz ist – sowohl für die Jugendlichen als auch für uns Forschende. In gewissem Sinn werden wir selbst zum Untersuchungsgegenstand: Gemeinsam mit den Jugendlichen reflektieren wir, wo es Hürden gibt, wie Partizipation funktioniert und wo wir uns selbst anpassen müssen. Unterstützt werden wir dabei von einem «Advisory Board». Dieses hilft uns, blinde Flecken zu erkennen und die Brücke zur Praxis und breiten Öffentlichkeit zu schlagen.
Gibt es Vorzeigebeispiele?
Im Bereich mentale Gesundheit von Jugendlichen gibt es noch keine klaren Leitlinien, diese erhoffen wir uns durch dieses Projekt zu schaffen. Im angelsächsischen Raum und in der Medizin ist partizipative Forschung etwas weiter verbreitet, oft jedoch mit Erwachsenen.
Was wünschen Sie sich langfristig vom Projekt?
Dass wir einen möglichen Weg aufzeigen können, wie Forschung auf Augenhöhe mit Jugendlichen gelingen kann. Und dass wir es schaffen, die akademische Welt ein klein wenig zugänglicher zu machen.
Zur Person
vs. Remo Schraner arbeitet im Bereich «Youth Mental Health» an der Fakultät für Psychologie der Universität Basel. Die Abteilung widmet sich der Forschung und Lehre im Bereich der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie.

