«Sobald du als Frau für dich einstehst, bist du schnell eine 'Diva'»
14.08.2025 Bezirk Sissach, Kultur, SissachSchauspielerin Sarah Spale (44) über starke Frauen, anspruchsvolle Rollen und das Muttersein
Die Basler Schauspielerin Sarah Spale gastiert derzeit mit dem Theaterstück «Medea» auf dem Nebiker-Areal in Sissach (siehe Beitrag rechts). Im Gespräch erzählt ...
Schauspielerin Sarah Spale (44) über starke Frauen, anspruchsvolle Rollen und das Muttersein
Die Basler Schauspielerin Sarah Spale gastiert derzeit mit dem Theaterstück «Medea» auf dem Nebiker-Areal in Sissach (siehe Beitrag rechts). Im Gespräch erzählt sie, wie sie sich extremen Figuren nähert, was sie von ihren Rollen lernt und dass starke Frauen noch immer misstrauisch beäugt werden.
Melanie Frei
Frau Spale, Sie sind einem grossen Publikum bekannt. Das in Sissach ist eher klein. Freuen Sie sich dennoch auf die Auftritte?
Sarah Spale: Klar, ich vergleiche kein Publikum, auch nicht die Grösse meiner Projekte. Im Voraus kann ich nicht sagen, ob mir der Auftritt gelingen wird, aber ich gebe immer alles und lasse mich auf das Jetzt ein. Mich interessieren der Moment, der Prozess, die Charaktere und die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Ich freue mich auf die Arbeit. Und «Medea» in Sissach ist genauso intensiv wie ein Filmprojekt, das ein grösseres Publikum erreicht.
Sie verkörpern häufig starke, vielschichtige Frauenfiguren – von der Kriminalkommissarin Rosa Wilder bis zur drogenabhängigen Mutter in «Platzspitzbaby». Finden diese Rolle Sie, oder suchen Sie gezielt nach solchen Figuren?
Sie finden mich. Ich bin darauf angewiesen, dass jemand etwas in mir sieht, was ich mir selber nicht zutraue oder nicht sehe. Für die Rolle der Medea hat mich Kaspar Geiger angefragt. Durch sein Vertrauen wage ich mich auf das Glatteis und mache mich auf den Weg, auf die Suche nach dieser Figur. Die Lust, eine Figur zu entdecken, ist zum Glück immer stärker als die Angst davor, zu scheitern.
Wie sehr unterscheiden Sie sich als Person von den Charakteren, die Sie spielen? Oder verschwimmen da manchmal die Grenzen?
Natürlich unterscheide ich mich von meinen Figuren, aber ich lerne immer etwas von ihnen. Medea, eine Frauenfigur aus der griechischen Mythologie, weckt in mir das laut Sein. Sie nimmt sich Raum und ist radikal, sucht einen Weg in die Befreiung und ermächtigt sich selbst, tritt aus gesellschaftlichen Mustern aus, kämpft sich zurück in eine Handlungsfähigkeit. Ich geniesse es, mir als Medea diesen Raum zu nehmen. Das imponiert mir als Sarah. Mit meinen Figuren entdecke ich immer wieder, dass ich auch anders sein kann; lauter, wilder, sturer, roher. Das ist toll.
Gerade bei psychologisch anspruchsvollen Rollen: Arbeiten Sie mit einem Coach oder reflektieren Sie eher für sich allein?
Oft bin ich schon lange im Voraus «schwanger» mit einer Figur. Für eine Filmrolle bereite ich mich gern mit einer Mentorin vor. Für «Platzspitzbaby» oder «Hallo Betty», der im November in die Kinos kommt, habe ich mich mit Barbara Fischer vorbereitet. Für eine Theaterrolle gibt es den Probenprozess. Meistens proben wir etwa sechs Wochen. Mit Regie und im Ensemble tauschen wir uns viel aus. Es ist ein Prozess, Ideen werden gesponnen, ausprobiert, reflektiert, verworfen und übernommen. Medea trage ich seit einem Jahr mit mir herum. Der Text, den ich in einem Buch gebunden habe, nehme ich fast überall mit und notiere, was mich umtreibt, welche Gefühle und Gedanken ich dazu habe. Der Austausch mit anderen ist mir immer sehr wichtig, allein laufe ich Gefahr, in meinem eigenen Kreis zu bleiben. Austausch bedeutet ja auch, sich auf neue Ansichten und andere Blickwinkel einzulassen.
In der neuen Produktion der Theatercompany «Texte und Töne» spielen Sie auf dem Nebiker-Areal Medea – eine der komplexesten Frauengestalten der griechischen Theatergeschichte. Wie bereiten Sie sich auf diese emotionale und moralisch ambivalente Figur vor?
Ich habe kein festes System. Seit Regisseur Kaspar Geiger mich vor etwa einem Jahr angefragt hat, lerne ich diese Figur kennen. Seither funktioniere ich wie ein Schwamm und sauge alles auf. Ich lese, ich schaue, ich taste mich geschichtlich und emotional an die Figur heran. Mein Textbuch ist vollgeschrieben mit Gefühlen und Gedanken. So arbeite ich bei jeder Rolle. Ich muss die Figur erleben und verstehen, und vor allem ist es mir wichtig, dass ich meine Figur gern habe. Für Medea stelle ich mir unter anderem die Fragen: Wie sehr gebe ich mich für und in der Liebe auf? Wo bleibe ich in der Aufgabe als Mutter ein Individuum? Was und wie stark bestimmt die Gesellschaft über mich und mein Sein? Medea gibt alles auf – ihre Heimat, ihre Identität. Was kann ich davon verstehen, und wo wehrt sich etwas in mir? Was bedeutet das Muttersein damals, heute, in unserer oder in einer anderen Kultur? Diese und weiter Fragen begleiten mich in der Vorbereitung.
In dieser neuen Version bleibt offen, ob Medea am Ende ihre Kinder tatsächlich tötet, anders als in der Originalfassung von Euripides um 431 v. Chr. Warum diese Unschärfe?
Es geht um die Selbstermächtigung einer Frau. Medea macht sich als Frau und Mutter wieder handlungsfähig. Hierbei ist die Frage interessant, wie handlungsfähig wir in der Mutterrolle damals und heute überhaupt sind? Medea, die auf radikale Art für ihr Überleben und ihre Freiheit kämpft, wird als Schreckensbeispiel verwendet. In der Sekundärliteratur wird sie oft als «Rabenmutter» gehandelt. Medea ist eine liebende Mutter. Die Frage stellt sich für mich, wie kann sie sich und ihre Kinder schützen? Wie kann sie für sich selbst einstehen und ihrer Rolle als Mutter gerecht werden? Wie können wir das?
Wie meinen Sie das?
Es geht nicht darum, dass Medea ihre Kinder nicht liebt. Sie kämpft sich aus einem Rollengefüge heraus – auf die radikalste Art. Wenn ich mir das bildlich vorstelle, sehe ich eine Löwin, die mit ihrem Baby vor einer Wüste steht. Keine Nahrung, keine Überlebenschance. Was macht sie? Sie legt das Kind unter einen Busch und geht allein weiter. Bei Tieren ist das klar. Medea weiss: Ich kann diese Wüste nur allein durchqueren. Sie kann nicht bleiben und auch nicht zurück in ihre Heimat. Überall wird sie verstossen. Wie weit geht der Schutz für die Kinder? Wie sehr ist sie gefangen in einem Muster. Das ist eine heikle, aber wichtige Diskussion. Es wäre toll, wenn unser Stück zu einer solchen Diskussion einlädt.
Wenn Sie als Mutter eine solche Figur spielen – geht Ihnen das nahe?
Natürlich. Aber ich ziehe Grenzen. Ich stelle mir nicht vor, dass es meine Kinder sind. Ich kann nachvollziehen, wie sehr das Muttersein die eigene Freiheit infrage stellt, die Grenzen neu setzt, wie viel es von einem verlangt. Ich bin selbst Mutter und nehme meine Gefühlswelt mit in die Figur.
Medea ist im griechischen Korinth eine Fremde, heimatlos und entwurzelt. Inwiefern thematisiert das Stück heutige Fragen rund um Migration und Integration?
Was bedeutet «Fremdsein»? Medea selbst nennt sich eine Barbarin, eine Frau, die weniger Wert und Rechte hat und weniger gesittet ist. Sie entspricht nicht dem herrschenden Standard. Das Verzweifeln, das Ausgewiesenwerden, das Keine-Heimat-Haben, die Angst davor, einer Willkür ausgesetzt zu sein – all das ist hochaktuell. Wie gehen wir mit Menschen anderer Herkunft um und wen bezeichnen und behandeln wir als weniger wert? Auch entscheiden im Stück Medea ausschliesslich Männerfiguren über das Schicksal dieser Frau. Ebenfalls eine Aktualität, die es nicht zu leugnen gilt. Ich finde es ein tolles, sehr modernes Stück, weil es sehr viele Ebenen anspricht.
Sie haben selbst eine Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen, wie man lesen konnte.
Ja. Vor Kurzem erst ist meine Gasttochter ausgezogen. Vor sechs Jahren kam sie zu uns. Sie konnte hier eine Ausbildung machen und hat – nach einem langen Kampf – eine offizielle Aufenthaltsbewilligung erhalten. Jetzt ist sie so weit, dass sie selbstständig wohnen kann. Die Schweiz ist für sie zur zweiten Heimat geworden und ich denke, sie ist eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.
Hat Ihr persönliches Engagement Ihren Zugang zur Figur Medea verändert?
Diese Erfahrung hat mein Verständnis geschärft für das, was sich nicht einfach in «richtig» oder «falsch» einteilen lässt. Ich habe beobachtet, wie die Kultur einen Menschen prägt, wie tief das geht und wie wenig wir unsere Prägungen einfach abschütteln können. Aufgenommen zu sein in einem fremden Land heisst nicht automatisch, glücklich zu sein. Wir denken oft, die Schweiz sei das Nonplusultra, aber für viele ist das nicht so. Die meisten haben keine Wahl. Das Schweizer Wohlstandssystem ist nicht für alle eine Befreiung. Das Leben hier ist fremd und die Haltung «Sei doch dankbar, dass du da sein darfst» erzeugt Druck und ist nicht gerechtfertigt. Medea wird geduldet, aber nicht respektiert. Sie darf bleiben, wenn sie die Bedingungen, die sie selbst als nicht lebenswert empfindet, akzeptiert. Für Forderungen ihrerseits hat sie keine Rechte. Darin sehe ich Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft und unserem System. Das Kennenlernen einer anderen Kultur und das Miteinanderleben hat meinen Blick und mein Verständnis erweitert. Dafür bin ich dankbar.
In der modernen Inszenierung werden alle Rollen von Frauen gespielt – auch die Männerrollen. Verändert sich dadurch etwas auf der Bühne?
Auf jeden Fall. Die Männerfiguren werden zwar von Frauen gespielt, aber nicht plakativ. Es geht darum, die Energie der Figur zu verkörpern, nicht ihr Geschlecht. Ich nehme den Umgang auf der Bühne als sehr offen und respektvoll wahr. Wir sind Frauen unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Perspektiven und Zugängen. Das bereichert die Arbeit. Wir führen Diskussionen über Gender oder «Political Correctness». Denn das ist ein Diskurs, der uns alle betrifft. Übrigens ist es keine reine Frauenproduktion. Regie und Produktion, Technik und Bühnenbild sind Männer. Ich erlebe den gemeinsamen Austausch in dieser Produktion als sehr wertvoll und gegenseitig interessiert. Aber klar, auf der Bühne geniessen wir unser Frauenensemble.
«Die Angst vor der starken Frau» ist in «Medea» allgegenwärtig. Begegnet Ihnen das im Berufsleben? Sind Sie selber eine starke Frau?
In meinem Beruf, wo viele Entscheidungsträger Männer sind, begegne ich diesem Phänomen immer wieder. Es ist aber eine Bewegung dahin zu beobachten, dass wir Frauen uns untereinander immer mehr stützen und ein gutes Miteinander finden. In unserem Frauenensemble für «Medea» erlebe ich ein starkes Frauenteam. Ich finde es toll, dass Kaspar Geiger uns so zusammengebracht hat. Die Arbeit beruht auf gegenseitigem Verständnis und Respekt. Ich denke, ich kann sagen, dass wir sechs starke Frauen auf der Bühne sind.
Und wenn Sie als Frau im Alltag für sich einstehen?
Als arbeitende Frau und Mutter höre ich häufig «Wie machst du das mit den Kindern?» – eine Frage, die Männern nie gestellt wird. «Glücklich» sein als Frau unabhängig vom Muttersein wird immer noch misstrauisch beäugt. Die Vorstellung «Glück kommt doch aus der Familie» ist noch tief in der Gesellschaft verankert. Gerade darum denke ich, dass «Medea» ein modernes Stück ist. Die Rollen als Individuum, als Frau und als Mutter sind nach wie vor stark von Vorurteilen und genauen Mustern geprägt.
Emanzipierung ist ein wiederkehrendes Thema in Ihren Rollen. Bringen Sie diese Haltung mit nach Hause?
Ich komme nicht nach Hause und sage: «Jetzt hört mal her, ich sage euch jetzt, was Emanzipation ist!» Aber natürlich kriegen meine Söhne mein Schaffen und mein Bemühen mit, mich aus gesellschaftlichen Mustern zu befreien. Es ist spannend und anspruchsvoll, zwei Jungs in der heutigen Zeit auf ihrem Weg zu begleiten. Die Welt sagt ihnen: «Sei stark», aber eben nicht so wie früher. Es ist eine neue Männlichkeit gefragt. Ich bin transparent, erzähle ihnen, was ich mache, wo ich Mühe habe, wie ich für mich einstehe. Das Gleiche wünsche ich mir für sie. Emanzipation betrifft sie als männlich gelesene Wesen genau so.
Sie haben eine Ausbildung als Primarlehrerin. Hilft Ihnen das im Schauspiel?
Vor der Ausbildung zur Primarlehrerin war ich schon im Theater und Film als Schauspielerin tätig. Die Pädagogik-Ausbildung war ein Wunsch nach einem offiziellen Abschluss und mit jungen Menschen zu arbeiten. Jede Arbeit und alles Erlebte helfen mir für das Schauspiel. Auch, dass ich Pizza-Kurierin war, in einer Küche als Kaltmamsell und in der Bäckerei gearbeitet habe. Das alles steckt in meinem Rucksack. Pädagogisch bin ich auf der Bühne nicht – da darf und soll ich unpädagogisch sein, provozieren, die Moral loslassen. Aber ja, je mehr ich erlebt habe, desto mehr kann ich meinen Figuren mitgeben.
Ihre bekanntesten Rollen sind eher schwere Figuren. Ist Sarah Spale auch in einer Komödie denkbar?
Ich habe auch schon in Komödien gespielt, unter anderem bei Theater Madame Bissegger in Bern und im «Fauteuil» in Basel. Komödie heisst ja nicht, dass die Figur keine Tiefe hat. Ich liebe es, wenn man in tragischen Momenten lachen oder in lustigen Momenten weinen kann. Die Figur des Clowns finde ich gerade deswegen sehr spannend. Das Menschsein mit allen Höhen und Tiefen interessiert mich. Ich lache sehr gern und mache Blödsinn.
Und was machen Sie, wenn Sie nicht auf der Bühne oder vor der Kamera stehen?
Ich bin gern draussen mit meinen Jungs, im Sommer gehen wir zelten, im Winter Ski fahren. Ich lese sehr gern, geniesse den Moment in einem Café, das Zeithaben. Ich beobachte gern. Und klar – ich bin Mutter. Dazu gehören Kochen, Hausaufgaben machen, Organisieren, präsent sein. Auch geniesse ich Zeit mit Freundinnen und Freunden, oder einfach das Alleinsein. Meine Arbeit erfüllt mich – da brauche ich gerade in Momenten wie jetzt, mit einem tollen Ensemble und kurz vor der Premiere, privat gar nicht allzu viel Programm.
Zur Person
mef. Sarah Spale wurde am 7. Dezember 1980 in Basel geboren, wo sie auch heute mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt. Nach der Matur spielte sie erste Rollen am Jungen Theater Basel. Sie studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim (D). In der Schweiz bildete sie sich zudem zur Primarlehrerin aus und arbeitet teilweise in einem Jugendzentrum. Bekannt wurde sie durch Rollen in «Nachtzug nach Lissabon», die SRF-Serie «Wilder» und den Film «Platzspitzbaby».