Sie wollen die Dorfbeizen retten
20.08.2024 Bezirk Sissach, Oltingen, GastronomieDas Beizensterben auf dem Land geht weiter. Vor diesem Hintergrund will ein neuer Verein schweizweit dafür sorgen, dass Dorfbeizen als oft einzige Treffpunkte erhalten bleiben. Als Erstes kümmert er sich um den «Ochsen» in Oltingen.
Andreas ...
Das Beizensterben auf dem Land geht weiter. Vor diesem Hintergrund will ein neuer Verein schweizweit dafür sorgen, dass Dorfbeizen als oft einzige Treffpunkte erhalten bleiben. Als Erstes kümmert er sich um den «Ochsen» in Oltingen.
Andreas Hirsbrunner
Ein kürzlich erfolgter Handelsregistereintrag lässt aufhorchen: In Oltingen wurde der Verein Kulturgut Dorfbeiz gegründet mit dem Zweck, die Tradition und Kultur der Gasthöfe in ländlichen und peripheren Regionen der Schweiz zu erhalten und weiterzuentwickeln. Präsident ist der Basler Architekt Heini Dalcher (70) mit Wurzeln in Sissach, der in der Gastro-Szene vor allem als Mitbesitzer des vor einem halben Jahr geschlossenen «Rösslis» in Oberdorf und als Initiant einer erfolgreichen Wiederbelebung des heruntergewirtschafteten Kurhauses im bündnerischen Bergün bekannt ist.
Wohin zielt Dalcher mit dem neuen Verein? Geht es in erster Linie ums «Rössli» in Oberdorf oder – darauf lässt der Vereinssitz schliessen – um den «Ochsen» in Oltingen oder um etwas ganz anderes?
Mit dem «Ochsen» liegt man nicht falsch, zumindest vordergründig. Dalcher erklärt: «Die Gastronomie hat nach Covid eine Talsohle erreicht mit Umsatzeinbrüchen, aufgebrauchten Reserven und der belastenden Auflage, die Covid-Kredite zurückzuzahlen. Das macht die Lage für Wirte als Einzelkämpfer sehr schwierig. Wir haben uns überlegt, was es braucht, damit Dorfbeizen als sozialer Treffpunkt überleben können.» Klar sei, dass es sich dabei um eine übergeordnete Aufgabe handle, bei der es Trägerschaften brauche und auch die Gemeinden gefragt seien.
Und Mirjam Hildbrand (37), Kulturwissenschaftlerin und Vorstandsmitglied, ergänzt: «Die Konkurse sind in der Gastronomie nach Covid deutlich angestiegen. Viele Dorfbeizen können nicht einmal mehr eine schwarze Null schreiben oder nur mittels grosser Selbstausbeutung.» Aber das Beispiel Oltingen zeigte: Betriebe wie der «Ochsen» und der Dorfladen, dessen Situtation ebenfalls nicht rosig ist, würden für Lebendigkeit sorgen. «Müssten sie schliessen, entstünden langfristig soziale Kosten, die sich nur schwer oder gar nicht in Geldbeträgen beziffern liessen.»
Mittagstische für Junge und Alte
Beim «Ochsen» in Oltingen setzt denn der neue Verein Kulturgut Dorfbeiz auch als Erstes an: Er hat die Pacht der Beiz übernommen und den ehemaligen Pächter Markus Stocker angestellt. So muss sich dieser nicht mehr als Einzelkämpfer durch den sehr volatilen Alltag schlagen – an einem Tag volles Haus, am nächsten kaum ein Gast –, sondern hat einen mitdenkenden und -lenkenden Trupp in seinem Rücken.
Dabei ist der «Ochsen» in einer relativ privilegierten Situation: Die Kultbeiz ist weit über den Dorfrand von Oltingen hinaus bekannt. Das hat auch damit zu tun, dass ein Förderverein ein Kulturprogramm mit Konzerten und Theateraufführungen finanziell trägt. Hildbrand sagt: «Dank verschiedener Pfeiler ist der ‹Ochsen› derzeit gesichert. Aber es ist ein stetiges Experimentieren und Suchen danach, was funktioniert und was nicht.»
Neugierig macht Dalchers Äusserung, dass auch die Gemeinden im Zusammenhang mit dem Erhalt der Dorfbeizen gefragt seien. Er präzisiert auf Nachfrage: «Wir sind mitten im Prozess, abzuklären, wo es klemmt und mit welchen neuen Modellen Lösungen gefunden werden könnten. Aber wir wollen keine neuen Infusionsschläuche generieren und fordern nicht, dass die Gemeinden ihre Dorfbeizen subventionieren müssen.»
Die Dorfbeizen könnten aber in Zusammenarbeit mit den Gemeinden weitere soziale Funktionen übernehmen, etwa im Rahmen von Mittagstisch-Angeboten für Schüler oder Seniorinnen oder auch durch eine Nutzung der Räumlichkeiten für mobile Beratungsangebote. «Das würde den Beizen eine gewisse Grundauslastung garantieren», erläutert Dalcher. Er verweist auch auf die zunehmende Überalterung der Gesellschaft, die Treffpunkte wie die Dorfbeiz noch wichtiger machten.
Miserable Perspektiven
Kann denn der neue Verein bei Bedarf auch finanziell helfen? Hildbrand lächelt: «Wir haben null Kapital. Wir sind ein Think-Tank, der ehrenamtlich arbeitet.» Mit zum Team des Vereins gehört übrigens auch ein Wirtschaftsprüfer, der Traumtänzer, wie er manchmal einer sei, so Dalcher, wieder auf den Boden der Realität zurückhole.
Und er betont: «Wir haben das Rezept noch nicht, wir sind am Experimentieren. Aber die Perspektiven sind miserabel: Wenn man nichts macht, ist in zehn Jahren die Hälfte der Dorfbeizen weg.» Der Verein wolle im grösseren Rahmen bewusst machen, dass eine Dorfbeiz ein Kulturgut sei, in dem man den Herzschlag eines Orts noch spüre. Ein Mittel dazu seien auch Podiumsdiskussionen mit Leuten aus den verschiedensten Fachrichtungen, von der Soziologin bis zum Gastro-Experten. Und er schiebt nach: «Vielleicht scheitern wir auch und der Versuchsballon platzt, weil die Gesellschaft kein Interesse mehr an Dorfbeizen hat.»
Ob das künftige «Ochsen»-Modell auch aufs derzeit geschlossene «Rössli» in Oberdorf anwendbar ist, will Dalcher nicht ausschliessen. Klar ist für ihn, dass das in den vergangenen Jahren gut funktionierende «Rössli»-Modell mit einem Macher, der zugleich Wirt, Koch und Metzger war, ausgedient hat: «Im Moment ist das ‹Rössli› tot. Ich habe zwar etliche Anfragen von Glücksrittern, die es wiederbeleben wollen, aber ihre Konzepte haben mich nicht überzeugt. Wir müssen uns jetzt grundsätzlich überlegen, was wir mit diesem alten, traditionellen Gasthaus machen wollen.»
Eines steht immerhin fest: Die Lokalität mit ihren Sälen müsse verkleinert werden, sagt Dalcher. Von der Gemeinde habe er keine Signale erhalten, was von ihrer Seite her wünschbar sei.
Dass Dalcher mit neuen Wegen durchaus Erfolg haben kann, bewies er in Bergün. Dort bildete er vor 22 Jahren mit Gleichgesinnten verschiedenster Fachrichtungen eine Aktiengesellschaft. Diese kaufte das baulich und geschäftlich darniederliegende Jugendstil-Hotel und sanierte es umfassend. Heute, so sagt Dalcher, lebe das Kurhaus und sei gut ausgelastet. Eben erst seien bei einer Aktienkapitalaufstockung innerhalb weniger Monate über 1 Million Franken zusammengekommen. Mit diesem Geld wollen Dalcher und Co. das einst ebenfalls in weiten Kreisen abgeschriebene Kurhaus CO2-neutral ausrichten. Es ist also alles andere als abwegig, dass der neue Verein dem «Ochsen» und andern Dorfbeizen zu einer sichereren Zukunft verhelfen kann.