Schluss mit Bevorzugung des Oberbaselbiets?
24.01.2025 Baselbiet, Gemeinden, Gesellschaft, Region, Baselbiet, WahlenWird die kantonale Wahlrechtsreform an der Urne angenommen, darf der Bezirk Waldenburg voraussichtlich nur noch fünf statt wie heute sechs Landrätinnen und Landräte nach Liestal schicken. Im Wahlkreis selbst gehen die Meinungen darüber auseinander.
David ...
Wird die kantonale Wahlrechtsreform an der Urne angenommen, darf der Bezirk Waldenburg voraussichtlich nur noch fünf statt wie heute sechs Landrätinnen und Landräte nach Liestal schicken. Im Wahlkreis selbst gehen die Meinungen darüber auseinander.
David Thommen
Die Waldenburger FDP-Landrätin Andrea Kaufmann gibt rhetorisch viel Gas: «Schwerwiegende negative Folgen für das Oberbaselbiet und insbesondere für den Wahlkreis Waldenburg» prophezeit sie für den Fall, dass die Revision des kantonalen Wahlgesetzes am 9. Februar an der Urne angenommen wird. Ein Ja zur Revision würde für den oberen Kantonsteil «einen realen Einflussverlust» bedeuten.
Denn mit der Revision soll die bisherige Garantie von mindestens sechs Landratssitzen für alle zwölf Wahlkreise gestrichen werden – ein bisher wenig diskutierter Teilaspekt der Vorlage. Der kleinste Wahlkreis Waldenburg, so zeigen die Berechnungen, dürfte nach der Revision aufgrund seiner geringen Bevölkerungszahl künftig nur noch fünf statt sechs der 90 Landrätinnen und Landräte stellen. Kaufmann: «Die heutige Sechs-Sitze-Garantie ist ein zentraler Pfeiler des heutigen Systems und stellt sicher, dass auch kleinere Bezirke wie Waldenburg ihre Rechte im Landrat wahrnehmen können.» Ein Sitz weniger bedeute für das Oberbaselbiet, das sich auf kantonaler Ebene ohnehin nur schwer Gehör verschaffen könne, mehr als nur eine symbolische Schwächung: «Das ist alarmierend.» Das sagte Landrätin Kaufmann kürzlich gegenüber der «Volksstimme» und schrieb es auch in einem Leserbrief vom vergangenen Dienstag.
Eigennützige Argumentation?
Kenner der politischen Verhältnisse im Baselbiet mögen darüber geschmunzelt haben: Wehrt sich hier eine Politikerin vor allem deshalb gegen die Reform, weil ein Sitz weniger für den Wahlkreis Waldenburg ihrer eigenen Abwahl gleichkommen könnte? Tatsächlich hatte die FDP-Liste von Andrea Kaufmann bei den Landratswahlen 2023 nur den sechsten und damit letzten Sitz im Wahlkreis errungen. Würde die Wahlgesetzrevision an der Urne angenommen, dann ginge dieser Sitz bei der nächsten Landratswahl 2027 verloren, sofern die Parteistimmen gleich blieben.
Konkret hätten aufgrund einer Modellrechnung für die Wahlen 2023 die Wahlkreise Oberwil und Waldenburg je ein Mandat verloren und die Wahlkreise Münchenstein und Laufen je ein Mandat gewonnen, wäre die Reform bereits in Kraft gewesen.
Die bisherige Sechs-Sitze-Garantie soll laut der Vorlage der Landratsmehrheit – der Beschluss fiel mit 48 Ja gegen 37 Nein – aufgehoben werden, weil heute nicht alle Wählerinnen und Wähler im Kanton über die gleiche Stimmkraft verfügen. Vorab die Stimmberechtigten des Wahlkreises Waldenburg haben bei den Landratswahlen ein höheres Stimmengewicht als die Wählerinnen und Wähler anderer Wahlkreise. Ein Gutachten hat gezeigt, dass im Wahlkreis Waldenburg auf einen einzigen Landratssitz nur gerade 1878 Wählerinnen und Wähler kommen – im Wahlkreis Laufen am anderen Ende der Skala sind es mit 2278 Wählerinnen und Wählern ganze 400 mehr (der kantonale Durchschnitt liegt bei 2106). Zuvor war Sissach sogar auf 2312 Wählerinnen und Wähler pro Landratssitz gekommen und hatte deshalb kurz vor den letzten Wahlen zulasten des Unterbaselbiets einen siebten Sitz zugeteilt erhalten. Mehr als sechs Sitze sind bei entsprechendem Bevölkerungswachstum möglich, weniger als sechs hingegen nicht – egal, wie sich die Bevölkerung entwickelt.
Das Gutachten, das der Wahlreform zugrunde liegt, spricht aufgrund der hohen Differenz von einer «Verletzung der Stimmengleichheit». Dabei geht es nicht nur um den Wahlkreis Waldenburg, sondern auch um eine Übergewichtung des Wahlkreises Gelterkinden (mit 1928 Wählerinnen und Wählern pro Sitz), der – Stand heute – allerdings an einem Sitzverlust knapp vorbeikäme. In einem modernen demokratischen Wahlsystem erscheine die ungleiche Stimmengewichtung innerhalb des Kantons als «atypisch», heisst es im Gutachten. Atypisch könnte man auch mit «ungerecht» übersetzen.
Gewünschte Übergewichtung
Diese «Ungerechtigkeit» wurde bereits bei der Schaffung des heute geltenden Wahlgesetzes 1981 ausführlich thematisiert – und wurde im Sinne der Kohäsion des Kantons sogar gewünscht, wie ein Blick in die damaligen Landratsprotokolle zeigt.
Die Mütter und Väter des Gesetzes nahmen ausdrücklich in Kauf, dass die Wahlkreise Waldenburg und Gelterkinden mit der Mindestsitzgarantie mehr Gewicht erhalten als ihnen aufgrund ihrer Wählerzahl zusteht. «Die Einführung einer Mandatsgarantie ist eine logische Massnahme, um dem Mandatsverlust aufgrund der Bevölkerungsentwicklung im oberen Baselbiet entgegenzuwirken», sagte damals FDP-Sprecher Matthias Rapp (Muttenz). Die Bevölkerungsvielfalt im Baselbiet könne nur zum Ausdruck gebracht werden, wenn auch eigentlich zu kleine Gebiete Anspruch auf eine Mindestsitzgarantie hätten. Die Abkehr vom Prinzip «ein Bürger, eine Stimme» sei seiner Partei zwar nicht leicht gefallen, «aber ein solches Zugeständnis ist sicher gerechtfertigt». Die Bevölkerung im Unterbaselbiet war zuvor deutlich stärker gewachsen als im Oberbaselbiet.
LDU-Vertreterin Jacqueline Guggenbühl sagte laut Protokoll: «Es ist richtig, dass versucht wird, Regionen, die sich untervertreten fühlen, zu stärken.» Rechtlich ist eine solche Ungleichgewichtung auch heute noch in beschränktem Mass zulässig, wie das Bundesgericht erst in jüngerer Vergangenheit entschieden hat. Man fühlt sich an die vollwertige Standesstimme auch kleiner Kantone in der Eidgenossenschaft bei Abstimmungen erinnert – die reine Arithmetik ist in der Demokratie nicht immer das Mass aller Dinge.
Gegen die Verletzung der mathematischen Logik wehrten sich 1981 vorab linke Politikerinnen und Politiker. Florianne Koechlin von der POCH sagte: «Wir sind gegen eine Mindestgarantie, die das untere Baselbiet massiv benachteiligt.» Koechlin scheiterte mit ihrem Anliegen. Auch der damalige Landrat und spätere FDP-Regierungsrat Hans Fünfschilling wollte eine Bevorzugung des Oberbaselbiets verhindern: «Ich sehe nicht ein, weshalb die Stimme eines Stimmbürgers im Wahlkreis Gelterkinden mehr Gewicht haben soll als die eines Stimmbürgers im Wahlkreis Arlesheim», sagte er 1981 im Parlament. Fünfschilling unterlag mit seinem Vorstoss für eine Gleichbehandlung aller Wahlkreise jedoch ebenfalls: Die Übergewichtung der Oberbaselbieter Stimmen erfolgte damals also sehenden Auges.
«Zentraler Pfeiler» oder unfair?
Die heutige FDP-Landrätin Andrea Kaufmann spielt sinngemäss auf die damaligen Überlegungen an, wenn sie sagt, dass die garantierten sechs Sitze auch für (zu) kleine Wahlkreise «ein zentraler Pfeiler des heutigen Systems» seien. Es werde damit sichergestellt, dass bei regionalpolitisch relevanten Vorlagen die Stimme auch kleinerer Bezirke im Landrat hörbar bleibe. Und Kaufmann weiter: «Es ist für mich absolut unverständlich, wie die von den Wählerinnen und Wählern des Bezirks Waldenburg gewählten Landrätinnen und Landräte diese Schwächung einfach hinnehmen können.»
Wen Kaufmann damit meint, ist klar: Andrea Heger (EVP, Hölstein), Simon Tschendlik (Grüne, Bubendorf) sowie Urs Roth (SP, Niederdorf). Sie alle wurden im Wahlkreis Waldenburg in den Landrat gewählt und setzen sich für die Wahlrechtsreform ein. Handeln sie damit gegen die Interessen ihres Wahlkreises?
Heger, Roth und Tschendlik widersprechen. Die Wahlrechtsreform beseitige nicht nur das bisher «eklatant unfaire Abbild der Parteistärken», sondern auch die ungerechte Repräsentation der Bevölkerung, sagt Andrea Heger. Die Sechs-Sitz-Garantie sei «aus demokratiepolitischer Sicht heikel». Dass mit der Neuerung ein Mandat aus dem Wahlkreis Waldenburg abwandern dürfte, müsse hingenommen werden, sagt Heger und weist darauf hin, dass der Sitzverlust auch die EVP und damit sie selbst treffen könnte. Die lokale Verankerung im Landrat bleibe allerdings auch mit der Reform erhalten und insgesamt seien die zu erwartenden Verschiebungen im Kanton nur gering. Zudem habe der Wahlkreis Sissach seit dieser Legislatur einen zusätzlichen Sitz – das Oberbaselbiet werde also nicht geschwächt.
Gleich argumentiert Simon Tschendlik, der zwar im Bezirk Liestal wohnt, aber im Wahlkreis Waldenburg gewählt wurde: «Sissach wurde erst kürzlich ein zusätzlicher Sitz zugesprochen. Das Argument, dass das Oberbaselbiet schlechter vertreten ist, kann also klar widerlegt werden.» Wie Heger weist er darauf hin, dass auch er ein «Reform-Opfer» werden könnte: «Als Vertreter der Grünen, einer kleineren Partei, trage ich selbst das Risiko, durch die Wahlrechtsreform nicht mehr gewählt zu werden.» Solche persönlichen Überlegungen müssten aber klar in den Hintergrund treten. Wichtig sei einzig, dass «jede Stimme gleichwertig zählt und die Bevölkerung des ganzen Kantons gerechter repräsentiert wird».
Roth: «Gravierende Mängel»
Der Niederdörfer SP-Landrat Urs Roth macht gegenüber der «Volksstimme» geltend, dass das heutige Wahlgesetz insgesamt gravierende Mängel aufweise: Im schweizweiten Vergleich liege das Baselbiet bei der Abbildung der Parteistärken im Parlament auf einem der hintersten Plätze. Mit dem nun gewählten Doppelproporz könne dieses Manko weitgehend behoben werden – ohne den lokalen und regionalen Bezug der Parlamentarier aufzugeben. Auch Roth weist darauf hin, dass die Sitzverschiebungen marginal bleiben dürften. Es sei zwar richtig, dass der Bezirk Waldenburg wegen der Übervertretung einen Sitz verliere, aber «deshalb auf eine gute Reform zu verzichten, halte ich für demokratiepolitisch falsch, ja bedenklich».
Die beiden SVP-Vertreter aus dem Wahlkreis Waldenburg sprechen sich wie ihre Partei gegen die Reform aus. Für Matthias Ritter (Diegten) ist allerdings noch nicht in Stein gemeisselt, dass sein Wahlkreis Federn lassen muss: «Es ist nicht sicher, dass wir tatsächlich einen Sitz verlieren. Die Bevölkerungszahlen im Waldenburgertal entwickeln sich positiv, was für 2027 sicher eine bessere Ausgangslage ist.» Generell könne es aber «ganz sicher nicht im Interesse des Oberbaselbiets sein, sich selbst zu schwächen, um das Unterbaselbiet zu stärken», so Ritter.
Und auch SVP-Landrat Michel Degen (Liedertswil) machte kürzlich in einer «Carte blanche» in der «Volksstimme» klar, dass er den neuen Doppelproporz allein nicht für die reine Lehre hält: «Die Garantie von sechs Sitzen pro Wahlkreis wurde erst 1981 eingeführt, um die Randregionen zu stärken», so Degen. Dieses System habe sich bewährt.
Beim Entscheid vom 9. Februar geht es in einem Teilaspekt also auch um die Frage: Gleiches Stimmengewicht für alle im Kanton oder weiterhin eine politisch gewollte Aufwertung des ländlichen Oberbaselbiets via Wahlrecht?
Parteistärken sollen besser abgebildet werden
tho./sda. Bei der Wahlrechtsreform handelt es sich um eine Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte (GPR). Sie sieht die Einführung des Doppelproporzes vor. Das neue System soll bei einer Annahme erstmals bei den Landratswahlen 2027 zur Anwendung kommen.
Ziel der Teilrevision ist es, die Parteistärken im Landrat besser abzubilden, ohne – wie bei den Nationalratswahlen – die Wahlkreise und damit den lokalen Bezug der Parlamentarierinnen und Parlamentarier aufzugeben. Zudem, und dies war die Hauptmotivation für die Anpassungen, sollen mit der Revision die schwer erklärbaren Sitzsprünge zwischen den Wahlkreisen reduziert werden. Solche Sitzsprünge waren in der Vergangenheit innerhalb der vier Wahlregionen mehrfach aufgetreten. Die Revision sieht vor, in Zukunft auf die Wahlregionen zu verzichten.
Ob der Wahlkreis Waldenburg bei einem Ja zur Reform ab 2027 tatsächlich einen Sitz verliert, steht heute noch nicht fest: «Das wissen wir erst ein Jahr vor dem effektiven Wahltermin. Die Anzahl Landratssitze pro Wahlkreis wird dann aufgrund der Anzahl Stimmberechtigten pro Wahlkreis festgelegt», teilt der 2. Landschreiber und Regierungssprecher Nic Kaufmann auf Anfrage mit.
Für die Reform setzen sich Links-Grün sowie EVP und GLP ein. Vor allem die kleinen Parteien könnten von der Einführung des Doppelproporzes profitieren, so die Vermutung – dies auf Kosten der grossen Parteien. Eine Modellrechnung mit den Resultaten der Landratswahlen 2023 zeigt jedoch, dass sich an der Parteienstruktur im Landrat eher wenig ändern dürfte. SVP und FDP wehren sich gegen die Reform: Das neue Wahlgesetz bringe kaum Verbesserungen gegenüber heute. Die schwer erklärbaren Sitzsprünge zwischen den Wahlkreisen würden zwar reduziert, aber nicht eliminiert. Die Revision des Wahlgesetzes lohne sich daher nicht.