«Rollenbilder sind stark verankert»
22.05.2024 Baselbiet, Kultur, Gemeinden, Gesellschaft, BaselbietIris Graf, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung, im Gespräch
Während Frauen weiterhin weniger verdienen als Männer, können diese ihre Arbeitspensen schwieriger senken. Für Iris Graf, Leiterin der kantonalen Fachstelle für Gleichstellung, braucht ...
Iris Graf, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung, im Gespräch
Während Frauen weiterhin weniger verdienen als Männer, können diese ihre Arbeitspensen schwieriger senken. Für Iris Graf, Leiterin der kantonalen Fachstelle für Gleichstellung, braucht es zudem mehr Massnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und zur Unterstützung der LGBTIQ-Community.
Melanie Frei
Frau Graf, wo stehen wir im Kanton punkto Gleichstellung in der Berufswelt?
Iris Graf: Im Vergleich zu vor 40 Jahren hat sich in der gesamten Schweiz die Gleichstellung in der Berufswelt verbessert, es bleibt aber auch noch viel zu tun. Auch im Baselbiet: Frauen sind heute gleich gut ausgebildet wie Männer und viel häufiger berufstätig als früher. Es gibt auch sehr viel mehr familienergänzende Kinderbetreuungsmöglichkeiten als früher, wobei die Situation in den Gemeinden unterschiedlich gut ist. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf variiert je nach Betrieb stark. Und es werden immer wieder Fälle von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Arbeitsleben an uns herangetragen. Was ausserdem auffällig ist: Frauen arbeiten sehr viel häufiger Teilzeit als Männer, auch in tiefen Pensen.
Frauen arbeiten häufig Teilzeit, weil sie Kinder und ältere Familienmitglieder betreuen. Woran liegt es noch?
Es hat auch damit zu tun, dass es für Männer manchmal schwierig ist, ihr Pensum zu reduzieren.
Warum?
Traditionelle Rollenbilder sind in unserer Gesellschaft immer noch stark verankert. Familien- und Hausarbeit werden nach wie vor in erster Linie von Frauen übernommen. Viele Männer möchten ihr Erwerbspensum zwar reduzieren, zum Beispiel wenn sie Väter werden. In der Realität arbeiten aber die meisten weiterhin in einem Vollzeitpensum. Zum Teil unterstützen Arbeitgebende keine Pensenreduktionen oder Männer befürchten Nachteile für ihre Karriere. Auch hier spielen Rollenbilder mit: Bei Männern gilt es als weniger selbstverständlich, dass sie Betreuungsarbeit übernehmen und dafür ihr Pensum reduzieren als bei Frauen.
Verdienen Männer immer noch besser als Frauen? Weshalb?
Ja. Männer verdienen mehr als Frauen – auch im Baselbiet. Das liegt zum Teil daran, dass Frauen häufiger in schlecht bezahlten Branchen tätig sind, seltener Führungspositionen bekleiden und – vor allem die älteren berufstätigen Frauen – teilweise eine kürzere Ausbildung absolviert haben. Es gibt jedoch auch Lohnunterschiede, die sich nicht durch Merkmale wie Ausbildung oder Berufserfahrung erklären lassen. Da muss genau hingeschaut werden, ob es sich um eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts handelt.
Warum sind noch immer deutlich weniger Frauen in Führungspositionen als Männer?
Führungspositionen sind häufig Vollzeitstellen und erlauben es nicht, Beruf und Familie zu vereinbaren. Deshalb ist es für viele Frauen schwierig, in eine Führungsposition aufzusteigen, während sie zu Hause Betreuungsarbeit übernehmen. Immer wieder passieren wichtige Karriereschritte auch in einer Zeit, wenn Frauen Kinder bekommen und eine Familienpause einlegen oder tiefprozentig arbeiten. Das Gleiche gilt auch für Männer, die viel Betreuungsarbeit übernehmen. Männer mit geradlinigem Lebenslauf haben diese Schwierigkeiten weniger. Und manchmal trauen Vorgesetzte Frauen oder die Frauen auch sich selbst eine Führungsposition nicht zu, auch wenn sie eigentlich dafür geeignet wären. Dabei geht ein grosses Potenzial an guten Führungspersonen verloren.
Funktioniert die Zusammenarbeit von Mann und Frau im Berufswesen?
Auf jeden Fall! Gemischte Teams arbeiten sogar produktiver, das zeigen mehrere Studien. Und viele Menschen arbeiten gerne mit Frauen und mit Männern zusammen, nicht nur mit Menschen des eigenen Geschlechts.
Womit beschäftigen Sie sich als Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung für Frauen und Männer?
Ich habe sehr vielseitige Aufgaben. Wir beraten zum Beispiel Personen, die sich mit Diskriminierungserfahrungen oder allgemein Fragen zur Gleichstellung an uns wenden. Es geht dabei um Themen wie Lohn, Belästigung oder Diskriminierung am Arbeitsplatz, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie innerhalb eines Unternehmens ist manchmal auch ein Anliegen der Personen, die sich bei uns melden. Vor Kurzem haben wir die Plattform «Job&Life» zu diesem Thema lanciert. KMU finden dort Tipps und Tricks, um die Vereinbarkeit im eigenen Betrieb voranzubringen. Ein anderes wichtiges Projekt ist der Zukunftstag, wo Jugendliche einen Beruf schnuppern können, in dem das eigene Geschlecht untervertreten ist. So können sie ein Berufsfeld kennenlernen, das sie sonst vielleicht nicht in Betracht ziehen würden und erweitern damit ihren Horizont in der Berufswahl. Ausserdem sind wir kantonsintern für die Gleichstellung in der Verwaltung verantwortlich.
Was sind die häufigsten Themen, mit denen Sie konfrontiert werden?
Wir beschäftigen uns mit vielen verschiedenen Gleichstellungsthemen. Bei den Beratungen sind es häufig sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Lohn und geschlechtergerechte Sprache. Rund 60 Prozent aller Frauen sind schon einmal sexuell belästigt worden und auch Männer sind betroffen. Sexuelle Belästigung ist deshalb ein sehr wichtiges Thema. Nicht selten werden solche Übergriffe nicht gemeldet, aber sie passieren tagtäglich. Darum sind auch Arbeitgebende durch das Gesetz verpflichtet, präventive Massnahmen zu ergreifen. Ein respektvoller Umgang untereinander ist unabdingbar. Andere wichtige Themen sind Berufswahl, unbezahlte Betreuungsarbeit und Altersvorsorge. Ein Beispiel aus unserem Alltag: Einmal hat sich eine Frau bei uns gemeldet, die eine Führungsposition bekleidete. Sie wurde schwanger und als sie aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam, musste sie feststellen, dass ihre alte Arbeitsstelle vergeben war. Sie war nur noch für eine Stelle ohne Führungsfunktion vorgesehen. Auch mit solchen Fällen haben wir zu tun. Wir beraten diese Personen und informieren sie über ihre Optionen.
Welche Rolle spielt bei Ihrer Arbeit die LGBTIQ-Thematik?
Schwule, lesbische und bisexuelle sowie trans und non-binäre Menschen, also LGBTIQ-Personen, erleben aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität häufig psychische oder physische Gewalt. Dies reicht von Beschimpfungen und Beleidigungen bis hin zu physischen Übergriffen. Diese Personen sind auch bei der Arbeit, auf öffentlichen Ämtern oder im Gesundheitswesen von Diskriminierungen betroffen. Das wirkt sich negativ auf ihre psychische und physische Gesundheit aus. Ein Bericht des Bundes aus dem Jahr 2022 zeigt, dass LGBTIQ-Personen überdurchschnittlich häufig an depressiven Symptomen und Suizidgedanken leiden. Wir befassen uns auch mit LGBTIQ-Themen und stellen unter anderem Informationen bereit oder triagieren Betroffene bei Bedarf an spezialisierte Anlaufstellen und Organisationen.
Rund um den Eurovision-Song-Contest-Sieg von Nemo ist die Debatte um das dritte Geschlecht neu aufgeflammt. Sie setzen sich für Gleichstellung ein: Braucht es dieses dritte Geschlecht?
In verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, wurde bereits eine dritte Geschlechtskategorie eingeführt oder es ist möglich, auf die Angabe des Geschlechts zu verzichten. In der Schweiz werden non-binäre Menschen jedoch rechtlich nicht anerkannt. Der Bundesrat hat sich 2022 gegen eine dritte Geschlechtskategorie entschieden. Im Alltag zeigt sich, dass immer mehr Firmen oder auch öffentliche Ämter zum Beispiel darauf verzichten, bei Anmelde- oder Bestellformularen das Geschlecht zwingend zu erfassen. Das sind wichtige erste Schritte auf dem Weg zu einer besseren Anerkennung von non-binären Personen.
Worauf möchten Sie sich in Zukunft noch mehr fokussieren?
Einen Fokus setzen möchte ich auf die geschlechtsunabhängige Berufswahl, sexuelle Belästigung und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ausserdem möchten wir noch stärker auf Personen in schwierigen Situationen eingehen: Zum Beispiel Familien in Geldnot, Alleinerziehende oder Menschen mit Migrationshintergrund, die mit vielen Herausforderungen konfrontiert sind.
Was liegt Ihnen an Ihrem Beruf besonders am Herzen?
Das Thema Gleichstellung hat mich schon während meines Studiums sehr interessiert. Man könnte sagen, es ist ein Herzensthema von mir (lacht). Gleichstellung hat ein unglaubliches Potenzial für die Gesellschaft und die Wirtschaft. Menschen sollen ihre Wünsche und Stärken umsetzen können, unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung. Die Wirtschaft braucht Frauen und Männer, die ihre Fähigkeiten und Kompetenzen am richtigen Ort einbringen. Es ist für mich ein grosses Privileg, hier etwas bewegen zu können.
Zur Person
mef. Iris Graf ist seit 2018 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin in der kantonalen Fachstelle für Gleichstellung tätig, die sie heute leitet. Sie verfügt über ein Lizenziat der Universität Bern in Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre und hat sich zusätzlich in Statistik weitergebildet. Iris Graf arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien und an der Fachhochschule Nordwestschweiz.