Musste das wirklich sein?
12.07.2024 Bezirk Sissach, SissachWaschbär-Jungtier eingeschläfert – Tierpark hätte Platz angeboten
Fünf bis sieben Wochen alt dürfte ein Waschbär gewesen sein, als seine Mutter in Sissach erlegt wurde. Die Feuerwehr rettete danach das verwaiste Jungtier von einem Dach und der lokale ...
Waschbär-Jungtier eingeschläfert – Tierpark hätte Platz angeboten
Fünf bis sieben Wochen alt dürfte ein Waschbär gewesen sein, als seine Mutter in Sissach erlegt wurde. Die Feuerwehr rettete danach das verwaiste Jungtier von einem Dach und der lokale Jagdaufseher organisierte ihm einen Platz in einem Tierpark. Die kantonale Jagdverwaltung aber ordnete die Einschläferung an.
David Thommen
Die Geschichte eines angeblich sinnlos getöteten Waschbärenjungtiers geistert seit einiger Zeit durch Sissach. Die kantonale Jagdverwaltung wird in den Erzählungen als «hartherzig» bezeichnet. Die Schilderung endet damit, dass der Sissacher Jagdaufseher aus Protest den Bettel hinwirft.
Doch von Anfang an: Mitte Mai wurde die Sichtung von Waschbären nahe des Sissacher Ortszentrums gemeldet. Der Sissacher Jagdaufseher Rolf Wirz (60) rückte mit einer Falle aus und konnte tatsächlich ein ausgewachsenes Tier lebend fangen. Wie Eingeweihte der «Volksstimme» berichten, habe sich Wirz im Vorfeld bei der kantonalen Jagdverwaltung kundig gemacht, was mit dem gefangenen Waschbär geschehen solle. Offenbar bestanden bei ihm Bedenken, das Tier zu erlegen: Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um ein Weibchen handelt, das gerade Nachwuchs aufzog. In der Jagdsprache spricht man von «Mutterschutz».
Der Mutterschutz gilt im Baselbiet für alle Tiere. Doch im Falle von invasiven Arten nur dann, wenn offensichtlich sei, dass Nachwuchs vorhanden ist, heisst es bei der Jagdverwaltung auf Nachfrage. Im vorliegenden Fall sei auch denkbar gewesen, dass es sich um ein männliches Tier oder um ein Weibchen ohne Nachwuchs handelt. Anders übrigens die eidgenössische Gesetzgebung, die in diesem Fall keinen Mutterschutz vorsehe.
Wirz, der sich zum Fall nicht im Detail äussern will (siehe unten), hat laut Jagdverwaltung nach den festgelegten Regeln gehandelt und das Tier getötet. Waschbären mit Ursprung USA, so putzig sie auch sein mögen, gelten in Europa als invasive Neozoen, die beträchtlichen Schaden anrichten und Krankheiten verbreiten können. Die Jäger sind angehalten, die Tiere zu «entnehmen», um eine weitere Ausbreitung zu verhindern und vor allem zum Schutz der heimischen Wildtiere.
Waschbär drohte abzustürzen
Kurze Zeit nach der Tötung des gefangenen Tiers: Auf dem hohen und steilen Giebel eines alten Hauses im Sissacher Ortskern wurde ein offensichtlich verlassenes und geschwächt wirkendes Waschbären-Junges gesichtet, das abzustürzen drohte. Die Stützpunktfeuerwehr wurde aufgeboten und konnte das verwaiste Tier unter den Augen der Anwohnerinnen und Anwohner mit einem Hubretter vom Dach bergen. Auf fünf bis sieben Wochen wurde das Tier geschätzt, wie Augenzeugen sagen. Allseits habe grosse Erleichterung und Freude über den beherzten und erfolgreichen Feuerwehreinsatz geherrscht. Jagdaufseher Wirz packte das Jungtier in eine Katzentransportbox und nahm es mit zu sich nach Hause, um es notfallmässig aufzupäppeln.
Der Tierpark Weihermätteli bei der Psychiatrischen Klinik in Liestal habe in der Folge signalisiert, das Jungtier aufnehmen zu können, wie Wirz Informationen der «Volksstimme» bestätigt. Dort gibt es seit Kurzem ein eigenes Gehege für Waschbären. Die Tiere sind hinter Gittern, kastriert und gechipt – und somit keine Gefahr für die Umwelt. Doch gegen diese Unterbringung schritt die kantonale Jagdverwaltung ein. Der Baselbieter Jagdverwalter Holger Stockhaus: «Wild geborene Tiere werden grundsätzlich nicht dauerhaft in Gefangenschaft gehalten.» Für Tiere, welche die Freiheit gekannt haben, sei es nicht zumutbar, eingesperrt zu leben.
Auch für ein Jungtier nicht, das sein Nest im Dachstock eines Hauses womöglich zuvor noch nie verlassen hat und von der Freiheit vermutlich noch nicht viel gesehen hat? Und ist das Einschläfern eher zumutbar als ein Tierpark?
Jagdverwalter Stockhaus: «Für Tierparks gibt es Nachzuchtprogramme, aus denen Wildtiere gehalten werden können. Bei Wildtieren aus freier Wildbahn ist allenfalls eine vorübergehende Gefangenschaft vorgesehen, um sie beispielsweise nach einem Unfall zu kurieren mit dem Ziel, sie hernach wieder auszuwildern.» Die Auswilderung einer invasiven, gebietsfremden Art wie dem Waschbären sei aber nicht zulässig.
Zweiter Anlauf
Ist der Kanton Baselland mit dem Vollzug des Rechts besonders konsequent? Jedenfalls suchte Wirz laut der Erzählung in der Folge einen ausserkantonalen Tierpark, der bereits Waschbären hält – und wurde im Kanton Solothurn fündig. Das Jungtier war bereits im Wildpark Mühletäli bei Olten untergebracht, als die Baselbieter Jagdverwaltung die dortigen kantonalen Behörden informierte: «In Absprache zwischen dem Tierpark und den zuständigen Verwaltungen wurde das Tier dann tierärztlich eingeschläfert», fasst Stockhaus zusammen.
Widerstand oder Unverständnis habe es beim betreffenden Tierpark nicht gegeben, sagt der kantonale Jagdverwalter, und bei den Solothurner Behörden sei dem Baselbieter Entscheid viel Verständnis entgegengebracht worden. Wie Iris Wolfisberg, Co-Präsidentin und Tierbetreuerin beim Wildpark Mühletäli, auf Anfrage sagt, habe man den Einschläferungsentscheid allerdings ungern zur Kenntnis genommen: «Juristisch mag das korrekt gewesen sein, aber es war in meinen Augen unnötig.» Der kleine Waschbär sei vermutlich jünger als sieben Wochen alt gewesen und hätte sich nach ihrer Einschätzung recht problemlos im Tierpark einleben können: «Ich hätte mir gewünscht, dass man hier für einmal ein Auge zudrückt und weniger bürokratisch vorgeht.» Fünf Waschbären gibt es im Park bereits, zwei davon – aus Deutschland – stammten ebenfalls aus einst freier Wildbahn, sagt Wolfisberg.
Die Geschichte ging traurig weiter: Zwei offensichtlich stark geschwächte Waschbärenkinder aus dem gleichen Wurf tauchten später auf dem Giebel des gleichen Sissacher Hauses auf. Diesmal wurde die Feuerwehr nicht mehr aufgeboten. Die Jungtiere wurden durch die Jagdaufsicht «entnommen», wie es in der Jägersprache heisst.
Keine Ausnahmen
Der Baselbieter Entscheid war laut dem Jagdverwalter nach Regelbuch korrekt. Ist er mit Blick auf das Foto des herzigen kleinen Waschbären nicht dennoch ziemlich herzlos, wie Passanten der damaligen Rettungsaktion finden?
«Natürlich sind solche Entscheide immer sehr hart», sagt Jagdverwalter Stockhaus: «Einzelausnahmen sind aber nicht möglich und auch nicht sinnvoll.» Die Waschbärpoulation steige im Kanton an und es müsse alles darangesetzt werden, damit es nicht zu einer exponentiellen Entwicklung wie in Deutschland komme, wo im Vorjahr 200 000 Waschbären abgeschossen worden seien. Dort gerate die Situation langsam ausser Kontrolle. Der Waschbär habe negative Auswirkungen auf die heimische Natur, könne Schäden in Häusern verursachen und sei potenzieller Überträger mehrerer für Menschen und Haustiere gefährlicher Krankheiten. Im Baselbiet wurden im Vorjahr 25 Waschbären von Jägern getötet, drei Jahre zuvor waren es erst 3, was laut Stockhaus zeigt, dass auch hierzulande die Vermehrung stark voranschreitet.
Rolf Wirz, einstiger «Volksstimme»-Chefredaktor und aktueller Gemeindepräsident von Nusshof, bleibt bei seinen Auskünften zum Fall aus Loyalitätsgründen zurückhaltend. Er ist heute Leiter des «Newsrooms» der kantonalen Baselbieter Verwaltung und war früher jahrelang als Mediensprecher der Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektion tätig, zu welcher die kantonale Jagdverwaltung gehört. Allerdings bestätigt Wirz den Vorgang summarisch und sagt, dass er wegen der angeordneten Einschläferung des kleinen Waschbären sein Amt als Sissacher Jagdaufseher auf Ende Juli 2024 niederlegen werde. Er habe in den 13 Jahren Jagdaufsicht noch nie ein Wildtier gesehen, das sich derart gut für den Aufenthalt in einem Wildtierpark geeignet hätte wie dieses Waschbärenjunge. Er selbst sehe sich nicht als «Schädlingsvernichter um jeden Preis», sondern als Jäger, der auch ein Herz für Tiere habe.
Den Rücktritt des Jagdaufsehers will Jagdverwalter Stockhaus nicht weiter kommentieren: «Das ist sein persönlicher Entscheid, den es zu respektieren gilt.» Aber er bedauere die Situation: Wirz sei während vieler Jahre ein gewissenhafter und engagierter Jagdaufseher gewesen, mit dem stets eine gute Zusammenarbeit möglich gewesen sei. Die Sissacher Jagdgesellschaft hat mittlerweile intern abgesprochen, wer für die Nachfolge vorgeschlagen wird. Die Wahl erfolgt durch den Regierungsrat.