«Hohe Ansprüche können krank machen»
09.01.2024 Baselbiet, Gesundheit, GesellschaftDie Kinder- und Jugendpsychiaterin Brigitte Contin-Waldvogel geht bald in Pension
Brigitte Contin-Waldvogel arbeitet bei der Psychiatrie Baselland. Seit 2012 ist sie Chefärztin und Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Liestal. Sie geht Ende Mai in Pension und blickt auf ...
Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Brigitte Contin-Waldvogel geht bald in Pension
Brigitte Contin-Waldvogel arbeitet bei der Psychiatrie Baselland. Seit 2012 ist sie Chefärztin und Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Liestal. Sie geht Ende Mai in Pension und blickt auf ihre jahrelange Berufstätigkeit zurück.
Sander van Riemsdijk
Frau Contin-Waldvogel, wenn Sie kurz vor Ihrer Pensionierung auf Ihre Zeit als Chefärztin zurückblicken, was kommt Ihnen dabei spontan in den Sinn?
Brigitte Contin-Waldvogel: Demnächst werde ich rund 40 Jahre in der Psychiatrie tätig gewesen sein, davon 30 Jahre bei der Psychiatrie Baselland. In dieser Zeit habe ich eine grosse und vielfältige Entwicklung in der Kinderund Jugendpsychiatrie erleben dürfen. Vergangenes Jahr habe ich begonnen, mich sukzessive auf den Abschied vorzubereiten. Die Erfahrung hilft da extrem und gibt mir auch eine gewisse Gelassenheit. In den vergangenen Jahren habe ich mit der Corona-Zeit und kürzlich mit der Cyberattacke auf die Psychiatrie Baselland einen Höhepunkt an Krisenbelastung erfahren. Meine Arbeit war immer sehr abwechslungsreich und aufregend. Weil sie mit vielen Herausforderungen verbunden ist, hatte ich quasi keine Zeit, um richtig alt zu werden.
Wie hat sich die Behandlung von Kindern und Jugendlichen in Liestal verändert?
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben wir uns enorm entwickelt. In den vergangenen Jahren gab es denn auch eine grosse Nachfrage – Notfälle, zum Beispiel Suizidversuche, haben zugenommen. Wir mussten uns also vergrössern, was mit dem Neubau nun auch geschehen ist. Darin befinden sich ein Ambulatorium und zwei Stationen mit 8 respektive 12 Betten. Zusätzlich sind wir um 20 Stellen gewachsen.
Gab es weitere Veränderungen?
Die geschlossene Station für Jugendliche in schweren Krisen war früher auf der gleichen Etage wie die Krisenstation der Erwachsenenpsychiatrie. Weil Kinder und Jugendliche aber andere Bedürfnisse haben als Erwachsene, haben wir diese Station mittlerweile ausgegliedert, was einige Herausforderungen auf der Personalebene mit sich gebracht hat. Aufgrund des steigenden Bedarfs sind wir jetzt daran, diese Station von bisher 6 auf 13 Plätze zu erweitern. Im Frühsommer eröffnen wir die neue Krisenstation für Jugendliche.
Was war Ihre grösste Herausforderung?
Zu Beginn meiner Zeit als Chefärztin musste ich aufgrund von Pensionierungen und Wegzügen sowie des plötzlichen Todes meines Stellvertreters das ganze ärztliche Kader neu zusammenstellen. Später war sicher der Aufbau der neuen Stationen, bei dem es unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche zu berücksichtigen galt, die grösste Herausforderung. Dann kam eine sehr belastende Zeit während der Corona-Pandemie, als es aufgrund von Krankheiten immer wieder unvorhergesehene Personalausfälle gab. Ebenso eine grosse Herausforderung war es, bei den fortschreitenden Erweiterungen immer wieder gute und motivierte Mitarbeitende zu finden und halten zu können. Zum Glück ist das häufig recht gut gelungen.
Mit welchen psychischen Krankheiten von Patienten wurden Sie am meisten konfrontiert?
Da muss man unterscheiden zwischen dem, was im Alltag so alles passiert, und den Notfällen. In einem Notfall sind wir immer wieder mit einer akuten Fremd- und Selbstgefährdung konfrontiert, wobei die Suizidalität eine sehr grosse Herausforderung ist. Diese hat zugenommen, insbesondere während der Corona-Zeit. Im Alltagsgeschehen gibt es sehr viele Anmeldungen für die Abklärung und Behandlung von ADHS und Autismus. Bei diesen Themen hat es gesellschaftlich eine starke Sensibilisierung gegeben.
Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
Die Problemlage durch Kinder mit Auffälligkeiten hat sich aufgrund der grossen Belastung der Lehrerschaft und der Schulheime zugespitzt. Auch stellt sich die Frage, ob die Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr so tragfähig sind wie in früheren Jahren oder ob wir Menschen generell nicht mehr so belastbar sind aufgrund der Komplexität unseres heutigen Lebensstils. Durch äussere Einflüsse – etwa in Form von sogenannten Ratgebern oder Broschüren – werden Eltern ständig verunsichert. Sie getrauen sich nicht mehr, ihren Kindern eine Linie vorzugeben oder auch mal Nein zu sagen. Kinder brauchen Leitplanken, Führung und Struktur; gerade Kinder mit ADHS.
Was denken Sie: Werden die Behandlungen von Kindern und Jugendlichen in den kommenden Jahren weiterhin steigen oder ist ein Höhepunkt erreicht?
Die Sensibilisierung auf psychische Probleme hat generell zugenommen, deshalb wird die Nachfrage sicher steigen. Zudem zeigen sich aufgrund der hohen Ansprüche, welche die Gesellschaft an die Kinder und Jugendlichen und diese an sich selber stellen, vermehrt Angstsymptome und Depressionen. Und bei den jungen Frauen kommt es vermehrt zu Suizidalität. Auch die ganze Genderproblematik – bin ich ein Mann, bin ich eine Frau, wer bin ich überhaupt? – hat sich massiv zugespitzt. Und nicht zu vergessen das grosse Thema der Influencerinnen und Influencer, das vor allem bei Mädchen in der Pubertät anschlägt, wenn es um Schönheitsideale geht. Diese Themen hat es zwar immer gegeben, aber durch Soziale Medien und gesellschaftliche Einflüsse hat es grössere Dimensionen angenommen.
Eine zu starke Fokussierung auf die schulischen Leistungen kann dazu führen, dass Kinder und Jugendliche Versagensängste plagen. Wie beurteilen Sie das?
Kinder stehen häufig unter Druck, weil von ihnen erwartet wird, dass sie mindestens das Gymnasium besuchen. Die Eltern möchten zwar das Beste für ihre Kinder, und dass sie eine gute Ausbildung bekommen. Aber der Druck ist gross. Dabei gäbe es viele tolle Berufe, die keine Matur erfordern. Einen Teil trägt auch der gesellschaftliche und wirtschaftliche Druck bei, weil heute für viele Berufe eine Matur gefordert wird. Und dann sind wir wieder bei den Ansprüchen, die heute an die Kinder und Jugendlichen gestellt werden und die diese häufig schlicht nicht erfüllen können. Am Ende landen viele von ihnen bei uns …
Wie stark ist Mobbing in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Thema?
Es ist ein sehr wichtiges Thema: Mobbing kann bei Betroffenen zu einer Traumatisierung führen. Wir arbeiten deshalb eng mit dem Schulpsychologischen Dienst Baselland und den Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern zusammen. Dabei führen wir immer wieder gemeinsame Tagungen zu dieser Form von psychischer Gewalt durch. Massnahmen müssen dann aber von der Schulleitung verordnet werden. Denn Mobbing in der Schule ist primär eine Angelegenheit der Schule, wir sind eher eine Anlaufstelle für besonders schwere Fälle.
Wie kann man einen Rahmen für ein Kind oder einen Jugendlichen schaffen, sodass es gar nicht erst zu ernsthaften psychischen Problemen kommt?
Psychische Probleme haben viele Ursachen. Die wichtigsten sind in der Familie begründet. Wichtig für ein Kind ist, dass es in der Familie sicher aufgehoben ist und dass in der Familie Ruhe herrscht.
Mit welchen Problemen werden Sie bei Flüchtlingskindern konfrontiert?
Wenn ein geflüchtetes Kind zu uns kommt, zeigt es häufig bereits massive psychische Störungen. Es hat grosse Ängste, ist aggressiv und oft suizidal gefährdet. Viele dieser Kinder sind wegen ihrer Erlebnisse traumatisiert, da eine Flucht meist in menschenunwürdigen Verhältnissen abläuft.
Um den Anstieg der Gesundheitskosten zu dämpfen, soll es neben stationären und ambulanten Massnahmen vermehrt auch intermediäre Angebote geben. Was bedeutet dies für die Kinder- und Jugendpsychiatrie?
Intermediäre Angebote, also die Behandlung von Kindern zu Hause, werden bei uns sukzessive ausgebaut. Mit dem sogenannten KJP-Mobil haben wir ein erstes Angebot lanciert. Intermediäre Angebote bedingen jeweils ein stabiles Umfeld, sprich tragfähige Eltern. Mein Nachfolger wird diese Entwicklung sicher genaustens beobachten.
Wie blicken Sie der Pensionierung entgegen?
Nach so vielen Jahren im Arbeitsleben freue ich mich auf mehr Freizeit und auf eine Entlastung von der Verantwortung. Ich bin dankbar, dass viele gute Leute aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie mich und meine Familie unterstützt haben. Ich werde dank meiner intensiven Arbeit mit jungen Menschen eine gewisse Jugendlichkeit mit in meine Pensionierung nehmen (lacht). Als Grossmutter habe ich nun mehr Zeit für neue Herausforderungen. Nach einer längeren Pause werde ich eventuell eine niederprozentige Praxistätigkeit aufnehmen – doch ich will flexibel bleiben für alles, was noch kommen mag.
Zur Person
svr. Brigitte Contin-Waldvogel ist 64 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Sie hat mehrere Grosskinder. Ihr Mann ist Hausarzt in Binningen, wo sie aufgewachsen und immer noch wohnhaft ist. Zu ihren Hobbys zählen die Familie, das Lesen und Kochen. Contin-Waldvogel studierte Humanmedizin und machte das Staatsexamen an der Uni Basel. Sie war Postdoktorandin in der Verhaltensforschung Psychopharmakologie bei Roche in Basel. 1996 erhielt sie den Facharzttitel für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie. Danach wurde sie Oberärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) bei der Psychiatrie Baselland. 2012 wurde sie KJP-Chefärztin und 2014 Direktorin.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kürze
svr. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrie Baselland (KJP) behandelt Personen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Der Leistungsauftrag umfasst die Abklärung, Früherkennung sowie stationäre und ambulante Behandlung von psychischen Erkrankungen. Die KJP betreibt einen Notfalldienst, der rund um die Uhr besetzt ist. Das Ambulatorium in Liestal ist für Kinder und Jugendliche aus dem Oberbaselbiet zuständig, das Ambulatorium in Binningen betreut junge Patienten aus dem Unterbaselbiet, und das Ambulatorium in Laufen ist für Kinder und Jugendliche aus dem Laufental zuständig.