«Europa ohne Christentum kann ich mir nicht vorstellen»
03.05.2024 Baselbiet, Kirche, Gesellschaft, RegionVatikan | Kardinal Koch spricht über die Herausforderungen der katholischen Kirche
Seit 1990 leitet der frühere Bischof von Basel, Kurt Kardinal Koch, das Dikasterium für Ökumene: Wie es um die Verbundenheit der Christen bestellt ist, erläutert er ...
Vatikan | Kardinal Koch spricht über die Herausforderungen der katholischen Kirche
Seit 1990 leitet der frühere Bischof von Basel, Kurt Kardinal Koch, das Dikasterium für Ökumene: Wie es um die Verbundenheit der Christen bestellt ist, erläutert er im Interview. Ausserdem beurteilt er die Situation des Christentums in Europa und die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche.
Thomas Immoos
Herr Kardinal Koch, welche Bedeutung hat die Vereidigung der neuen Schweizergardisten, die jeweils am 6. Mai stattfindet, für den Vatikan?
Kurt Kardinal Koch: Die Vereidigung ist jedes Jahr ein ganz besonderer Anlass und ein grosses Fest. Es ist jedes Mal ein eindrückliches Erlebnis, wenn die jungen Gardisten feierlich ihren Eid ablegen. Bereits tags zuvor werden eine Vesper und das Totengedenken gefeiert. Dieses erinnert an den «Sacco di Roma», die Plünderung Roms durch kaiserliche Truppen im Jahr 1527. Damals sind viele Schweizergardisten gefallen, die den Papst verteidigt haben.
Wie läuft der Gedenktag ab?
Am Morgen des 6. Mai wird die heilige Messe mit dem Kardinalstaatssekretär in der Basilika St. Peter gefeiert. Und am späteren Nachmittag findet dann die eigentliche Vereidigung statt. Für die Schweizergarde ist es bestimmt ein sehr wichtiger Tag im Jahr, vor allem auch für die neuen Gardisten, die vom Papst in einer Audienz empfangen werden.
Die Schweizergarde heute: Ist sie mehr als Touristenattraktion, Fotosujet und Folklore?
Es gibt im Vatikan zwei Polizeiorganisationen. Da ist auf der einen Seite die Gendarmerie, die eine vatikan-interne Polizei ist, und auf der anderen Seite die Schweizergarde, die vor allem für die Sicherheit des Papstes und die Bewachung der Gebäude zuständig ist. Die Schweizergarde nimmt auch wichtige Ordnungsaufgaben wahr.
Kommen wir zu Ihrem Zuständigkeitsbereich, dem Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen, das man als Ökumene-Ministerium des Vatikans bezeichnen könnte. Wie ist es darum derzeit bestellt?
Meine Antwort hängt davon ab, um welchen ökumenischen Dialog es sich handelt. Mit den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die aus den Reformationen hervorgegangen sind, führen wir insgesamt zwölf verschiedene Dialoge, die sehr unterschiedlich gediehen sind. Bisher am fruchtbarsten ist der Dialog mit den Lutheranern gewesen. Mit ihnen hat die katholische Kirche einen Dialog gleich nach dem Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils begonnen. Inzwischen ist es möglich, den Streit um die Rechtfertigungslehre, die im 16. Jahrhundert die Ursache der Trennung von der katholischen Kirche gewesen war, weitgehend zu überwinden.
Für Nichttheologen: Worum geht es in der Rechtfertigungslehre?
Martin Luther ist davon ausgegangen, dass man die Gnade Gottes nicht aufgrund menschlicher Werke gewinnen kann, sondern nur durch den Glauben. In dieser Frage haben Lutheraner und Katholiken in der Zwischenzeit einen Konsens gefunden und 1999 die «Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre» unterzeichnet. Inzwischen haben drei weitere christliche Gemeinschaften sich diese Erklärung angeeignet. Es besteht nun Übereinstimmung im Glauben, dass wir durch die Gnade Gottes und das Heilswerk Jesu Christi gerechtfertigt, das heisst von Gott angenommen sind, und dass wir uns nicht selbst rechtfertigen.
Und wie steht es mit der Ökumene, zum Beispiel der Verbundenheit mit der russisch orthodoxen Kirche?
Diese Beziehung ist äusserst schwierig geworden. Der Grund dafür liegt darin, dass Patriarch Kyrill den Krieg Russlands gegen die Ukraine voll unterstützt und rechtfertigt. Er stellt sich an die Seite von Präsident Putin. Kürzlich hat er in einer Erklärung einer Versammlung den Krieg gegen die Ukraine sogar als «Heiligen Krieg» bezeichnet. Dies ist für uns eine unhaltbare Position.
Neben diesen grossen christlichen Bekenntnissen gibt es zahlreiche Freikirchen, Evangelikale und andere Ausrichtungen christlicher Provenienz. Wie steht es um die Ökumene mit diesen Kirchen?
Das ist in der Tat ein weites Feld. Wir stellen ein sehr starkes Wachstum von evangelikalen und pentekostalen Bewegungen fest. Die pentekostalen Kirchen, also jene der Pfingstbewegung, sind heute zahlenmässig die grösste Glaubensgemeinschaft nach der katholischen Kirche. Wir führen einen ökumenischen Dialog mit solchen Bewegungen, freilich nur mit jenen, die einen Dialog wünschen. Nicht wenige wollen keine Beziehung zur katholischen Kirche.
Ist die Ökumene also so etwas wie eine Holschuld?
In der Ökumene geht es immer sowohl um eine Hol- als auch eine Bringschuld. Beide Seiten müssen bereit sein, etwas zu empfangen und etwas zu geben.
Braucht es eine Rechristianisierung?
Ich würde eher von einer Neu-Evangelisierung sprechen. Es ist eine wichtige Aufgabe, das Evangelium in die heutige Situation hinein glaubwürdig zu verkünden. Denn ich bin überzeugt, dass das Evangelium eine kostbare Botschaft für das Leben der Menschen ist und dass wir diese in die heutige Welt hineintragen sollen.
Wie beurteilen Sie den Zustand der katholischen Kirche in der Schweiz?
In meiner Zeit als Bischof von Basel habe ich bei den Pfarreibesuchen sehr viel Gutes gesehen und bin engagierten Gläubigen begegnet. Heute besteht manchmal die Versuchung, nur das Schlechte zu sehen. Viele Pfarreien wären gewiss dankbar, wenn in der Öffentlichkeit mehr gewürdigt würde, was in ihnen an Gutem geschieht, wie viel Freiwilligenarbeit beispielsweise in der Kirche geleistet wird. Die Kirche ist nach wie vor jene Institution, in der sehr viel Ehrenamtlichkeit wahrgenommen wird.
Welches sind Ihrer Meinung nach die Gründe der Menschen, sich von den Kirchen abzuwenden?
Es gibt sicherlich viele und verschiedene Gründe. Einer davon sind gewiss
Was verbindet die christlichen Kirchen?
Allen gemeinsam ist der Glaube an Jesus Christus, sein Heilswerk und an das Wirken des Heiligen Geistes und damit an den dreieinen Gott. Gemeinsam ist allen das apostolische Glaubensbekenntnis. Unterschiedlich hingegen ist das Verständnis dessen, was Kirche ist, der Sakramente und auch der kirchlichen Ämter. Darüber muss in den Dialogen gesprochen werden.
Kürzlich haben Sie in einem Interview gesagt, das Christentum in Europa befinde sich in der Krise. Ist das europäische Christentum in Gefahr?
Das Christentum befindet sich in Europa in der Tat in einer schwierigen Situation. Mit Blick auf die Zukunft bin ich aber nicht ohne Hoffnung. Wir wissen zwar noch nicht genau, in welche Richtung sich das Christentum in Europa entwickeln wird. Ein Europa ohne Christentum kann ich mir aber nicht vorstellen. Denn damit würden seine christlichen Wurzeln geleugnet.
Braucht es eine Rechristianisierung?
Ich würde eher von einer Neu-Evangelisierung sprechen. Es ist eine wichtige Aufgabe, das Evangelium in die heutige Situation hinein glaubwürdig zu verkünden. Denn ich bin überzeugt, dass das Evangelium eine kostbare Botschaft für das Leben der Menschen ist und dass wir diese in die heutige Welt hineintragen sollen.
Wie beurteilen Sie den Zustand der katholischen Kirche in der Schweiz?
In meiner Zeit als Bischof von Basel habe ich bei den Pfarreibesuchen sehr viel Gutes gesehen und bin engagierten Gläubigen begegnet. Heute besteht manchmal die Versuchung, nur das Schlechte zu sehen. Viele Pfarreien wären gewiss dankbar, wenn in der Öffentlichkeit mehr gewürdigt würde, was in ihnen an Gutem geschieht, wie viel Freiwilligenarbeit beispielsweise in der Kirche geleistet wird. Die Kirche ist nach wie vor jene Institution, in der sehr viel Ehrenamtlichkeit wahrgenommen wird.
Welches sind Ihrer Meinung nach die Gründe der Menschen, sich von den Kirchen abzuwenden?
Es gibt sicherlich viele und verschiedene Gründe. Einer davon sind gewiss die schrecklichen Missbrauchsskandale, die bekannt geworden sind. Andere Menschen haben sich so sehr vom Glauben entfernt, dass sie nicht mehr einsehen, warum sie noch Mitglied der Kirche bleiben sollen. Und bei wiederum anderen dürfte auch die Kirchensteuer eine wichtige Rolle spielen.
Spielen nicht auch gewisse konservative Werte beim Austritt aus der katholischen Kirche eine Rolle, etwa die Tatsache, dass Frauen nicht zum Priesteramt zugelassen werden oder verheiratete Priester nicht möglich sind?
Diese Fragen spielen gewiss auch eine Rolle. Doch einen einzigen Grund für die Kirchenaustritte gibt es wohl kaum; es sind jeweils vielmehr verschiedene Faktoren massgeblich, zumal von diesem Phänomen nicht nur die katholische Kirche betroffen ist.
Missbrauchsskandale, Sie haben es zuvor erwähnt, sorgen immer wieder für negative Schlagzeilen und verursachen Kirchenaustritte. Hat man dieses Problem inzwischen im Griff?
Ich denke, dass man in den Bistümern und auch in der Universalkirche die Dringlichkeit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und der Prävention erkannt hat. Denn die sexuellen Missbräuche wiegen in der Kirche besonders schwer, da die zwei intimsten Bereiche im Menschen betroffen sind: die Religion und die Sexualität. Wenn diese beiden Bereiche miteinander in Konflikt geraten, droht der Bereich des Heiligen für den Menschen sich in eine schreckliche Staubwolke zu verwandeln. Die Kirche muss deshalb besondere Vorkehrungen treffen, dass solche Missbräuche nicht mehr geschehen.
Wo kann das Christentum im Alltag hilfreich sein? Oder anders gefragt: Wo liegen die Stärken des Christentums?
Der christliche Glaube schenkt uns im Leben einen grösseren Horizont. Es ist eine Wohltat, wenn wir im alltäglichen Getriebe immer wieder den Blick über unsere Welt hinaus wagen; in das hinein, was wir im Glauben Transzendenz, nämlich Gott, nennen. Eine deutsche Soziologin hat diesen Zugewinn einmal so formuliert: «Früher lebten die Menschen 40 Jahre plus ewig, heute leben sie nur noch 90 Jahre – und dies ist sehr viel weniger.» Das Leben bekommt eine tiefere Qualität und einen weiteren Horizont, wenn man den Blick über das irdische Leben hinaus auf die Ewigkeit und damit auf Gott richtet.
Viele Leute sagen, sie seien aus der Kirche ausgetreten, aber nicht ungläubig.
Wahrscheinlich gibt es gar keine ungläubigen Menschen, da jeder etwas glaubt. Selbst wer glaubt, dass es keinen Gott gibt, glaubt eben dies. Viele treten auch aus der Kirche aus, weil sie mit dem Glauben, der in der Kirche verkündet wird, nichts mehr anfangen können.
Zur Person
tim. Kurt Koch (74, geboren in Emmenbrücke) wurde nach dem Studium der Theologie in München und Luzern 1975 diplomiert und arbeitete anfänglich als Laientheologe in Sursee. Im Jahr 1982 wurde er zum Priester geweiht und wirkte während dreier Jahre als Vikar in Bern. Zugleich war er Dozent für Dogmatik und Moraltheologie am Katechetischen Institut in Luzern. Nach der Promotion wurde er 1989 Professor für Dogmatik und Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. 1995 wählte ihn das Domkapitel zum Bischof von Basel. Er war auch zwei Jahre Präsident der Schweizer Bischofskonferenz. Kurt Koch hat zahlreiche Schriften und Bücher verfasst. Papst Benedikt XVI. ernannte ihn 2010 zum Kardinal und zum Präfekten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, ein Amt, das er seither ausübt.