«Es ist mehr als nur Filmeschauen»
14.11.2025 Bezirk Sissach, Gemeinden, Gesellschaft, Kultur, Baselbiet, OltingenNiccolò Castelli über die Solothurner Filmtage und den Jurabogen
Die Jubiläums-Retrospektive «Imaginaires du Jura» der Solothurner Filmtage zeigt, wie filmisch der Jurabogen ist. Zwei Filme werden in der «Oberen Mühle» in Oltingen gezeigt. ...
Niccolò Castelli über die Solothurner Filmtage und den Jurabogen
Die Jubiläums-Retrospektive «Imaginaires du Jura» der Solothurner Filmtage zeigt, wie filmisch der Jurabogen ist. Zwei Filme werden in der «Oberen Mühle» in Oltingen gezeigt. Festivalleiter Niccolò Castelli über die Kino- und Filmfestivalkultur.
Melanie Frei
Herr Castelli, erinnern Sie sich an den ersten Film, den Sie geschaut haben?
Niccolò Castelli: Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber da ich drei ältere Brüder habe, habe ich schon früh Filme geschaut. Manchmal solche, die mir ein bisschen Angst machten wie «Gremlins» oder «Der weisse Hai». Gut erinnere ich mich an «E.T.» oder natürlich «Back to the Future».
Nach eigener Arbeit als Filmmacher (siehe Kasten) sind Sie seit 2022 künstlerischer Leiter der Solothurner Filmtage. Erzählen Sie uns von Ihrer Arbeit.
Ich leite das Festival gemeinsam mit Monica Rosenberg. Sie verantwortet die operative Seite, ich die Programmplanung, Filmauswahl und Kommunikation. Aber wir sind ein Team – wir sichten und diskutieren die Filme gemeinsam mit einer Auswahlkommission. Die Mischung aus verschiedenen Perspektiven ist entscheidend.
Sind kommen aus dem Tessin, das unter anderem bekannt ist für das «Locarno Film Festival». Was macht Solothurn zum perfekten Austragungsort der Filmtage?
Solothurn ist eine Kulturstadt mit grosser Tradition, aber gleichzeitig auch eine kleine Stadt. Das Festival verschwindet nicht zwischen vielen anderen Events, wie das in einer Grossstadt passieren würde. Die ganze Stadt lebt mit dem Festival – die Besucher treffen Filmschaffende in Cafés oder Bars, diskutieren mit ihnen. Diese Nähe ist einzigartig. Und Solothurn liegt zentral – man erreicht es gut aus allen Regionen der Schweiz. Die Solothurner Filmtage sind das wichtigste Schweizer Filmfestival. Jährlich Ende Januar zeigen wir eine Woche lang ausschliesslich Schweizer Filme aus allen vier Sprachregionen. Dieses Jahr waren es 162 Filme. Es ist gleichzeitig ein Branchentreffpunkt und ein Publikumsfestival mit 65 000 Besucherinnen und Besuchern.
Die Solothurner Filmtage feierten dieses Jahr ihren 60. Geburtstag mit einer grossen Retrospektive über die Jura-Landschaft. Das Sonderprogramm mit dem Titel «Imaginaires du Jura» zeigt mehr als 30 Filme aus 11 Jahrzehnten, die alle im Jurabogen gedreht wurden. Warum steht die Landschaft im Fokus?
Wir wollten zum Jubiläum etwas machen, das mit unserem Standort zu tun hat. Deshalb entstand die Retrospektive «Imaginaires du Jura». Wir haben über 300 Filme gesichtet, die im Jurabogen gedreht wurden. Diese Auswahl an Filmen zeigt, wie unterschiedlich der Jura im Kino dargestellt wurde und immer noch wird – und wie filmisch diese Landschaft ist.
Inwiefern?
Der Jura hat eine ganz eigene Atmosphäre – geheimnisvoll, manchmal rau, aber immer poetisch. Schon die Pathé-Brüder drehten dort vor mehr als hundert Jahren. Später folgten Regisseure wie Alain Tanner mit «No Man’s Land» (1985) oder Claire Denis mit «Beau Travail» (1999). Die Landschaft wurde auch Kulisse für berühmte Schauspieler wie den jüngst verstorbenen Alain Delon in «Les Granges Brûlées» (1973). Es wurden Kriegsdramen am Doubs inszeniert, Filme über Schmuggel, über Industrie, über Tiere und Menschen, die mit der Landschaft verbunden sind. Der Jura wurde so zu einer Art Spiegel der Schweizer Geschichte.
Haben Sie persönlich eine Beziehung zum Jura?
Ja. Für mich als Tessiner war der Jura immer etwas Exotisches. Ich komme aus einer Landschaft mit hohen Bergen und tiefen Tälern – der Jura ist weicher, geheimnisvoller. Als Kind war ich einmal im Pfadilager dort, das hat mich sehr beeindruckt. Heute sehe ich ihn fast mit den Augen eines Filmemachers: als Kulisse voller Geschichten.
Die Jura-Retrospektive kommt am Wochenende in kleinerer Form zu uns ins Baselbiet nach Oltingen in die «Obere Mühle». Warum das?
Begleitet wird die Filmreihe «Imaginaires du Jura» von einer Reihe von Partnerveranstaltungen in den Jura-Kantonen Neuenburg, Bern, Solothurn, Aargau, Waadt und Jura. Mit der Idee kam Nationalrätin Florence Brenzikofer (Grüne) auf uns zu. Gemeinsam mit Pro Natura Baselland und dem Verein Erlebnisraum Tafeljura haben wir ein passendes Format entwickelt, um «Imaginaires du Jura» in kleinerer Form zu präsentieren. In der «Oberen Mühle» in Oltingen zeigen wir morgen und am Sonntag zwei Filme, im Anschluss folgen Publikumsgespräche. Die Filmreihe ist auch ein Stück Heimat für die Baselbieter und Baselbieterinnen.
Sie zeigen die Filme «Vingt Dieux» (2024) und «Quand nous étions petits enfants» (1960). In welcher Verbindung stehen die Filme zueinander?
Beide handeln vom Erwachsenwerden im Jura, aber mit 60 Jahren Abstand. «Quand nous étions petits enfants» zeigt das Leben der Kinder in einer ländlichen und langsameren Welt, die heute immer mehr verschwindet. «Vingt Dieux» erzählt eine moderne Coming-of-Age-Geschichte aus dem französischen Jura. Der Vergleich der beiden Filme macht deutlich, dass sich die Welt zwar verändert, aber viele Themen wie Zugehörigkeit, Freiheit und Identität dieselben bleiben.
Warum sollte man 2025 noch ins Kino gehen oder ein Festival besuchen? Mit Streaming-Plattformen wie Netflix oder Disney+ kann man komfortabel zu Hause auf der Couch Filme schauen.
Unsere 65 000 Zuschauerinnen und Zuschauer Anfang Jahr sind das Zeichen dafür, dass die Leute Bedürfnisse nach Begegnung, nach Austausch, nach Gedanken und Emotionen haben. Wir werden heute überflutet von Content – nicht nur von Streaming-Plattformen, sondern auch vom Smartphone. Die Menge an audiovisuellen Inhalten ist zu gross.
Und wie hält hier das Solothurner Filmfestival dagegen?
Veranstaltungen wie das Filmfestival schaffen Orientierung, eine Auswahl, eine Selektion. Wenn ich ins Kino gehe, gibt es jemanden, dem ich vertraue, der eine Filmauswahl trifft. Jemand kann mich überraschen, kann mir etwas zeigen, das ich nicht kenne. Das gibt einen Wert. Kinos oder Festivals mit einer starken Identität funktionieren genau deshalb gut.
An den Solothurner Filmtagen moderieren Sie die Gesprächsreihe «Fare Cinema», wo die Filmschaffenden mit dem Publikum in Kontakt kommen. Schliesst das an Ihre Überzeugung an?
Diese offenen Diskussionen sind oft der schönste Teil des Festivals – wenn Zuschauerinnen und Zuschauer Fragen stellen, eigene Gedanken teilen und plötzlich eine echte Verbindung entsteht. Auch in Oltingen möchten wir genau das fortsetzen: Nach den Filmvorführungen wird es Zeit für Gespräche geben – über die Filme, über den Jura, über das, was uns verbindet. Ich freue mich sehr, vor Ort zu sein und diesen Austausch gemeinsam zu erleben.
Samstag, 15. November, 20.15 Uhr, «Vingt deux» (2024).
Sonntag, 16. November, 11.15 Uhr, «Quand nous étions petits» (1960). Um 10 Uhr findet ein Brunch statt. Anmeldungen zum Brunch/Film an oberemuehleoltingen@gmx.ch
Zur Person
mef. Niccolò Castelli wurde 1982 in Lugano geboren und ist Regisseur, Drehbuchautor sowie seit 2022 künstlerischer Leiter der Solothurner Filmtage. Er studierte Filmwissenschaft in Bologna und Regie an der Zürcher Hochschule der Künste. Schon während des Studiums arbeitete er als Radiojournalist und Moderator bei RSI, bevor er sich ganz dem Film widmete. Mit seinem Spielfilmdebüt «Tutti giù – Im freien Fall» (2012) feierte Castelli internationalen Erfolg, der Film lief in Locarno und an zahlreichen Festivals weltweit. Sein zweiter Langfilm «Atlas» (2021) eröffnete die 56. Solothurner Filmtage und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem «Cinema e Gioventù»- Award. Seit August 2022 leitet Castelli gemeinsam mit Monica Rosenberg die Solothurner Filmtage. Er verantwortet die Filmauswahl und Kommunikation und moderiert die Gesprächsreihe «Fare Cinema», in der Filmschaffende mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Am kommenden Wochenende wird Niccolò Castelli in Oltingen persönlich anwesend sein, um die Jura-Retrospektive vorzustellen und mit dem Publikum über die Filme zu diskutieren.


