Der Schreiner aus Teheran
14.11.2024 Bezirk Sissach, Bezirk Sissach, BaselbietKhalil Qorbani hat nach einer langen Odyssee ein neues Zuhause
Auf der Suche nach einer besseren Zukunft und nach einer mehrjährigen Flucht durch halb Europa ist der Afghane Khalil Qorbani in der Schweiz gelandet. Seit rund neun Jahren lebt und arbeitet er im Baselbiet, wo er ...
Khalil Qorbani hat nach einer langen Odyssee ein neues Zuhause
Auf der Suche nach einer besseren Zukunft und nach einer mehrjährigen Flucht durch halb Europa ist der Afghane Khalil Qorbani in der Schweiz gelandet. Seit rund neun Jahren lebt und arbeitet er im Baselbiet, wo er für immer bleiben will.
Heiner Oberer
Im Jahr 2015 ist die Flucht von Khalil Qorbani zu Ende. Eine Reise, geprägt von Unsicherheit, Angst, aber auch Zuversicht. Heute arbeitet der 26-jährige Mann als gelernter Schreinerpraktiker bei der Schreinerei Häfelfinger in Sissach. Für Stephan Häfelfinger, Inhaber und Geschäftsführer der Schreinerei, ist Qorbani eine enorme Bereicherung für die gesamte Belegschaft. Vor allem, wenn einem bewusst wird, unter welchen widrigen Umstanden er sich als Flüchtling in die Schweiz durchschlagen musste.
Wir treffen uns nach Feierabend an seinem Arbeitsplatz in Sissach. Khalil Qorbani wartet bereits. Er trägt immer noch Arbeitskleidung. Tiefschwarze Haare und akkurat getrimmter Bart. Kräftiger Händedruck zur Begrüssung. Mit einem breiten Lächeln stellt er sich vor. Ein Lächeln, das er während des gesamten Gesprächs immer wieder aufblitzen lässt. Wir setzten uns. Die anfängliche Angst, dass es zu Verständigungsschwierigkeiten kommen könnte, verflüchtigt sich schnell. Qorbani spricht – zwar leise – ein gut verständliches Deutsch. Ich starte das Aufnahmegerät und Qorbani beginnt zu erzählen, nur unterbrochen von meinen Nachfragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe.
Geflüchtet, ohne etwas zu sagen
Khalil Qorbani wird am 1. Januar 1997 in Urusgan, einer Provinz in Zentralafghanistan, geboren. Seine Eltern flüchten mit ihm als Sechsjährigem, zwei älteren Schwestern und einem älteren Bruder nach Teheran. Müde vom Krieg und ständig wechselnden Kriegsherren in Afghanistan, hoffen sie im Iran auf eine bessere Zukunft.
Qorbani kann sich nicht mehr richtig an seine Kindheit erinnern. Aus Erzählungen seiner Eltern und Geschwister weiss er aber, dass man als Kind im Iran ohne grosse Probleme leben kann. Da er aber als Flüchtling keinen Pass besitzt, kann er im Alter von 16 und 17 Jahren nach Afghanistan abgeschoben werden. In ein Land, wie Qorbani sagt, ohne Perspektive und Zukunft für ihn. Mit 13 Jahren beschliesst er deshalb, sein Glück in Europa zu suchen und flüchtet mutterseelenallein aus Teheran. Eltern und Geschwister lässt er im Ungewissen, weil er weiss, sie hätten ihn nie alleine gehen lassen.
Zu Fuss schlägt er sich in die Türkei durch. Bei Nacht überquert er die Grenze – immer mit der Angst, gesehen zu werden. Er übernachtet meistens im Wald. Um zu etwas Geld zu kommen und Essen zu kaufen, schlägt er sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsarbeiten durch. In einem Hinterhof knüpft er Teppiche. Das Teppichknüpfen – in Afghanistan eine jahrtausendealte Tradition – hat ihm seine Mutter beigebracht. Sie hat sich mit dem Knüpfen von Teppichen im Exil ein bescheidenes Zubrot verdient.
Jetzt kommt Qorbani sein Wissen zugute. Nach einem halben Jahr hat er genug Geld beisammen, um die Flucht fortzusetzen. Zu Fuss geht es weiter nach Griechenland, wo er wieder Arbeit findet. Das in einem Laden, der von einem Afghanen betrieben wird. Abends fällt er todmüde auf die bescheidene Pritsche, die ihm der Ladenbesitzer für ein saftiges Entgelt zur Verfügung stellt. Qorbani weiss, dass auch in Griechenland kein Platz für ihn ist.
Leidensgenossen, ebenfalls auf der Flucht, schwärmen von der Schweiz. Sie berichten ihm von einem Land, in dem alles seine Ordnung habe. Bis jetzt hat Qorbani noch nie etwas von der Schweiz gehört. Er beschliesst aber, in das «gelobte» Land aufzubrechen.
Und wieder beginnt eine entbehrungsreiche Reise. Über Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich und Deutschland gelangt er schliesslich 2015 in die Schweiz.Vielfach zu Fuss oder auf dem Karren eines gutmütigen Bauern, legt er die beschwerliche Wegstrecke zurück. Wieder lebt er vorwiegend im Wald. Freiwillige Helfer und Helferinnen, die ob des Schicksals der Jugendlichen entsetzt sind, verpflegen die ermatteten und ausgehungerten Flüchtlinge. Etwas, für das sich Khalil Qorbani noch heute sehr dankbar zeigt.
Ausdauer zahlt sich aus
Nie fällt im Gespräch ein böses Wort. Mit einem zufriedenen Lächeln erzählt Qorbani von seiner Odyssee quer durch halb Europa. Vielleicht hat ihm gerade diese Zufriedenheit und Dankbarkeit geholfen, die Flucht relativ schadlos zu überstehen. Immer das Ziel vor Augen, in einer besseren und sicheren Welt anzukommen. In der Gewissheit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das in unregelmässigem Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern. Vor allem zur Mutter, die sich vor Sorgen grämte und hoffte, der Jüngste möge die Flucht schaffen.
In der Schweiz wird Qorbani im Bundesasylzentrum in Basel aufgenommen und als Asylbewerber registriert. Schon kurz darauf wird er in eine Gemeinde im Oberbaselbiet verlegt. Sein Betreuer, ein Australier, der mit ihm vorwiegend Englisch spricht, kümmert sich um ihn, als wäre er sein eigener Sohn, erinnert sich Qorbani. Ihm wird schnell bewusst, dass er unbedingt Deutsch lernen muss. Denn sein Englisch ist schlecht. Seine Muttersprache Paschtu, was in Afghanistan von seinen Eltern gesprochen wird. Fliessend spricht er nur Persisch, was ihm in der Schweiz keine grosse Hilfe ist.
Inzwischen wohnt Qorbani mit zwei Kollegen, ebenfalls Afghanen, in einer Wohnung im Unterbaselbiet. Sie teilen sich das Kochen und Haushalten. Abwechslungsweise sind die drei für das Nachtessen – jetzt weicht für einmal das Lächeln aus dem Gesicht von Qorbani und er wird ganz ernst – und für eine sauber aufgeräumte Küche zuständig. Für ihn, so sagt er, sind Sauberkeit und Ordnung ganz wichtig. Etwas, was auch sein Arbeitgeber bestätigt. Qorbani falle vor allem durch Arbeitswille, Pünktlichkeit sowie seine offene und höfliche Art auf, sagt Stephan Häfelfinger.
Neben der Zubereitung des Nationalgerichts Qabuli Pulau, ein süsslich-herzhaftes Pilaw mit Karotten, Rosinen und Lammfleisch, und seinem Lieblingsgericht Raclette, besucht er zwei Jahre die Schule, um Deutsch schreiben, reden und lesen zu lernen. Keine einfache Aufgabe, die er dank seiner Hartnäckigkeit und Ausdauer aber schliesslich zufriedenstellend schafft. Das bedeutet aber nicht, dass er sich zurücklehnen kann. Jetzt heisst es, eine Lehrstelle zu finden. Er schreibt gegen 30 Bewerbungen und absolviert zahlreiche Schupperlehren, unter anderem als Maurer und im Gartenbau.
Dann kommt der Zufall zu Hilfe. Sein Vermieter vermittelt ihm eine Schnupperlehre bei der Schreinerei Häfelfinger in Sissach. Stephan Häfelfinger empfiehlt ihm eine einjährige Vorlehre (zwei Tage Schule, drei Tage arbeiten). Das allerdings mit der Auflage, dass Qorbani sein Deutsch verbessern muss. Im Anschluss an die einjährige Vorlehre absolviert er, auf Drängen von Häfelfinger, eine zweijährige Ausbildung zum Schreinerpraktikanten EBA, eine zweijährige beruflichen Grundbildung, die nach erfolgreicher Absolvierung zu einem anerkannten Abschluss, dem eidgenössischen Berufsattest EBA führt. Qorbani legt sich ins Zeug und weiss, was es geschlagen hat. Im Jahr 2020 schliesst er die Lehre erfolgreich ab. Nach einem kurzen Abstecher in einen anderen Betrieb ist er seit rund einem Jahr wieder zurück bei der Schreinerei Häfelfinger.
Bei der Frage, ob er jemals wieder zurück nach Afghanistan möchte, weicht das Lächeln aus dem Gesicht von Qorbani und er wird ernst. Er schüttelt den Kopf. «Iran ist nicht meine Heimat», sagt er. Und an Afghanistan kann er sich nicht mehr erinnern. «Ich bleibe in der Schweiz», sagt er bestimmt. Die Situation in Afghanistan sei mit den neuen Machthabern nicht besser geworden. Er möchte sich in seiner neuen Heimat, die ihn offen empfangen habe, eine neue Existenz aufbauen. Seit seinem siebten Lebensjahr habe er gearbeitet. Das sei eine gute Voraussetzung. Der Weg in die Schweiz sei ein beschwerlicher gewesen: «Ich möchte ein normales Leben führen. Später heiraten, eine Familie gründen und das Schweizer Bürgerrecht erlangen.» Dafür bleibt aber noch etwas Zeit.
Jetzt ist der Schalk bei Qorbani wieder zurück und er lacht bei der Frage, ob seine Wunschfrau eine Schweizern sei. «Darüber muss ich gelegentlich nachdenken», sagt er. Jetzt aber heisst es: ab zum Hallenfussball mit Kollegen. Und wenn es gut läuft, trinkt er nach dem Training ein Bier. Ja, sagt er. Eigentlich dürfe er als Moslem keinen Alkohol trinken. Aber schliesslich sei er jetzt in der Schweiz und da würden andere Regeln gelten.