«Der Landrat hatte noch keine Stühle»
01.03.2024 Baselbiet, Porträt, Politik, BaselbietZeitzeuge Fritz Epple (98) erzählt, wie es im Regierungsgebäude einst zuging
1775 bis 1779 wurde das Regierungsgebäude in Liestal gebaut, seit 2023 wird es saniert und am 13. Juni 2024 soll die erste Landratssitzung im «neuen» Gebäude stattfinden. ...
Zeitzeuge Fritz Epple (98) erzählt, wie es im Regierungsgebäude einst zuging
1775 bis 1779 wurde das Regierungsgebäude in Liestal gebaut, seit 2023 wird es saniert und am 13. Juni 2024 soll die erste Landratssitzung im «neuen» Gebäude stattfinden. Für Fritz Epple (98) war es ab 1955 als erster Staatsweibel sein Arbeitsort.
Andreas Bitterlin
Zur laufenden Sanierung des Regierungsgebäudes in Liestal gehört, dass den Landrätinnen und Landräten neue Stühle zur Verfügung gestellt werden. Diesbezüglich haben sich die Zeiten geändert: Als Fritz Epple im Jahr 1955 zum Staatsweibel gewählt wurde, hatten die Volksvertretungen gar keine Stühle. Epple: «Sie hatten drei Bankreihen zur Verfügung, aber keine Stühle.» Musste jemand den Landratssaal verlassen, musste er sich an den anderen vorbeizwängen. Und der Staatsweibel hatte dafür zu sorgen, dass das Ratsmitglied beim Zurückkommen wieder zu seinem Platz kam. Im Sommer sei es für die Landräte besonders ungemütlich gewesen – «sie klebten förmlich auf den schwarzen Lederkissen», so Epple.
Er hatte eine weitere Aufgabe in den Bankreihen. Es war Usanz, dass sich alle Fraktionen um 12 Uhr zum Mittagessen und anschliessendem Jassen aufmachten, jede Partei in einem anderen Restaurant. Die SP tafelte im «Feldschlösschen», die FDP im «Engel», die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP) im «Neuhaus», die Katholisch-Konservativen (heute «Mitte») im «Salmeck», Landesring und EVP im «Ziegelhof», die Partei der Arbeit (PdA) im «Amtshaus». Epple: «Zwischen 14.00 und 14.30 Uhr kehrten sie jeweils zurück. Nach dem opulenten Mahl ergab es sich, dass einige auf den Sitzbänken einschliefen, und ich musste sie mit leichtem Antippen der Schulter wecken.»
Es war die Zeit der Büza, der bürgerlichen Zusammenarbeit. Das heisst, die Bürgerlichen hatten die Mehrheit, nachdem es zuvor die «Roten» waren. Für Epple war es eine spezielle Regierungswahl: «Die Bürgerlichen behaupteten, der SP-Magistrat Leo Mann arbeite mit den Kommunisten zusammen, also mit der PdA, die eine zweistellige Sitzvertretung im Landrat besass.» Leo Mann wehrte sich gegen diese Behauptung. Epple: «In der total gefüllten Militärhalle fand eine Wahlveranstaltung statt, an der Leo Mann deutlich sagte: ‹Auf die Kommunisten bin ich nicht angewiesen.› Die PdA gab daraufhin die Parole heraus: ‹Keine Stimme für Mann!›» Leo Mann wurde nicht mehr gewählt, und die Bürgerlichen holten sich die Regierungsmehrheit.
Grüner Rock mit Kette
Wie sah Fritz Epple aus bei dieser Arbeit im Regierungsgebäude? «Ich trug einen Frack mit goldenen Nadeln und einer Kette sowie einen vergoldeten Stab, wenn ich an der Regierungssitzung anwesend war, und einen nicht vergoldeten Stab im Landratssaal.»
Im Regierungsgebäude waren die Landeskanzlei, der Regierungssaal, der Landratssaal, das kantonale Polizeikommando, der Polizeiposten Liestal, die Direktionen Justiz, die heute noch dort domiziliert ist, Erziehung, Inneres, Sanität und Bau mit ihren zuständigen Regierungsräten, das Kantonsmuseum und das Staatsarchiv untergebracht. Letzteres war zweigeteilt. Das neue Archiv war der Zeit nach der Kantonsgründung 1833 gewidmet, das alte der Zeit davor. «Früher hatte der Pfarrer anstelle der heutigen Zivilstandesämter Taufen, Hochzeiten und Todesfälle dokumentiert. Dieses Archiv wurde gerne und häufig genutzt als Quelle für Wappen- und Familienforschung», erklärt Epple.
Die Finanzdirektion residierte im Amtshaus, wo auch das Untersuchungsgefängnis beheimatet war. Und in der «Gutsmatte», wo heute ein grosser Teil der kantonalen Verwaltung zu Hause ist, wurde damals laut Epple noch «geheuet und geemdet». Zuvor, während des Kriegs, fand dort die Anbauschlacht, basierend auf dem Plan Wahlen, statt: «Das ganze Areal war ein Gemüseangebot für sehr viele Leute.»
Lohn-Überbringer
Als Standesweibel hatte Fritz Epple die verantwortungsvolle Aufgabe, den Regierungsräten ihren Lohn zu überbringen. Auf der Staatskasse holte er jeweils sieben Kuverts mit dem Geld, fünf für die Regierungsräte, zwei für die Landschreiber. Dabei ergaben sich spezielle Gespräche. Wenn er das Kuvert Regierungsrat Max Kaufmann überreichte, erzählt Fritz Epple, sagte dieser: «Ja, Herr Epple, bringen Sie mir schon wieder den Lohn. Ich habe ja den letzten noch gar nicht aufgebraucht.» Ich antwortete: «Ich schon. Sie können mir gerne ein wenig von Ihrem geben.»
Jahre später, von 1971 bis 1983, frequentierte Fritz Epple den Landratssaal in anderer Funktion. Als gewählter Landrat musste er aber nicht mehr mit Sitzbänken, wie es im Jahr 1955 noch der Fall gewesen war, vorliebnehmen, inzwischen stand jeder Landrätin und jedem Landrat ein eigener Sessel zur Verfügung. In der Amtsperiode 1979/80 war es sogar ein spezieller Sitz: Als Landratspräsident besetzte er den Präsidialstuhl, leicht erhöht über den «gewöhnlichen» Mitgliedern.
Nach verschiedenen Funktionen als Mitarbeiter der kantonalen Verwaltung beendete Fritz Epple seine berufliche Laufbahn als Leiter der Schul- und Büroverwaltung Baselland mit seiner Pensionierung im Jahr 1990. Um den politischen Diskurs kümmert er sich nach wie vor und beteiligt sich aktiv an aktuellen Diskussionen, immer noch wie seit jeher als Sozialdemokrat.
Fritz Epple und der Sport
Zu Fritz Epple gehört neben Beruf und Politik auch seine Affinität zum Sport. In den Jahren 1972 und 1980 weilte er als nebenberuflicher Sportjournalist an den Olympischen Spielen in München, wo er über das Attentat gegen das israelische Olympia-Team berichten musste, und in Moskau. Er war Delegationsleiter der Schweizer Leichtathletik-Nationalmannschaft an Länderkämpfen und Pressechef des Schweizer Teams an der Leichtathletik-Europameisterschaft im Jahr 1966 in Budapest.
Er ist ein eingefleischter Fan des FC Basel, der den Klub an viele Europacup-Partien ins Ausland begleitete. Als junger Mann war er zudem Sprinter und im Jahr 1948 Mitbegründer des Sportclubs Liestal, der zahlreiche Schweizer Meister hervorbrachte.
Heute lebt der 98-Jährige im Wohnund Pflegezentrum Tertianum in Liestal – unweit des Regierungsgebäudes. Den Umbau kann er also von zu Hause aus beobachten.