Das «moderne Rütli» ist vorübergehend zu
11.07.2025 Gesellschaft, BaselbietIm Bahnhofbuffet Olten wurden Parteien und Verbände gegründet – hier traf sich die Schweiz
Das Bahnhofbuffet brachte die Schweiz zusammen und versinnbildlicht wie kein anderes Lokal die Lage Oltens in der «Mitte» der Schweiz. Zurzeit wird es von den SBB saniert. ...
Im Bahnhofbuffet Olten wurden Parteien und Verbände gegründet – hier traf sich die Schweiz
Das Bahnhofbuffet brachte die Schweiz zusammen und versinnbildlicht wie kein anderes Lokal die Lage Oltens in der «Mitte» der Schweiz. Zurzeit wird es von den SBB saniert. Obwohl die Zeiten der Bahnhofsrestaurants vorbei sind, hofft die Stadt auf das Fortbestehen ihres Buffets.
Lorenz Degen
Am 25. Juni kurz vor 17 Uhr wurde Zugreisenden wieder einmal eindrücklich vor Augen geführt, wie zentral Olten im schweizerischen Bahngefüge liegt. Ein junger Mann kletterte auf einen Fahrleitungsmast – die SBB kappten zur Sicherheit den Strom im Raum Olten. Der nationale Zugverkehr kollabierte: 90 Züge blieben stehen, Verbindungen zwischen Bern, Zürich, Basel und Luzern waren stundenlang unterbrochen. Wer von Luzern nach Basel wollte, musste über Zürich. Wer von Bern nach Zürich reiste, fuhr über Basel.
In früheren Zeiten wären viele der Gestrandeten wohl ins Bahnhofbuffet Olten gegangen. Dort hätte man bei Suppe und Bier über die nationale Verkehrslage sinniert – oder einfach auf den nächsten Anschluss gewartet. Das Buffet, eingeklemmt zwischen Gleis 4 und 7, wirkt unscheinbar, ist aber ein Denkmal der Schweizer Geschichte.
Gegründet 1856, acht Jahre nach dem Bundesstaat, gehört das Bahnhofbuffet Olten fast schon zur nationalen Infrastruktur. Die Dreitannenstadt war – und ist – der Eisenbahnknotenpunkt der Schweiz schlechthin (siehe Kasten). Das Buffet wurde zur Drehscheibe des Austauschs, ein Ort, wo die Schweiz debattierte, speiste und sich gründete. Hier entstand nicht nur der Schweizerische Alpenclub (1863), sondern auch der Gewerkschaftsbund (1880), die FDP (1894) und der Fussballverband (1895). Nicht von ungefähr nannte man das Buffet das «moderne Rütli».
Literaten wie Peter Bichsel, Adolf Muschg und Max Frisch trafen sich hier, doch das Bahnhofbuffet beherbergte nicht nur grosse Namen. In den Sälen und Sitzungszimmern im ersten Stock trafen sich Tag für Tag Sachbearbeitende, Vereinsvorstände und Branchenvertreter, um das Land im Kleinen am Laufen zu halten. Die Liste der Organisationen, die sich hier begegneten, ist so lang, dass sie schier nicht aufzählbar ist. Verbände mit Abkürzungen aller möglichen Buchstabenkombinationen verhandelten im ersten Stock des Bahnhofbuffets, sie organisierten Anliegen der Schweiz und wälzten Ordner um Ordner.
Ab 1918 führte Hans-Richard Dietiker das Lokal. Die SBB hatten in den 1920er-Jahren das Potenzial der Bahnhofsrestaurants erkannt und erwirtschafteten mit ihnen bis zu einem Zehntel ihres Umsatzes. In den Boomjahren des Bahnverkehrs war das Buffet nicht nur ein Treffpunkt, sondern auch ein gewichtiger Wirtschaftsfaktor für die Stadt Olten: das umsatzstärkste Lokal im ganzen Kanton Solothurn.
1947 trat Josef Wilhelm Hofmann als Pächter an, später übernahm Eugen Pauli – Sohn des Aarauer Buffetwirts – das Haus und führte es bis 1973. Danach ging das Buffet an die Schweizerische Speisewagen-Gesellschaft (SSG, siehe Kasten). Mit ihr begannen die goldenen Zeiten allmählich zu verblassen. 2001 ging die SSG in der italienischen Firma Autogrill auf, deren Kerngeschäft das Betreiben von Autobahnraststätten ist.
Verewigt im Reiseführer
Charlotte Spindler (79), Zürcher Journalistin und Autorin des ersten Reiseführers über Schweizer Bahnhofbuffets, erinnert sich: «Mein Mann Hans Jörg Rieger, er ist leider vor einigen Monaten verstorben, war viel in der Schweiz unterwegs. Er inventarisierte Ortsbilder, ich begleitete ihn manchmal dabei, und da kehrten wir auch gerne ein. So sah ich viele Bahnhofbuffets im ganzen Land.»
1992 reisten Spindler, ihr Mann und ihr zwölfjähriger Sohn einen Sommer lang quer durch die Schweiz, um alle 140 Bahnhofbuffets zu besuchen – auch jenes in Olten. Bedingung war: Das Lokal musste sich im Aufnahmegebäude befinden. «Die Bahnhofbuffets waren im Kursbuch vermerkt, ein dunkles Glas stand hinter dem Stationsnamen. So erstellten wir eine Liste und fuhren einen Sommer lang kreuz und quer durchs Land.»
Spindler beschreibt die Atmosphäre der Buffetkultur so: «Damals gab es oft ein Buffet erster und zweiter Klasse, und alle waren bedient. Es gab selten Selbstbedienungsbuffets.» Und: «Die Buffets erster Klasse waren nobler, dorthin gingen gern auch Frauen.» In Schaffhausen etwa hätten sich Damen sonntags getroffen, um ein 3-Gänge- Menü zu geniessen. Das Buffet zweiter Klasse sei urchiger gewesen, dasjenige in Basel «gediegen, mit Kunstwerken ausgestattet».
Wie das Buch entstand, erzählt sie nüchtern und zugleich mit Stolz: «Wir gingen anonym in die Buffets, schrieben eine Zusammenfassung und legten je nachdem den Wirten unseren Bericht vor.» Und obwohl sich manche Wirte daran störten – etwa an der Formulierung «saurer Zizerser» –, blieb der Text unverändert. «Denn uns bezahlte von dieser Seite niemand etwas für das Buch. Nicht die SBB, nicht die Vereinigung der Buffet-Wirte, für die wir ja beste Werbung machten.»
Eine Kultur, die verloren ging
Heute, mehr als 30 Jahre später, ist Spindler ernüchtert: «Wir leben in einer ganz anderen Zeit. Bahnhofbuffets sind eine Kultur, die verschwunden ist. Es gibt nur noch wenige, wie dieses in Olten, die überlebt haben. An den meisten Orten, wo früher Buffets waren, befinden sich heute Schnellimbisse oder Läden, vielleicht sogar ein Nagelstudio.»
Was Spindler besonders vermisst: «Das Essen war in manchen Buffets sehr gepflegt. Dann die Atmosphäre, das Buffet erster Klasse in Göschenen zum Beispiel war ein wunderbarer grosser Raum, und der Wirt war ein bekannter Heimatdichter.» Gleichzeitig warnt sie davor, zu sehr der Vergangenheit nachzuhängen: «Man darf sich nicht zu lange mit dem Verschwundenen aufhalten, das ist nicht gut für die Psyche.»
Zukunft ist unklar
Am 20. Dezember 2024 schloss das Bahnhofbuffet Olten vorerst seine Türen. Die bisherige Pächterschaft Autogrill hat den Vertrag mit den SBB nicht erneuert. Diese kündigten eine Sanierung bis Herbst 2025 an. Danach soll das Lokal unter neuer Leitung wiedereröffnet werden. Wer die neuen Betreiber sind, ist noch nicht bekannt. Mediensprecherin der SBB Mara Zenhäusern schreibt auf Anfrage der «Volksstimme»: «Die neuen Betreiber werden nach Unterzeichnung der entsprechenden Verträge bekannt gegeben. Darüber hinaus können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Angaben machen.»
Oltens Stadtpräsident Thomas Marbet vermisst das Traditionslokal: «Es macht mich schon wehmütig, zu sehen, wie es jetzt leer steht. Gastronomisch habe ich es nicht als Highlight in Erinnerung, aber ich habe an einigen Sitzungen und Zusammenkünften teilgenommen.» Olten ohne diesen Treffpunkt sei nicht vorstellbar: «Für mich brauchen Olten und der Bahnhof unbedingt ein Buffet, wo sich Oltnerinnen und Oltner, aber auch Reisende, treffen und sich austauschen können.»
SBB als Gastrobetrieb
ld. Die Schweizerische Speisewagen-Gesellschaft (SSG), 1903 gegründet, betrieb nicht nur Speisewagen in Schnellzügen, sondern auch mehrere Bahnhofbuffets – etwa in Chur, Olten und Romanshorn – sowie Gastrobetriebe auf Bodensee-Schiffen und einige Autobahnraststätten. In den 1970er-Jahren wurden täglich rund 90 Züge mit Speisewagen bedient. Das Essen wurde an Bord frisch zubereitet, später zunehmend mit vorgefertigten Produkten. Der Aufwand war enorm: Rund 500 Mitarbeitende arbeiteten für die SSG, dazu kamen eigene Wäschereien, Lagerhäuser und Personalunterkünfte in Städten wie Basel oder Genf. Ab 1987 übernahm der Unternehmer Beat Curti die SSG in Etappen und formte sie zur Firma Passagio um. Diese ging im Jahr 2000 an den italienischen Raststättenbetreiber Autogrill. Der Speisewagenbetrieb wurde 2001 ausgelagert und an die SBB übergeben.
Entstehung des Eisenbahnknotens Olten
nsc. Die Lage Oltens als zentraler Eisenbahnknoten ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines politischen und wirtschaftlichen Ränkespiels Mitte des 19. Jahrhunderts. Ursprünglich war geplant, die drei grossen Städte Basel, Bern und Zürich auf kürzestmöglichen Linien zu verbinden – ein Dreieck, das Olten umging. Olten lag zwar mitten im Dreieck, hatte aber durch den politischen Einfluss von Josef Munzinger, einem Oltner Bundesrat, und dessen Jugendfreund Johann Jakob Trog in der Centralbahn-Gesellschaft gute Karten. Der Bundesrat entschied sich für nur einen Juradurchstich – von Basel nach Olten – und damit für eine sternförmige Linienführung.
Die Stadt Olten unterstützte den Bau mit grosszügigen Landabtretungen. Ab 1856 wurde der Bahnhof Olten zum Eisenbahnknoten, der bis heute seine Bedeutung als Verkehrszentrum der Deutschschweiz hat.
Die «Volksstimme» stellt in der sechsteiligen Serie «Ein Sommer in Olten» die Dreitannenstadt aus verschiedenen Blickwinkeln vor. Die Beiträge erscheinen im wöchentlichen Rhythmus.