Akzeptieren statt separieren
06.09.2024 Bezirk Liestal, Seltisberg54 Jahre sind seit der Geburt von Markus vergangen. Er kam mit schweren Behinderungen zur Welt. Die heute betagten Eltern geben einen Einblick in ihr Leben mit Markus, in der Hoffnung auf mehr Verständnis für betroffene Familien.
Brigitte Keller
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54 Jahre sind seit der Geburt von Markus vergangen. Er kam mit schweren Behinderungen zur Welt. Die heute betagten Eltern geben einen Einblick in ihr Leben mit Markus, in der Hoffnung auf mehr Verständnis für betroffene Familien.
Brigitte Keller
Vor einigen Wochen berichtete eine Mutter in der «Volksstimme», wie es war, als ihr Kind kurz nach der Geburt verstarb, und wie sie gelernt hat, damit zu leben (siehe «Volksstimme» vom 4. Juli, Seite 11). Diese Geschichte berührte manche Leserinnen und Leser. So auch den heute 85-jährigen Vater des schwer behinderten Markus. Das Leben seines Sohnes hing bei der Geburt vor 54 Jahren an einem seidenen Faden. Er überlebte. Was danach folgte, davon handelt diese Geschichte. Und auch davon, welchen Beitrag jeder einzelne Mitmensch leisten kann, um das Leben von betroffenen Familien vielleicht ein ganz kleines bisschen leichter zu machen.
Die Geburt von Markus dauerte unendlich lange. Der Vater verbrachte die ganze Zeit alleine in einem separaten Raum. Nach einer Zeit, die dem Vater ewig lang vorkam, informierte ihn eine Hebamme, dass der kleine Bub leben würde und noch alle Glieder habe. Den kleinen, geschundenen Körper des Neugeborenen haben die Eltern noch immer vor Augen. Auch mit der Distanz von mehr als 50 Jahren spürt man noch, wie traumatisch die Stunden damals gewesen sein müssen. Dass ihr Sohn keine Lebenszeichen mehr von sich gab, als er endlich auf der Welt war, und reanimiert wurde, davon erfuhren die Eltern erst durch einen Zufall viele Jahre später.
Das Baby erlitt schwere körperliche und kognitive Beeinträchtigungen. Es konnte nicht schlucken. Es hatte auch keinen Reflex zu husten, wenn Speichel in die Luftröhre gelangte. Der Speichel musste also regelmässig abgesaugt werden und die Ernährung erfolgte über eine Magensonde. Trotz all dieser lebensbedrohlichen Beeinträchtigungen entschieden sich die Eltern gegen die Empfehlung der Spezialisten, das Kind in ein Heim zu geben. Die Mutter lernte die Handhabung mit den Instrumenten zum Absaugen und Sondieren, und dann nahmen die Eltern ihren Sohn im Alter von acht Monaten mit nach Hause.
Wie hoch – oder gering – die Chancen damals eingeschätzt wurden, dass der kleine Bub überleben würde, ist nicht bekannt. Die Eltern suchten alle Informationen zusammen, die ihnen weiterhelfen konnten. Die vielen Fachbücher in einem Regal im Wohnzimmer zeugen noch heute davon. Durch ihre Recherchen stiessen sie unter anderem auch auf eine renommierte Logopädin aus Zürich. Diese riet den Eltern dringend, möglichst früh mit Therapien zu beginnen, die es ermöglichen könnten, dass das Kind Gehen und auch Schlucken lernen könnte.
Drei Löffelspitzen Brei geschluckt!
Welchen enormen Aufwand dies alles für die Familie mit sich brachte, kann nur erahnt werden. Auf sich gestellt, tägliches Training, über Monate und Jahre. Anfänglich fuhr die Familie regelmässig zur Spezialistin nach Zürich. Der Einsatz wurde belohnt: Markus lernte, selbstständig zu schlucken. Der Vater kann sich noch an den Tag erinnern, als ihm seine Frau beim Nachhausekommen berichten konnte, dass der Eineinhalbjährige zum ersten Mal drei Löffelspitzen voll Brei selbstständig geschluckt hatte. Die Familie war später gar einmal zu einer Weiterbildungsveranstaltung eingeladen worden – als herausragendes Beispiel, dass der Bub trotz seiner Unterempfindlichkeit gelernt hatte zu schlucken.
Unzählige Stunden an Physiotherapie forderten die Familie mental und zeitlich. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen halfen ihnen und den involvierten Fachpersonen, immer besser auf die Bedürfnisse von Markus einzugehen und dadurch grosse Fortschritte zu erzielen. Mit Zureden oder Zwang konnte nie etwas erreicht werden. Einzig Anregungen und grosse Geduld wurden belohnt. Markus lernte laufen. Die Erleichterung der Eltern war enorm.
Lebenslange Herausforderungen
Als die Zeit der Einschulung näher rückte, tauchte die Frage auf, wo und wie Markus unterrichtet werden könnte. Eine heilpädagogische Schule lehnte ihn ab, da er anfänglich noch Windeln trug. Dann empfahl ihnen ein Bekannter den «Sonnenhof – Zentrum für Menschen mit Behinderung» in Arlesheim. Deren Philosophie, basierend auf den Grundlagen der anthroposophischen Menschenkunde, entsprach der Familie, und sie zügelten nach Arlesheim. Bis Markus zwölf Jahre alt war, wohnte er weiterhin zu Hause und ging von dort aus täglich in den «Sonnenhof». Die folgenden Jahre wohnte er dann im Heim, weil die ganze Betreuung, die zu Hause stattfand, finanziell nicht abgegolten wurde.
Nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit konnte Markus in Gempen eine «Ausbildung» zum Weber besuchen. Gewohnt hat er damals in einem neuen Heim. Dieses musste er verlassen, weil seine Eltern interveniert hatten, als sich herausstellte, dass es regelmässig zu unbegleiteten Treffen mit einer Frau kam, ohne dass sie darüber informiert worden waren.
Die Trennung von der Frau und der erzwungene Wechsel des Heims warfen den jungen Mann aus der Spur. Auf der Suche nach einer geeigneten Therapie wurden die Eltern in Riehen fündig. Eines Tages fuhr Markus nach der Therapiestunde – statt zurück in die Stadt und ins Heim – nach Inzlingen. Der Vater informierte das Heim sofort über die Verspätung. Die Heimleitung konnte der Eigeninitiative des jungen Mannes nichts abgewinnen und machte einen Aufstand. «Das Vertrauensverhältnis war danach beeinträchtigt», sagt der Vater, und Markus wohnte in der Folge wieder im Haus seiner Eltern.
Höhen und Tiefen begleiteten die Familie all die Jahre. So hatte Markus auch oft mit Lungenentzündungen zu kämpfen, die immer wieder mit Antibiotika behandelt wurden. Durch die Intervention der Eltern veranlasste Jahre später ein Facharzt auf der «Barmelweid» eingehende Untersuchungen. Diese ergaben, dass ein Lungenflügel ungenügend bis gar nicht durchlüftet wurde. Offenbar, so die Diagnose, war nach der Geburt beim Beatmen mit zu viel Druck Luft in die Lungen gepresst worden, was zum Platzen und anschliessenden Vernarben der Lungenbläschen geführt hatte.
Viele Spannungsfelder
Seit rund vier Jahren wohnt Markus nun in einer Einrichtung der Eingliederungsstätte Baselland. Dort fühlt er sich wohl. Noch lieber würde er gerne «selbstständig» wohnen mit der Hilfe einer oder mehrerer unterstützenden Personen. Die Erfüllung dieses Traums dürfte es schwer haben. Markus sehnt sich auch nach Liebe und Zärtlichkeiten eines Gegenübers. Wieder war es der Vater, der sich eingehend beraten liess und dadurch auf die sogenannten «Berührerinnen» aufmerksam gemacht wurde. Eine erneute herausfordernde Situation für die Eltern. «Es gibt sehr viele Spannungsfelder, in denen man sich bewegt», sagt der Vater dazu.
54 Jahre ist Markus mittlerweile alt und genauso lange kümmern sich und kämpfen seine Eltern für ihren Sohn, um ihm ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen. Ihre Tochter, die zwei Jahre nach Markus gesund zur Welt gekommen ist, habe sich oft zurückgesetzt gefühlt, sagen die Eltern, die bei der Betreuung des Sohnes zu Hause keine Unterstützung hatten und mit ihren Kräften oft am Ende waren. «Meine Frau hat Unermessliches geleistet», sagt Markus’ Vater, «ohne sie hätte unser Sohn nicht lange überlebt.»
Die langjährige Betreuung ihres Sohnes macht die Eltern zu Spezialisten. Doch nicht immer sei dieses Wissen anerkannt, nicht selten gar als unerwünscht abgelehnt worden, sagen sie. Gewisse Altersbeschwerden hindern sie nun daran, ihren Sohn weiterhin so aktiv zu unterstützen und zu Therapien ausserhalb des Heims oder auch einmal an Veranstaltungen zu begleiten.
Wünsche an die Mitmenschen
Markus’ Eltern finden es schade, dass beeinträchtigte Kinder von Anfang an «separiert» werden und dadurch gesunde Kinder kaum noch Berührungspunkte haben mit ihnen. Der Umgang miteinander könne so nicht stattfinden und dadurch bleibe gegenseitiges Verständnis unmöglich. Doch genau dieses Verständnis und Wissen wären wertvoll im Alltag. Heutzutage wüssten viele nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie von einer Person mit Behinderung angesprochen werden. Sie erschrecken sich, sind schroff oder beschimpfen die Person sogar. Dies alles aus Unsicherheit und Unwissen, ist der Vater überzeugt.
Eine grosse Erleichterung für die Eltern wären auch Personen, die bereit sind, Markus hin und wieder an eine Veranstaltung zu begleiten. Markus hat schon früh gelernt Klavier zu spielen, und besucht aktuell wöchentlich eine Unterrichtsstunde an der Regionalen Musikschule Liestal. Gerne besucht er auch selber Konzerte, an die ihn aber immer jemand begleiten muss. Gerne würde er auch ab und zu einen ganz normalen Gottesdienst in der Kirche besuchen, was auch in Begleitung einer verständnisvollen Person möglich wäre, wie die Eltern sagen: «Wir freuen uns, wenn interessierte Menschen auf uns zukommen und mehr erfahren möchten.»