«Es darf nichts mehr vertuscht werden»
29.09.2023 Baselbiet, KircheZahlreiche Austritte aus der Katholischen Kirche Baselland wegen sexueller Missbräuche
In den Römisch-katholischen Kirchen Baselland häufen sich seit der Veröffentlichung einer Studie über sexuelle Übergriffe in der katholischen Kirche die Austritte. Die Nulltoleranz-Haltung soll nun ...
Zahlreiche Austritte aus der Katholischen Kirche Baselland wegen sexueller Missbräuche
In den Römisch-katholischen Kirchen Baselland häufen sich seit der Veröffentlichung einer Studie über sexuelle Übergriffe in der katholischen Kirche die Austritte. Die Nulltoleranz-Haltung soll nun durchgesetzt werden, sagt Kirchenratspräsident Ivo Corvini.
André Frauchiger
Ivo Corvini, der Präsident der Römisch-katholischen Landeskirche Baselland, hält fest: «Sexuelle Missbräuche müssen mit allen Mitteln bekämpft werden. Jedes Opfer ist eines zu viel.» Und dies sowohl in der Gesellschaft generell als auch in der Kirche. Er bezieht sich in seiner Aussage auf die kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Zürich, in der aufgezeigt wird, dass in der Schweiz in den vergangenen 70 Jahren katholische Kleriker und Ordensangehörige mindestens 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch in den römisch-katholischen Kirchen des Landes begangen haben.
Ganz wichtig ist laut Ivo Corvini, dass nichts mehr vertuscht werden dürfe. Und weiter: «Die Opfer müssen neben einer formellen Entschuldigung der Kirche auch eine angemessene finanzielle Entschädigung erhalten.» Die sexuellen Missbräuche in der katholischen Kirche in den vergangenen 70 Jahren seien in dieser Grössenordnung für ihn überraschend gewesen, so Corvini. Die Hälfte der Fälle falle zwar auf die ersten 20 Jahre, dies sei dabei aber nur ein schwacher Trost und keineswegs eine Entschuldigung.
Der Landeskirchenpräsident, der beruflich als Anwalt tätig ist, sagt: «Es muss in der Kirche bei Missbrauchsvorfällen Nulltoleranz herrschen.» Eine Schlüsselfunktion komme dabei den Anstellungsbehörden in den Kirchgemeinden zu, dies in enger Zusammenarbeit mit den mitverantwortlichen Priestern und Bischöfen. «Der Informationsfluss zwischen den Kirchgemeinden und den Bischöfen muss eng und offen sein», so Corvini.
Auch bei den Kirchenmitarbeitenden müsse mit den Anstellungsbehörden die Aufsicht gewährleistet sein. Die Verantwortlichen sollten im Falle eines Verdachts auf sexuellen Missbrauch sofort eine Untersuchung in die Wege leiten. «Liegen die Ergebnisse vor, muss rasch gehandelt werden. Es darf nicht mehr zu Vertuschungen kommen», sagt Corvini. Über die Gesamtzahl der Kirchenaustritte im Kanton seit der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie kann der Kirchenratspräsident derzeit noch nichts sagen. Darüber wüssten im Moment einzig die einzelnen Kirchgemeinden Bescheid. Klar ist laut Medienberichten aber, dass sich die Austritte zuletzt stark gehäuft haben.
Esther Salathé, Leiterin der Familienseelsorge in der Kirche Bruder Klaus in Liestal, und Sabine Brantschen, Seelsorgerin in der gleichnamigen Kirche in Oberdorf, zeigen sich auf Anfrage beide tief bestürzt über die Anzahl der Missbräuche in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Die Reaktionen in den Kirchgemeinden seien dementsprechend: In den Gemeinden Liestal und Oberdorf sind ebenfalls einige Kirchenaustritte festgestellt worden. Sabine Brantschen: «Es tut weh. Die Anzahl Missbräuche ist hoch, doch die Fakten überraschen mich nicht.» Aufgrund der vielen Missbräuche, die im Ausland aufgedeckt worden waren, sei leider zu befürchten gewesen, dass es in der Schweiz nicht viel besser aussehe, führt Brantschen weiter aus.
Die Kirchenaustritte erfolgten bisher alle schriftlich. Das Entsetzen, die Verärgerung und Enttäuschung seien überdeutlich, die Aussagen für den definitiven Austritt klar: «Die Austretenden unterstreichen, dass sie kein Vertrauen mehr in die Institution Kirche haben», sagt Esther Salathé. Im Augenblick sei die Situation so angespannt, dass auf klärende Gespräche mit den Austretenden verzichtet werde. «Es tut uns leid für alle Kirchenmitglieder und die Menschen, die sich für das kirchliche Leben engagieren und zu einem grossen Teil auch ehrenamtlich mitarbeiten», so Brantschen. Die Situation täte ihr weh und beschäftige sie sehr.
Sensibler reagieren
Wie der Kirchenratspräsident Ivo Corvini, unterstreichen auch Esther Salathé und Sabine Brantschen, dass es eine Nulltoleranz gegenüber den Tätern geben muss. Für Brantschen ist das Machtgefüge in der katholischen Kirche ein grundsätzliches Problem. Das Zölibat, nach dem sich katholische Priester zu einem Leben ohne Ehe und zu sexueller Enthaltsamkeit verpflichten, kann in ihren Augen für die Missbräuche verantwortlich sein. Doch es seien nicht nur Geistliche, die in der Kirche Übergriffe begangen hätten, sondern auch andere Mitarbeitende, unterstreichen beide Frauen.
Sexuelle Übergriffe seien in der heutigen Gesellschaft ein wiederkehrendes und stets präsentes Problem. Sabine Brantschen weist mit Nachdruck darauf hin, dass die Täter eine Minderheit in der katholischen Kirche darstellten und es viele Priester und religiöse Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebe, die ihre Arbeit sehr ernst nehmen und viel Gutes tun.
Trotz aller negativer Reaktionen sieht Esther Salathé für die römischkatholische Kirche noch Hoffnung. Veränderungen müssten nun kommen: Das Zölibat, die Stellung der Frauen, Bischöfe und Priester in der Kirche – dies alles müsse hinterfragt werden. «Ich halte das Zölibat für lebensfeindlich», sagt Sabine Brantschen dazu. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Modernisierung der römischkatholischen Kirche sei unabdingbar.
«Es ist zu hoffen, dass die hohe Zahl an Kirchenaustritten bald wieder rückläufig ist, denn die Kirche braucht viele offene und herzliche Mitglieder, um eine nachhaltige und gute Zukunftsperspektive aufbauen zu können», betont die Seelsorgerin aus Oberdorf. Die Kirchgemeinde in Liestal plant, nach den Herbstferien zu einer allgemeinen Aussprache einzuladen. Die Kirchenmitglieder sollen aufgefordert werden, ihre Meinung kundzutun und sich gegenseitig auszutauschen. Dies werde für die Gesprächsleitung und die Kirche sicher kein einfacher Anlass, so Brantschen. Aber mit der offenen Aussprache wird die Hoffnung verbunden, dass nun wesentliche Reformen in Angriff genommen werden können.