Schwungvolle Übersetzung ins Lautlose
25.08.2023 Bezirk Sissach, SissachSpät berufen lässt sich Alexandra Bruch zur Gebärdensprachdolmetscherin ausbilden
Sprachen, andere Kulturen, Theater und das Singen sind die Leidenschaften der Sissacherin Alexandra Bruch. Wissen aus diesen Gebieten hilft ihr auch in ihrer Zweitausbildung. Im Alter von 45 Jahren hat die ...
Spät berufen lässt sich Alexandra Bruch zur Gebärdensprachdolmetscherin ausbilden
Sprachen, andere Kulturen, Theater und das Singen sind die Leidenschaften der Sissacherin Alexandra Bruch. Wissen aus diesen Gebieten hilft ihr auch in ihrer Zweitausbildung. Im Alter von 45 Jahren hat die gelernte Coiffeuse das Studium des Gebärdensprachdolmetschens begonnen.
Jürg Gohl
Auf den beiden vordersten Sitzen, ganz rechts, haben Alexandra Bruch und ihre jüngere Studienkollegin Michelle Eyholzer Platz genommen. Auf dem Podium der Dorfturnhalle sitzt der Sissacher Gemeinderat und arbeitet sich durch die Traktandenliste, während sich die beiden Frauen abwechselnd bemühen, das Gesagte in Gebärdensprache zu dolmetschen. Nach rund einer Viertelstunde werden die Rollen getauscht. Beide tragen schmucklose schwarze Kleider; so lassen sich die Gebärden für die zusehende Kollegin einfacher erkennen und verstehen.
Die beiden Studentinnen des Gebärdensprachdolmetschens haben sich damit gleich das schwierigste Betätigungsfeld ausgesucht, um das Gelernte zu üben. Das beginnt bereits damit, dass sie sich in die rund 50 Seiten umfassenden Erläuterungen zur Einwohnergemeindeversammlung einlesen mussten, um sich ausreichend Wissen anzueignen. Hinzu kommt die Hitze an jenem 20. Juni, die es ihnen zunehmend erschwert, ihre Konzentration hochzuhalten. «Die anderen Einwohnerinnen und Einwohner können es sich erlauben, gedanklich mal abzutauchen», sagt Alexandra Bruch, die selber in Sissach wohnt, «das geht bei uns nicht.»
Ein vierjähriges Studium
Hinzu kommen noch Zwischenrufe aus dem Plenum oder die vielen «Ähms» der Sprechenden aus den Stuhlreihen. Und als Finanzchef Lars Mazzucchelli bei der Präsentation der Rechnung zu einem kurzen, unplanmässigen Exkurs über den Unterschied zwischen dem Steuerfuss und dem Steuersatz ausholte, war für die beiden Gebärdensprachdolmetscherinnen in Ausbildung Improvisationskunst gefragt. Leises oder zu schnelles Sprechen bieten weitere Hindernisse. Aber sie hätte viel dabei gelernt, erstmals in einem grossen Rahmen zu «gebärden», wie diese Tätigkeit genannt wird.
Alexandra Bruch studiert seit zwei Jahren an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich das Gebärdsprachdolmetschen und hat dort noch zwei weitere Jahre vor sich. Sie darf nichts über Einsätze verraten, nicht einmal, wo sie stattfinden; das verbiete der Ehrenkodex. Aber das Betätigungsfeld ist riesig, in welchem ihre Fähigkeiten später benötigt werden: Elterngespräche, Arztbesuche, Führungen, Uni-Vorlesungen. «Eigentlich das ganze Leben», fasst sie zusammen.
Neben den drei Landessprachen in der Schweiz gibt es drei unterschiedliche Gebärdensprachen. In der Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS) gibt es ausserdem fünf verschiedene Dialekte.
Bersets Glatze, Thunbergs Zopf
Die Gebärde beispielsweise für Brot sei in St. Gallen eine andere als in Basel, erklärt sie und führt die beiden Varianten gleich vor. Die Gebärdensprache sei eine vollwertige Sprache mit eigener Grammatik. Auch für öffentliche Personen müssen sich Gebärden etablieren, damit nicht immer auf das zeitraubende Finger-Alphabet zurückgegriffen werden muss: Für Berset muss die Frisur, für Thunberg der Haarzopf und für die verstorbene Queen die winkende Hand herhalten.
Alles erfordert neben dem reinen Dolmetschen auch noch spezifisches Fachwissen und eine solide Allgemeinbildung. Die Erfahrungen des Dolmetschens für gehörlose Menschen stehen bei ihr allerdings noch aus. Bisher hat sie nur mit Hörenden üben können und blickt ihrem ersten richtigen Einsatz mit viel Respekt entgegen. In ihr Trainingsprogramm hat sie auch die mit der Gebärdensprache ergänzte «Tagesschau» aufgenommen – natürlich mit ausgeknipstem Ton.
Alexandra Bruch ist 47 Jahre alt und damit die Älteste in ihrem Studium. Dass sich die gelernte Coiffeuse und Verkäuferin gleichwohl an diese Herausforderung wagt, hängt stark mit ihrem grossen Interesse für Sprachen zusammen. Sie ist in Saarbrücken aufgewachsen und entwickelte früh eine Leidenschaft für das Singen, andere Kulturen und Sprachen. Noch heute singt sie bei den «Bo Katzman-Singers». «Der Liebe wegen» sei sie in die Schweiz gekommen, hier habe sie in eine Familie von Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern geheiratet, ebenso habe sie sich auch in die Schweiz verliebt.
Gestik und Mimik sind Elemente, die auch beim Gebärden sehr wichtig sind, wo alleine eine hochgezogene Augenbraue dem Verständnis dienen kann. Hände und Gesicht sprechen immer mit. Inzwischen handelt es sich aber bisweilen tatsächlich um Gebärden aus ihrem neuen Fachgebiet, das passiert ihr mittlerweile automatisch.
Die Persönlichkeit zügeln
Beim Dolmetschen gilt es aber, das Temperament zu dosieren. Die Persönlichkeit der zu dolmetschenden Person muss wiedergegeben werden. Sie soll im Zentrum stehen, nicht die Dolmetschende selbst. Das Mundbild, mit dem die Gebärden unterstützt werden, hält sich indes an das Hochdeutsche.
Nach ihrer ersten Einwohnergemeindeversammlung ist für sie auch klar, dass sie sich an einer der nächsten privat in eine hintere Reihe setzen wird. «Es war interessant», sagt sie. Dann könnte sie sich auch einmal erlauben, die Konzentration zu verlieren. Zumal sie den Unterschied zwischen Steuersatz und Steuerfuss inzwischen bestens kennt.
Informationen zum Studiengang unter www.hfh.ch
«Ohne Hilfe unter Stress»
jg. Sophia Obrist, wie sie hier genannt werden soll, ist eine diplomierte Grafikerin und Fotografin aus Basel, die im Allgäu aufgewachsen und von Geburt an Lippenleserin ist und auf zwei starke Hörgeräte angewiesen war. Erst mit 19 Jahren kam sie mit anderen Gehörlosen und der Gebärdensprache in Kontakt, die ihr neue Möglichkeiten eröffnete. Sie ist froh, auf Dolmetscher-Dienste zurückgreifen zu können, vor allem bei wichtigen Sitzungen und Meetings.
«Leider» sei es nicht möglich, dass ihr immer eine Gebärdensprachdolmetscherin oder ein -dolmetscher zur Verfügung stehe, vor allem, wenn Sophia Obrist kurzfristig auf diese Dienste angewiesen ist. «Es gibt viel zu wenig von ihnen für die rund 10 000 in der Schweiz», antwortet sie im schriftlich geführten Interview mit der «Volksstimme», «es ist sehr schwierig, sie sind oft ausgebucht.»
Wenn alles klappt, dann sei ihr diese Unterstützung sehr wertvoll, «weil ich endlich viel mehr verstehen kann, worum es geht und worüber genau gesprochen wird.» Ohne diese Hilfe sei sie sehr unter Stress und leide als Folge am Abend zusätzlich «extrem» unter Kopfschmerzen und unter Verspannungen.
Ihre Einschränkungen können sie nicht davon abhalten, als Schauspielerin aufzutreten. So gab sie vor vier Jahren im Neuen Theater in Dornach im «Werther» die Lotte. Die Bühnenadaption von Goethes Briefroman wurde gemischt in gesprochener und gebärdeter Sprache sowie untertitelt aufgeführt.