Ein 88-jähriger Landwirt blickt zurück
25.08.2023 Bezirk Sissach, ZunzgenVom und über den Dorfchronisten Edi Wagner
Zunzger mit Herz und Seele, das ist der 88-jährige Landwirt Edi Wagner. Bis er fünfzehn war, wohnte er mit seiner Familie an der alten Landstrasse unten im Dorf, seither oben auf dem Zunzgerberg.
Brigitte Keller
Wenn ...
Vom und über den Dorfchronisten Edi Wagner
Zunzger mit Herz und Seele, das ist der 88-jährige Landwirt Edi Wagner. Bis er fünfzehn war, wohnte er mit seiner Familie an der alten Landstrasse unten im Dorf, seither oben auf dem Zunzgerberg.
Brigitte Keller
Wenn er an diesem sonnigen Augusttag nicht gerade der Vertreterin der «Volksstimme» Rede und Antwort hätte stehen «müssen», hätte der längst pensionierte Landwirt Edi Wagner seinem Sohn Bruno auf dem Hof beim Emden geholfen. Er wäre mit dem Traktor, vielleicht sogar mit dem grossen mit der klimatisierten Kabine, unterwegs gewesen.
Vom klimatisierten Traktor geht die Erinnerung mit einem Riesensprung zurück in Wagners Kindheit, zurück zum Karren, der damals von Kühen gezogen wurde. Allen Kühen wurde beigebracht, eingespannt zu werden.Auf der rechten Seite lief immer die erfahrenere Kuh, links von ihr diejenige, die es lernen musste. Um die Klauen vor allzu schneller Abnützung und Verletzungen zu schützen, wurden die äusseren Klauen der Vorderfüsse mit je einem Eisen beschlagen. Erst vor Kurzem fand Wagner ein solches Eisen aus jener lang zurückliegenden Zeit beim Arbeiten auf einem Feld.
Sein Grossvater war Zimmermann und Kleinbauer gewesen, sein Vater Jakob Wagner, Dorfname «Zimber Edis Schagg», pachtete zusätzliches Land und hatte sieben Kühe, was damals einer mittleren Anzahl entsprach. «Ich weiss noch, wir hatten immer eine schwarze Kuh, sonst hatte man ‹Gefleckte›. Die schwarze fiel sofort auf», sagt Wagner und lacht.
Faxen und Sprünge
Abends liess man die Kühe immer zum Tränken frei an den nahen Dorfbrunnen laufen. Machten sie besonders wilde Faxen und Sprünge, stand meistens schlechtes Wetter oder der erste Schnee bevor, erzählt Wagner. Er kann sich noch lebhaft daran erinnern, dass einmal eine der Kühe gar in eine kleine Küche hineinsprang. Nur mit Mühe, und erst, nachdem sie einen Fladen im Schüttstein hinterlassen hatte, konnte sie wieder rausbugsiert werden. Diese Geschichte wurde seinem Vater jahrelang genüsslich unter die Nase gerieben.
Einige der aus dieser Zeit vorhandenen Fotos machte ein guter Bekannter der Familie aus Basel. Dieser kam nicht etwa des Vergnügens wegen nach Zunzgen, sondern zum Helfen. Belohnt wurde er mit Lebensmitteln, zum Beispiel einer Harasse Äpfel oder einem Sack Kartoffeln, die er abends per Velo und Anhänger nach Hause brachte.
Auch Vater Jakob Wagner hatte ein Flair für Daten und Geschichten aus dem Dorf und über seine Bewohner. Während des Zweiten Weltkriegs war er als Leiter der Ackerbaustelle verantwortlich für die Planung und Einhaltung der sogenannten Anbauschlacht von Bundesrat Wahlen. Dabei musste er beaufsichtigen, dass jeder Landbesitzer mit mehr als 5 Aren Land einen Beitrag leistete. Da auch den Schullehrern jeweils Land zur Selbstversorgung überlassen wurde, musste auch der damalige Lehrer Kestenholz seinen Beitrag leisten. Gemäss der noch im Original vorhandenen Liste musste er den Ertrag von 5 Aren Kartoffeln beisteuern.
«Edi’s Dorfrundgang»
Edi Wagner ergänzt die Notizen seines Vaters laufend, wenn noch irgendwo etwas bis dato Unerwähntes auftaucht. Diese Notizen nimmt der gefragte Dorfchronist jeweils mit, wenn er für einen Rundgang durchs Dorf angefragt wird. Und so sind die Notizen entsprechend mit «Edi’s Dorfrundgang» angeschrieben. Es soll auch schon vorgekommen sein, dass der Gemeindepräsident auf das Erinnerungsvermögen respektive das in den Notizen gesammelte Dorfwissen zurückgegriffen hat.
Während der mageren 1930er-Jahre verdiente sich Vater Jakob Wagner auf dem Bau etwas dazu. Er fuhr täglich mit dem Velo nach Basel und zurück. Beim Bau des Brausebads trug er wie viele weitere Arbeiter «Hutte um Hutte» Beton die Rampen hoch. Abends erzählte er der Familie von den rauen Sitten auf der Baustelle. War einer der Träger etwas zu langsam, bekam er vom Polier Bemerkungen wie «Dir kann man ja während dem Laufen die Schuhe beschlagen» zu hören – und verlor die Stelle.
1951 konnten die Eltern von Edi Wagner und seinen fünf Geschwistern ihren Wunsch nach einem grösseren Bauernbetrieb verwirklichen und den Hof auf dem Zunzgerberg kaufen, inklusive der gesamten Habe. Dazu gehörten auch zwei Pferde. Ab da wurden die Pferde anstelle der Kühe vors Fuhrwerk gespannt. Das war in jenem Jahr, als der junge Edi die landwirtschaftliche Ausbildung absolvierte, damals noch in Liestal.
Ein ganz besonderes Ereignis, das Edi Wagner erlebte, spielte sich 1956 ab. Für den Bau eines neuen Wegs wurden Steine gebraucht. Dabei konnten sich die Bauern mit ihren Fuhrwerken ein Zubrot verdienen und die Pferde hatten gleichzeitig Auslauf. Ein geeigneter Steinbruch sollte nicht allzu weit vom neuen Weg entfernt und die Steine nicht unter allzu viel Humus begraben sein. Wie üblich wurde mit Dynamit gearbeitet. Bei einer der Sprengungen auf der Zunzger Höhe wurden nicht nur Steine freigelegt, sondern auch menschliche Knochen.
Nach kurzem Beraten entschied man sich, beim Kanton in Liestal Bescheid zu geben. Danach hiess es, mit viel kleineren Werkzeugen ganz behutsam weiterzugraben. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Gräber, wohl von Alemannen, aus dem siebten Jahrhundert nach Christus. Die Fundstücke – Gebeine und zu Perlen geschliffene Steine – befinden sich seither in Liestal. Auf Drängen Wagners wurde in der Nähe der Fundstelle eine kleine Gedenktafel installiert.
Ein Vorfahre des Dorfchronisten, Urgrossvater Jakob Wagner-Müller, Dorfname «Büserli Jakob», hat es zu Bekanntheit über die Kantonsgrenze hinaus bis in den süddeutschen Raum gebracht: Er wirkte als Naturarzt. Er verschrieb die «weissen Pülverchen und Kügelchen», also homöopathische Mittel. Auch über ihn berichtet sein Nachkomme Edi Wagner auf seiner Tour durchs Dorf. Leider sei das dicke Buch, das sein Urgrossvater immer konsultiert habe, nicht mehr vorhanden.
«Büserlijokeb»
Eine Bekannte des «Büserlijokeb», wie sie den Naturheiler nannte, war Heimatdichterin Helene Bossert, ebenfalls in Zunzgen geboren und aufgewachsen. Hier ein Auszug aus einem Beitrag, der nachzulesen ist in der Zunzger Dorfchronik, herausgegeben im Jahr 2000:
Der Büserlijokeb het au es Gspüri, es Aug für versteckti Lyde gha. S het diisen und däinen öbbis uf der Seel brennt, s aber nit chönne lösche. S versteckt… Bim Büserlijokeb het ers chönne brysgee. Er het so öbberim zuegloost … Zyt gha … Das elläi scho hetin chönne ufchlöpfe. Zueversichtliger worde. Hüte säit me dene Psychiater.
Auch zum Thema Schule und Schulhaus hat Wagner viel zu berichten, beispielsweise über die sogenannten Heuferien. War schönes Wetter, blies zudem der Gelterkinder (Ost-)Wind und flogen die Schwalben hoch, dann beschlossen der Lehrer und der Schulpflegepräsident, dass es Zeit für die Heuferien wäre. Die Kinder bekamen schulfrei, um beim Heuen zu helfen. War das Wetter zwischendurch schlecht, rief das Schulglöcklein die Kinder zurück. Die Kinder von den entfernten Höfen hörten das Glöcklein nicht und vernahmen die Botschaft erst am nächsten Morgen beim Milchhaus, was sie aber nicht so schlimm fanden.
Reicher Schatz an Anekdoten
Neben Begebenheiten wie dieser kommen die Zuhörer auf einem Dorfrundgang mit Wagner in den Genuss vieler weiterer Bonmots: Ein Lehrer erreichte die lange Dienstzeit von 50 Jahren. Zum Dienstjubiläum sammelte man Geld und kaufte ihm eine Polstergruppe. Für eine Fleischhackmaschine habe das Geld auch noch gereicht.
Weitere Stichworte, zu denen es auf einem Dorfrundgang mehr zu erfahren gibt, sind beispielsweise das Armenhaus, das sich einmal im Gebäude der alten «Cheesi» befand, der Schindelmacher «Holzschuhmeier», das Posamenterhaus, oder woher der Mahlstein auf dem Dorfplatz stammt. Und da gibt es noch die Anekdoten vom Totengräber, der auch Zähne zog und Haare schnitt und dessen Frau Hebamme war, und vieles mehr. «Wenn er alles erzählen würde, was er weiss, wäre die ganze ‹Volksstimme voll›», ist Edi Wagners Ehefrau Trudi überzeugt.
Geheiratet haben Wagners im Mai 1963. Im Lauf der Zeit wurden ihnen 5 Kinder und 13 Grosskinder geschenkt. Und auch schon Urgrosskinder flitzen durchs Haus. Kürzlich konnten die Urgrosseltern ihren 60. Hochzeitstag feiern. Genauso lange singt Edi Wagner – zunächst im Männerchor und heute noch im Gemischten Chor. Dafür hat er sich immer Zeit genommen. Als «Beweis» erwähnt er, dass er am Tag zuvor mit seiner Frau eine Carfahrt unternommen hat und am Abend pünktlich zum Singen im Probelokal war.
Und da gibt es ja auch noch die vier Aren Reben. Nachdem Edi Wagner den Hof an seinen Sohn übergeben hatte, wollte er nochmals etwas Neues beginnen und erfüllte sich damit einen lang gehegten Wunsch. Ein Stück Land an einer milden Südhanglage hatte er dafür schon länger im Auge. «Ich habe den Kurs des Kantons für Hobby-Rebbauern besucht und dann die Rebstöcke, Maréchal Foch für den Roten und Johanniter für den Weissen, gepflanzt. Jetzt haben wir eigenen Wein.» Sagt’s und stellt eine Flasche «Zunzgerberger» auf den Tisch.
Früher hat der 88-Jährige auch gerne Bergtouren unternommen. Regelmässig machte er mit Kollegen aus dem Dorf Tages- und Zweitagestouren, die auch mal über einen Gletscher führten. Es sei immer alles gut gegangen, wobei «wir auch Glück hatten, dass nie etwas passiert ist». Heutzutage darf es etwas bequemer zugehen. So werden er und seine Trudi beispielsweise an der «Volksstimme»-Leserreise in die Pfalz in Deutschland teilnehmen. Vorher trifft man die Wagners aber natürlich am Dorffest an.
Ausstellung im Gemeindehaus
Während des Dorffestes findet eine kleine Ausstellung mit Bildern aus dem Fundus von Edi Wagner statt. Diese befindet sich im Gemeindehaus gleich neben der Kaffeestube des Frauenvereins. Die Ausstellung ist geöffnet am Samstag von 10 bis etwa 22 Uhr und am Sonntag von 9 bis 17 Uhr. Am Samstag wird Edi Wagner ab 11 Uhr persönlich über die ausgestellten Fotografien und die Geschichten dahinter berichten.