«Schule als sicheren Ort erfahren»
10.02.2023 Bezirk Sissach, SissachDie Sek Tannenbrunn führt zwei Fremdsprachenklassen
Geflüchtete Kinder und Jugendliche werden im Baselbiet bis zur Sekundarstufe II in Fremdsprachenklassen auf die Eingliederung in Regelklassen vorbereitet. Seit vergangenem Frühling gibt es in Sissach zwei solche ...
Die Sek Tannenbrunn führt zwei Fremdsprachenklassen
Geflüchtete Kinder und Jugendliche werden im Baselbiet bis zur Sekundarstufe II in Fremdsprachenklassen auf die Eingliederung in Regelklassen vorbereitet. Seit vergangenem Frühling gibt es in Sissach zwei solche Klassen.
Sander van Riemsdijk
Geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne Deutschkenntnisse besuchen im Kanton Baselland in der Regel eine Fremdsprachenintegrationsklasse (FSK) der Primar- und Sekundarschule. Hier erhalten sie intensiven Deutschunterricht. Solche Klassen gibt es auch in der Sekundarschule in Gelterkinden mit einer Klasse, und in der Sek Tannenbrunn in Sissach, wo zwei Klassen geführt werden: Eine Klasse mit insgesamt 15 Schülerinnen und Schülern im Alter von 13 bis 16 Jahren aus Nationen wie Afghanistan, Eritrea, Irak, Süd-Sudan, Spanien, Türkei, Tschechien und Venezuela, und seit vergangenem Frühling eine Klasse ausschliesslich mit geflüchteten ukrainischen Jugendlichen.
Das Ziel ist eine Teil- und anschliessende Vollintegration in die Regelklassen. «Die ukrainischen Jugendlichen bringen in der Regel einen hohen Bildungsstand mit», sagt Matthias Schafroth, einer von drei Schulleitern der Sek Sissach. «Dies ermöglicht es ihnen, schneller in die Regelklassen integriert zu werden als die Jugendlichen, die zum Beispiel alleine als Flüchtlinge aus anderen Kriegsgebieten in die Schweiz gekommen sind.»
Unterricht ist ein Spagat
Letztere werden in der Klasse von den Lehrpersonen Sabine Eggenschwiler und Armin Keller in die Grundlagen der deutschen Sprache eingeführt. Der Prozess der Sprachvermittlung verläuft trotz des unterschiedlichen Bildungsstands speditiv, sagt Eggenschwiler, die als Pionierin der FSK im Oberbaselbiet gilt, seit sie vor 20 Jahren mit insgesamt sieben Schülerinnen und Schülern den Fremdsprachenunterricht startete. «Die Jugendlichen lernen sehr schnell.» Je nach Bildungsstand kann der Start auch holprig verlaufen. «Einige mussten wir zuerst alphabetisieren, bevor wir überhaupt mit dem Fremdsprachenunterricht beginnen konnten», erläutert Eggenschwiler. «Teilweise hatten sie erst drei bis fünf Schuljahre absolviert.»
Die Herausforderungen für beide Lehrpersonen sind bei dieser Klassenkonstellation mit dem unterschiedlichen Stand der Sprachfähigkeiten und der kognitiven Entwicklung der Schülerinnen und Schüler anspruchsvoll. «Der Unterricht ist ein Spagat», sagt Eggenschwiler, «um allen gerecht zu werden und sie bei ihrem jeweiligen Bildungsstand abzuholen.» Den Schülerinnen und Schülern, die bei Pflegeeltern oder in einem Heim wohnen, die Grammatik und den Wortschatz der deutschen Sprache beizubringen, verlangt von beiden nicht nur didaktische Fähigkeiten, sondern auch viel Empathie für die besondere Situation der Jugendlichen.
Das Mass an Hilfe und Begleitung, welches die Jugendlichen brauchen, ist unterschiedlich. «Die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden sind auf grössere Unterstützung von uns angewiesen als die Jugendlichen, die mit ihrer Familie eingereist sind. Und dies nicht nur im schulischen Bereich», sagt Keller. Von Bedeutung sei, dass die Inklusion im Klassenzimmer von den Schülerinnen und Schülern als gelebt erfahren wird.
«Schüler wollen weiterkommen»
Während Eggenschwiler mit vier Schülern in einem separaten Gruppenraum die Dativ- und Akkusativform übt, lässt Keller eine andere Gruppe von Schülerinnen und Schülern im Klassenzimmer auf einer Leinwand die Schreibweise und Artikelform von Früchten proben. Keller gestaltet die Didaktik lebensnah und verknüpft die Grammatik mit den Artikeln und Hauptwörtern mit einer kommunikativen Handlung. Dabei nimmt sie immer wieder Bezug auf die Herkunft und die Kultur der Schülerinnen und Schüler. Diese bleiben so am Unterricht interessiert und machen aktiv mit. «Man spürt, dass die Jugendlichen vorwärtskommen möchten», sagt Keller.
Eine Kontinuität im Klassengefüge zu erreichen, ist mit dem sozialen Hintergrund dieser Jugendlichen schwierig. «Jugendliche bleiben plötzlich dem Unterricht fern, ohne dass wir den Grund kennen oder sie kehren wieder in ihr Heimatland zurück. Dafür kommen dann plötzlich wieder andere», so Keller.
Bei Eggenschwiler im Gruppenraum büffeln vier Schüler fleissig, dass die Verben «helfen» und «gehören» die Dativform nach sich ziehen. Sie arbeitet für ein besseres Verständnis mit visuellen Mitteln. Ein Schüler gibt durch seine Körpersprache zu erkennen, dass er Mühe mit dem neuen Grammatikthema hat. Eggenschwiler beruhigt ihn und erklärt, dass sie das neue Thema immer wieder repetieren werden, bis es sitzt. Der Jugendliche seufzt zuerst einmal tief durch, dann nickt er und arbeitet entschlossen weiter. Klar ist, dass hier niemand Opfer von seiner eigenen Hybris zu werden droht, dafür fordert das Lernen der Sprache zu viel Aufmerksamkeit und Durchsetzungswillen.
Viele kämpfen mit Traumata
Was die Jugendlichen auf ihrer Flucht erlebt haben, weiss niemand genau. Tatsache ist, dass nicht wenige traumatisiert sind. Für sie ist das Einleben in der neuen Heimat mit den anderen kulturellen Realitäten und dem Folgen des Unterrichts mit grossen psychischen Schwierigkeiten verbunden. «Dies äussert sich darin, dass sie während der Stunde plötzlich fast einschlafen oder traurig sind, wenn sie an ihre Familien denken», so Keller. Eggenschwiler sagt, dass «es primär wichtig für diese Jugendlichen ist, dass sie die Schule als sicheren Ort erfahren». Damit solche Situationen aufgefangen werden können und eine gute Betreuung gewährleistet ist, werden die beiden Lehrpersonen von zwei Sozialpädagoginnen unterstützt, die im Klassenzimmer mit Einzelunterricht unterstützend mitwirken.
Die Sekundarschule Sissach hat bis vor Kurzem auch Jugendliche aufgenommen, deren Schulpflicht mit 16 Jahren bereits beendet war. «Aufgrund der stetig wachsenden Anzahl von Jugendlichen ohne Deutschkenntnisse konnte diese pragmatische Praxis nicht fortgeführt werden», sagt Schulleiter Schafroth. «Wir waren platzmässig am Anschlag.» Eine Lösung musste her. Als auch andere Sekundarschulen die wachsende Zahl nicht mehr bewältigen konnten, reagierte der Kanton. Seit Anfang Schuljahr 2022/23 führt nun das Zentrum für Brückenangebote Baselland in Muttenz zur Entlastung der Sekundarschulen ein tagesstrukturierendes Integrationsangebot mit mehreren Fremdsprachenklassen für Schülerinnen und Schüler zwischen 16 und 18 Jahren (siehe Beitrag unten).