AUSGEFRAGT | PD DR. MED. MATTHIAS JÄGER, DIREKTOR ERWACHSENENPSYCHIATRIE BL
09.12.2022 Gesellschaft, Gesundheit«Die Stigmatisierung hat stark abgenommen»
Seit der Corona-Pandemie nehmen mehr Menschen im Baselbiet psychiatrische Hilfe in Anspruch. Die Psychiatrie Baselland baut nun die Bereiche Tagesklinik und Betreuung zu Hause aus. Matthias Jäger, Direktor der ...
«Die Stigmatisierung hat stark abgenommen»
Seit der Corona-Pandemie nehmen mehr Menschen im Baselbiet psychiatrische Hilfe in Anspruch. Die Psychiatrie Baselland baut nun die Bereiche Tagesklinik und Betreuung zu Hause aus. Matthias Jäger, Direktor der Erwachsenentherapie, erklärt die Hintergründe.
André Frauchiger
Herr Dr. Jäger, gibt es tatsächlich immer mehr Menschen, die psychiatrische Hilfe benötigen? Wenn ja, weshalb?
Matthias Jäger: Wir gehen aufgrund von epidemiologischen Studien davon aus, dass es nicht mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt, aber deutlich mehr Menschen psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen. Dieser Trend hat sich in den Pandemie-Jahren nochmals sehr deutlich gezeigt. Leute mit psychischen Belastungen nehmen viel leichter Hilfe in Anspruch als noch vor wenigen Jahren. Sie haben gemerkt, dass es bei psychischen Problemen professionelle Hilfe gibt, wenn man bereit ist, darüber zu sprechen. Die Pandemie hat gezeigt, dass alle Menschen als Folge der Veränderungen in der Umwelt belastet sein können und zum Teil professionelle Unterstützung benötigen. Die Stigmatisierung der psychiatrischen Behandlung hat vor diesem Hintergrund stark abgenommen.
Es gibt also deutlich mehr Hilfesuchende?
Es kommen aktuell mehr Erwachsene zur ambulanten Behandlung, der stationäre Bereich ist bezüglich Patientenzahl auf hohem Niveau stabil geblieben. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind die Zahlen überall sehr stark gestiegen. Wir gehen davon aus, dass in Zukunft wesentlich mehr Menschen die psychiatrische Tagesklinik aufsuchen oder sich über Home Treatment behandeln lassen werden.
Daher auch der Ausbau dieser Bereiche?
Die zunehmende Nachfrage für psychiatrische Behandlungen soll zukünftig wesentlich durch Tageskliniken und Home Treatment aufgefangen werden. Es ist nicht vorgesehen, stationäre Plätze auszubauen. Wenn Menschen grundsätzlich zu Hause bleiben können und nur tagsüber in der Klinik sind, oder das Behandlungsteam des Home Treatment nach Hause kommt, ist dies in vielen Fällen dem Heilungsprozess förderlich und unterstützt auch die Familienangehörigen und den Bekanntenkreis.
Was ist unter Home Treatment genau zu verstehen?
Home Treatment bedeutet, dass die tägliche Behandlung im Falle einer psychischen Krise eines Menschen für die Dauer der Krise vollständig bei diesem zu Hause stattfindet. Die psychiatrischen Fachpersonen der Klinik kommen dann täglich auf Hausbesuch.
Davon versprechen Sie sich viel?
Ja, das ist so. Bei der Behandlung von Menschen zu Hause sehen die Spezialistinnen und Spezialisten auch die wirklichen Probleme im Alltag, dort, wo sie entstehen. Die enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen ist ein grosser Vorteil. Die Tagesklinik erleichtert auch die Übertragung der therapeutischen Erfolge in das gewohnte soziale Umfeld.
In der landrätlichen Vorlage über einen Ausbau der Tageskliniken, die am 15. November im Kantonsparlament gutgeheissen wurde, wird davon ausgegangen, dass sich die Kosten für den stationären Bereich wegen der Tagesklinik verringern werden. Mehr noch: Dass sich die Gesamtkosten über das ganze dreistufige Angebot der Psychiatrie Baselland– ambulant, Tagesklinik, stationär – insgesamt nicht erhöhen werden. Ist dies realistisch bei weiterhin steigenden Patientenzahlen?
Von Jahr zu Jahr behandeln wir ungefähr 3 Prozent mehr Patientinnen und Patienten. Wir gehen davon aus, dass dieser Trend anhält. Die Kosten für die Tagesklinik und für Home Treatment sind deutlich niedriger als diejenigen bei einer stationären 24-Stunden-Betreuung in der Klinik. Ganz klar ist, dass wir den stationären Bereich nicht weiter ausbauen, sondern eher reduzieren wollen. Den sogenannten intermediären Angeboten, also Tagesklinik und Home Treatment, kommt zukünftig eine Schlüsselrolle zu. Die in der Vorlage des Landrats vorgenommenen Kostenberechnungen halte ich für realistisch.
Wo liegen die Tücken beim Aufbau einer Tagesklinik für Kriseninterventionen?
Die grosse Herausforderung ist: Es muss rasch ein Behandlungsplatz angeboten werden können. Die Aufnahmemöglichkeit muss gegeben sein. Das ist bei der Tagesklinik etwas schwieriger als im stationären Bereich und im Home Treatment. Auch die notwendigen Vorabklärungen für die korrekte Triage nehmen etwas Zeit in Anspruch. Letztlich muss der Behandlungsplan für einen Patienten stimmen, damit das Ganze Erfolg versprechend ist.
Zur Person
fra. PD Dr. med. Matthias Jäger ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und seit Juli 2018 Direktor der Erwachsenentherapie und Chefarzt der Privatklinik bei der Psychiatrie Baselland. Gleichzeitig wirkt er auch als Privatdozent an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich und seit 2019 als Dozent an der Universität Basel im Studiengang Humanmedizin. Er studierte in den Jahren 1997 bis 2004 Humanmedizin in Giessen und Amsterdam. Danach arbeitete er bis 2009 als Assistenzarzt und später als Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er promovierte 2006 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Von 2016 bis 2018 war er Leiter des Zentrums für akute psychische Erkrankungen und Leiter Triage an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik.