AUSGEFRAGT | PROF. ULRICH HEININGER, STV. CHEFARZT AM UKBB
25.11.2022 Gesellschaft, Gesundheit«Als Säugling erkrankt man am schlimmsten»
Das RS-Virus, eine häufige Atemwegserkrankung bei Kleinkindern, tritt zurzeit besonders häufig auf. Professor Ulrich Heininger vom Universitäts-Kinderspital beider Basel erklärt, warum – und wie Eltern handeln können, ...
«Als Säugling erkrankt man am schlimmsten»
Das RS-Virus, eine häufige Atemwegserkrankung bei Kleinkindern, tritt zurzeit besonders häufig auf. Professor Ulrich Heininger vom Universitäts-Kinderspital beider Basel erklärt, warum – und wie Eltern handeln können, wenn ihr Kind entsprechende Symptome aufweist.
Severin Furter
Herr Heininger, um was handelt es sich beim sogenannten Respiratorischen Synzytial-Virus, genannt RS-Virus?
Ulrich Heininger: Es ist eines der vielen Viren, die beim Menschen in erster Linie Atemwegsinfektionen verursachen. Damit reiht sich das Virus in eine grosse Gruppe von anderen Infektionserregern ein, die alle Menschen kennen – wie beispielsweise das Grippevirus oder die Coronaviren. Das RS-Virus wird von Mensch zu Mensch übertragen, tritt sehr häufig auf und ist zudem sehr ansteckend. Deshalb befällt es bereits auch Kinder ab der Geburt.
Warum sind Kinder anfällig auf eine Erkrankung mit dem RS-Virus?
Einerseits, weil das Virus eben besonders häufig vorkommt und der sogenannte Nestschutz, der Neugeborene vor Infektionskrankheiten schützt, unzureichend ist. Andererseits erkrankt man als junger Säugling am schlimmsten, weil man noch keine gute Immunität hat und das Virus, das der Körper noch nicht kennt, auf ein unvorbereitetes Immunsystem trifft. Zudem gibt es keine Impfung dagegen. Und dann kommt auch noch die Anatomie dazu: Die Luftwege eines Säuglings sind vom Durchmesser her so viel kleiner als bei einem Erwachsenen. Wenn sich dort also nun durch das Virus Schleim ansammelt, führt das sehr schnell zu Luftnot. Bei einem Erwachsenen sieht das anders aus, da macht das bisschen Schleim dann nicht mehr so viel aus.
Welche Symptome treten bei Kindern am häufigsten auf?
Die Symptome sind sehr stark altersabhängig. Das RS-Virus kann bei allen Altersgruppen von einem leichten Schnupfen bis hin zur lebensbedrohlichen Erkrankung der unteren Atemwege – sprich der Lunge und der Bronchien – reichen. Das gilt für alle Menschen. Aber je jünger das Kind ist, also beispielsweise Säuglinge im ersten Lebensjahr, desto eher ist es eine Infektion der unteren Atemwege. Dies löst bei Säuglingen eine angestrengte Atmung, Luftnot und Trinkschwierigkeiten aus.
Wie verändert sich das Krankheitsbild bei älteren Kindern und Erwachsenen?
Die Infektion kann man x-mal im Leben bekommen. In aller Regel wird die Immunität des Körpers jedoch von Infektion zu Infektion besser und damit die Krankheitsschwere tendenziell immer geringer. Und beispielswiese schon im Kindergartenalter ist das RS-Virus im Normalfall nur noch eine harmlose Erkältung. Am anderen Ende des Lebensspektrums, am Lebensende bei den Seniorinnen und Senioren, kann es wieder bedrohliche Krankheitsverläufe mit Beteiligung der unteren Atemwege geben.
Angenommen, ich habe einen Säugling zu Hause, der entsprechende Symptome zeigt. Wann ist es ratsam, eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen?
Da gibt es mehrere Indikatoren: Wenn das Kind nicht mehr ausreichend trinkt. Das merkt man daran, dass es die Windel nicht mehr richtig nass macht. Oder dann, wenn das Kind angestrengt atmet. Das heisst, man sieht, wie sich der Brustkorb hebt und senkt oder wie sich die Nasenflügel bewegen. Oder wenn sich die Hautfarbe verändert, das Kind bläuliche Lippen bekommt oder apathisch wird. Sprich, wenn es sehr schläfrig wirkt und nicht mehr ansprechbar ist. Bei Letzterem ist es aber höchste Eisenbahn, um eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen.
Wann ist es ratsam, in die Notaufnahme des Kinderspitals zu gehen?
Zu den üblichen Tageszeiten empfehlen wir, immer zuerst den eigenen Kinderarzt zu kontaktieren und nicht direkt in die Notfallaufnahme zu kommen. Die Notfallaufnahme kommt erst dann zum Zug, wenn der Kinderarzt nicht erreichbar ist, sprich in der Regel nachts und am Wochenende. Oder natürlich dann, wenn das Kind akut erkrankt ist, dann gilt es gar, die 144 anzurufen.
Was bedeutet es, wenn ein Kind das RS-Virus hat? Wie wird es behandelt?
Die Behandlung im Spital ist rein auf die Symptome bezogen. Wenn das Kind eine zu niedrige Sauerstoffsättigung im Blut hat, dann führen wir zusätzlichen Sauerstoff zu. Wenn das Kind nicht mehr ausreichend trinken mag, dann müssen wir es mit einer Sonde ernähren. Das sind eigentlich die einzigen Möglichkeiten, die wir haben. Wenn das Kind zusätzlich noch eine bakterielle Infektion hat, dann können wir noch mit einem Antibiotikum helfen – aber nur dann. Viren sprechen bekanntlich nicht auf Antibiotika an. Wenn ein Kind nur eine leichte Erkrankung hat, kann das RS-Virus so behandelt werden wie eine normale Erkältung: Ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist immer das Allerwichtigste. Zudem muss das Kind geschont werden und auf Warnsignale geachtet werden, falls die Erkrankung doch schlimmer werden sollte. Das ist ein normaler Verlauf. Was wir hier in der Klinik sehen, ist immer nur die Spitze des Eisbergs. Nur die wenigsten Kinder benötigen die Hilfe der Klinik.
Dennoch ist zurzeit zu lesen, dass die Kinderspitäler aufgrund des RS-Virus gefordert sind. Wie sieht die Situation am UKBB aus?
Das ist nicht nur in der Schweiz so, sondern in ganz Europa und der westlichen Welt. Die Situation bei uns im UKBB ist angespannt. Als ich am Dienstag unsere allgemeine Station besuchte, waren 24 von 28 Kindern wegen Atemwegserkrankungen isoliert. Fast alle davon haben das RS-Virus. Allgemein sind 90 Prozent aller Patienten, die wir momentan betreuen, von diesem Virus betroffen.
Warum kommt es zurzeit zu einer Häufung der Fälle? Können Sie sich das erklären?
Ja, wir Infektiologen haben schon vor zwei Jahren davor gewarnt – kurz nachdem die Pandemie begann und die Lockdowns sowie entsprechende Massnahmen mit strikter Maskenpflicht verhängt wurden. Damit wurde nicht nur erfolgreich das Coronavirus eingedämmt, sondern es gab auch den Nebeneffekt, dass die Übertragung der anderen Atemwegserkrankungen verhindert wurde. Doch die Viren wurden dadurch nicht eliminiert, sie waren immer da. In dem Moment, als die Massnahmen wieder gelockert wurden, waren auch die Erkrankungen wieder da. Weil in der Zwischenzeit aber ganz viele Kinder geboren wurden, die mit dem RS-Virus noch keinen Kontakt hatten, hat es sich nun so schlagartig ausgebreitet. Das Virus stösst jetzt auf unglaublich viele Kinder, die es noch nie hatten. Bis sich diese Situation wieder eingependelt hat, wird es bis zu zwei Jahre dauern.
Könnte das auch mit anderen Viren passieren?
Ja, beispielsweise mit der normalen Grippe, der Influenza. Wir Infektiologen können nur dazu raten, vom Impfschutz Gebrauch zu machen. Gerade ältere Menschen, enge Kontaktpersonen von jungen Säuglingen oder Personen mit einer chronischen Krankheit zum Beispiel Herz- oder Lungenkrankheit – wie Asthma – sollen die Influenza-Impfung machen. Damit können sie sich das Risiko einer schweren Erkrankung ersparen.
Zur Person
sf. Professor Ulrich Heininger ist Leiter der Abteilung Infektionskrankheiten und Impfungen sowie stellvertretender Chefarzt des Universitäts-Kinderspitals beider Basel (UKBB), wo er seit 1998 tätig ist. Zudem ist der 61-Jährige Mitglied der eidgenössischen Kommission zur Pandemiebewältigung und Präsident der Pädiatrischen Infektiologie Gruppe Schweiz. Der gebürtige Deutsche ist verheiratet und Vater zweier Kinder.