«500 Lehrstellen sind unbesetzt»
26.08.2022 Baselbiet, BildungMelina Mundschin
Frau Dr. Wilhelm, Anfang August begann das neue Lehrjahr. Konnten die Unternehmen im Baselbiet ihre Lehrstellen besetzen?
Dr. Monika Wilhelm: Im Kanton Baselland wurden für das aktuelle Ausbildungsjahr 1855 Lehrverträge neu ...
Melina Mundschin
Frau Dr. Wilhelm, Anfang August begann das neue Lehrjahr. Konnten die Unternehmen im Baselbiet ihre Lehrstellen besetzen?
Dr. Monika Wilhelm: Im Kanton Baselland wurden für das aktuelle Ausbildungsjahr 1855 Lehrverträge neu unterschrieben. Dies ist im Vergleich zum Vorjahr ein leichter Rückgang. Mindestens 500 Ausbildungsplätze sind zu Beginn des neuen Lehrjahres offen geblieben. Schweizweit sind es 12 596 Lehrstellen.
Gibt es Branchen, die besonders stark von einem Rückgang betroffen sind?
Ja, insbesondere die Event- und Gastrobranche. Die Betriebe haben nach der Corona-Pandemie Mühe, ihre Lehrstellen zu besetzen. Aber auch im fleischverarbeitenden Gewerbe und im Baubereich ist es momentan schwierig, Jugendliche für eine Lehre zu begeistern.
Gibt es weniger Interessierte für eine Lehre als früher?
Vor etwa 30 Jahren lag der Anteil der Jugendlichen, die sich für die Berufsbildung entschieden, bei 75 Prozent. Dieser Wert sinkt stetig. Aktuell entscheiden sich 66 Prozent der Jugendlichen in der Sekundarstufe I für eine Berufslehre. Noch ist die Berufsbildung in der Schweiz der bevorzugte Bildungsweg. Die kontinuierliche Abnahme bereitet der Wirtschaft aber grosse Sorgen.
Woran liegt es, dass das Interesse an Berufsausbildungen abnimmt?
Die Gründe hierfür sind vielfältig und liegen auch an der Überzeugung, dass berufliches Können in erster Linie durch eine Akademisierung erreicht wird. Diese wird fälschlicherweise oft gleichgesetzt mit Professionalisierung. Gute Bildung ist eine der wichtigsten Ressourcen für einen jungen Menschen. Sie hat viele Facetten, wird aber oft ausschliesslich mit einem Studium gleichgesetzt. Hinzu kommt, dass für viele Eltern das Studium ihrer Kinder ein Statussymbol ist. Die Wirtschaft braucht nicht pauschal mehr akademisch Gebildete, sondern in erster Linie gut ausgebildete Fachkräfte. Die Chancen, die sich mit einer Berufslehre in der Schweiz ergeben, sind vielen Eltern und Jugendlichen leider nicht ausreichend bewusst. Die Berufslehre hat in der öffentlichen Wahrnehmung ein Imageproblem.
Wenn es weniger Lehrinteressierte gibt, greifen Unternehmen teilweise auf unpassende Lernende zurück?
Wenn von «unpassenden» Lernenden gesprochen wird, sollte zwischen zwei Punkten differenziert werden. So ist es eine Sache, wenn die Lernenden selbst entscheiden, dass die Stelle nicht passt, sie sich etwas völlig anderes unter der Ausbildung vorgestellt haben und sich nicht dafür begeistern können. Schnupperlehren, Berufsschauen, Unterricht in beruflicher Orientierung und vielfältige Beratungsangebote versuchen dem vorzubeugen. Ein anderer Fall liegt vor, wenn während der Lehre leistungsbezogene Probleme auftreten. Trotz Motivation und Bemühung klappt es zum Beispiel mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen nicht. Einen weiteren Aspekt von «unpassend» stellen fehlende Sozialkompetenzen, insbesondere Unkenntnis der Höflichkeits- und Benimmregeln dar.
Was ist ausschlaggebend bei der Wahl eines geeigneten Lehrlings?
Letztendlich ist das Gesamtpaket wichtig. Lernende mit Bestnoten können für einen Ausbildungsberuf mit intensivem Kunden- oder Patientenkontakt «unpassend» sein, wenn sie sich unfreundlich, wortkarg und abweisend verhalten. Umgekehrt werden freundliche, motivierte Lernende vom Ausbildungsbetrieb sicher nicht als «unpassend» eingestuft, nur weil sie Leistungsschwächen zeigen. Jedes Unternehmen wird bemüht sein, Aufgaben und Tätigkeiten zu finden, die den Kandidatinnen und Kandidaten entsprechen. Am Ende zählen auch Persönlichkeit und Begeisterung. Das zeigt auch die neue Auswahlstrategie der Swisscom, die seit August ihre Lernenden erstmals ohne Blick auf Lebenslauf und Noten, dafür aber nach «Assessment» von Persönlichkeit und Motivation auswählt.
Ist es besser, Lehrstellen mit unpassenden Lernenden zu besetzen als gar nicht?
Das kann man so nicht pauschalisieren, das hängt jeweils vom Einzelfall ab. Wir kennen Ausbildungsbetriebe, bei denen weniger geeignete Lernende – mit entsprechender Betreuung und Unterstützung – wertvolle Mitarbeiter wurden.
Sind die Heranwachsenden noch zu jung, um zu wissen, was sie beruflich machen möchten?
Fragt man kleine Kinder, was sie einmal werden wollen, wissen sie meistens eine Antwort: «etwas mit Tieren», «etwas mit Autos», «zum Mond fliegen». Kommen sie ins Alter, in dem die Berufswahl konkret wird, empfinden viele die Wahlfreiheit für einen Beruf als unglaublichen Druck und fühlen sich angesichts der vielen Möglichkeiten komplett überfordert. Zudem wird ihnen vermittelt, dass sie mit einer «falschen Berufswahl» ihr Leben total vermasseln können. Das erzeugt zusätzlich Druck und Angst, auch wenn es überhaupt nicht stimmt.
Wie wirkt sich dieser Druck auf die Jugendlichen aus?
Dieser Druck und dieses Denken lähmen etliche in einem solchen Ausmass, dass sie sich nicht mehr trauen, auf ihre Talente und Fähigkeiten zu setzen und ihren Wünschen und Träumen zu folgen. Anders ist es nicht erklärbar, dass in einem der reichsten, innovativsten und fortschrittlichsten Länder der Welt der seit Jahren beliebteste Ausbildungsberuf eine KV-Lehre ist.
Sind die Anforderungen der Lehrbetriebe zu hoch?
Viele Ausbildungsbetriebe im Baselbiet stellen fest, dass das Leistungsniveau der Schüler, die sich für eine Lehre bewerben, seit Jahren sinkt. Viele Betriebe befürchten, dass der Berufslehre die guten Schülerinnen und Schüler abhandenkommen, da sich diese für das Gymnasium mit nachfolgendem Studium entscheiden, und vermehrt nur noch die Leistungsschwächeren eine Berufslehre machen.
Welchen Einfluss hat das Umfeld der Lernenden auf die Rekrutierung?
Das Umfeld spielt eine entscheidende Rolle. Die wichtigsten Einflussgrössen für Jugendliche bei der Berufswahl sind die Eltern, Gleichaltrige und Lehrpersonen.
Welche Motivation sollten Unternehmen für junge Lernende schaffen?
Bei Anreizen denken viele zunächst an materielle Vorteile wie mehr Lohn und Essensgutscheine. Lernende in der Schweiz ticken jedoch anders. Die Erwartungen, die Lernende in der Schweiz an ihren Lehrbetrieb haben, wurden wissenschaftlich untersucht und ergaben ein eindeutiges Bild: Zwischenmenschliche Faktoren stehen für Schweizer Jugendliche ganz klar an erster Stelle. Danach folgen auf Platz 2 eine gute Betreuung und auf Platz 3 der Wunsch nach guten Vorgesetzten. Für viele Jugendliche ist es auch wichtig, in der Lehre herausgefordert und respektiert zu werden.
Ein Anlass für Unternehmen
mm. Die Wirtschaftskammer Baselland organisiert zusammen mit der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion des Kantons einen Informationsanlass zum Thema «Wie komme ich als Unternehmen zu passenden Lernenden?». Für Firmen stellt es sich zunehmend als Herausforderung dar, Lehrstellen qualitativ gut zu besetzen. Welche Rolle dabei Umfeld, Schulbildung und persönliche Einstellung spielen, wird besser beleuchtet. Die Veranstaltung findet kommenden Mittwoch bereits zum zweiten Mal im Haus der Wirtschaft in Pratteln statt.