Homeschooling erlebt einen Boom
15.07.2022 Baselbiet, BildungChristian Horisberger
Die Zahl der Kinder, die im Baselbiet im Homeschooling unterrichtet wird, ist geradezu explodiert: In den vergangenen drei Schuljahren hatte das Amt für Volksschulen (AVS) sechs (2019/20), sieben (2020/21) und drei (2021/22) Gesuche bewilligt. Fürs ...
Christian Horisberger
Die Zahl der Kinder, die im Baselbiet im Homeschooling unterrichtet wird, ist geradezu explodiert: In den vergangenen drei Schuljahren hatte das Amt für Volksschulen (AVS) sechs (2019/20), sieben (2020/21) und drei (2021/22) Gesuche bewilligt. Fürs kommende Schuljahr werden 51 Kinder in «privater Schulung», wie es offiziell heisst, unterrichtet. Diese ist nicht zu verwechseln mit einer Privatschule.
Auslöser für die sprunghafte Zunahme waren die Corona-Massnahmen an den staatlichen Schulen, mit denen sich viele Kinder und vor allem Eltern nicht abfinden konnten. Mit der Maskenpflicht für alle Schulkinder und der obligatorischen Teilnahme am «Breiten Testen» («Spuckpflicht») auch für Kindergärtler im Dezember 2021 hat der Kanton für viele unzufriedene Eltern das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie begannen sich zu vernetzen, um gemeinsam über Alternativen zur Staatsschule nachzudenken (die «Volksstimme» berichtete).
Der 59-jährige Zunzger Daniel Krieg ist Teil dieser Bewegung. Er betätigte sich als Netzwerker zwischen Eltern, wirkt seit Dezember an Koordinationstreffen interessierter Eltern mit und trug deren Anliegen auch ins AVS. Und obwohl er längst keine schulpflichtigen Kinder, geschweige denn ein Lehrerpatent hat, richtet er in seinem Einfamilienhaus in Zunzgen Räume für ein Homeschooling ein.Wie ist das möglich?
Der Gesetzgeber verlangt bei seinen Vorgaben über die private Schulung nicht, dass ein Elternteil die Ausbildung der eigenen Kinder übernimmt. Sondern: Stufengerecht ausgebildetes Lehrpersonal – das kann, muss aber kein Elternteil sein – darf eine Gruppe mit bis zu acht Kindern vom Kindergartenalter bis zur 6. Klasse unterrichten. Voraussetzung ist, dass die Eltern beim AVS ein entsprechendes Gesuch mit Nachweisen für Konzept, Lehrkräften, Schulraum und anderes eingereicht haben und dieses bewilligt worden ist.
Anfänglich 100 Gesuche gestellt
Laut dem AVS sind für das kommende Schuljahr ursprünglich 100 Gesuche gestellt und davon 51 bewilligt worden. Die weiteren seien entweder zurückgezogen worden oder wurden von den Gesuchstellern nicht weiterverfolgt, nachdem das Amt Präzisierungen verlangt habe. Mit der Aufhebung der Corona-Massnahmen an den Schulen hätten es sich viele Eltern noch einmal überlegt mit der privaten Schulung ihrer Kinder, sagt Krieg dazu. «Durchgezogen» hätten es grossmehrheitlich Väter und Mütter, die sich bereits vor der Pandemie und all den Massnahmen Gedanken über eine Alternative zur «gleichmachenden» Staatsschule machten.
Diese Eltern haben im Austausch untereinander, aber organisatorisch unabhängig voneinander, mehrere Lerngruppen gebildet, erklärt Krieg. Die Gruppen befänden sich an neun Standorten: Gelterkinden, Zunzgen, Wenslingen, Oltingen, Bretzwil, Lauwil, Hölstein, Grellingen, Blauen und Arlesheim. Bei diesen Lerngruppen könnte auch von Mini-Privatschulen gesprochen werden: Denn auch Privatschulen brauchen eine Bewilligung des Kantons, müssen ihre Lernziele am Lehrplan 21 ausrichten, und das Schulgeld müssen die Eltern bei beiden Schulungsformen komplett aus der eigenen Tasche zahlen.
Ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen Privatschule und privater Schulung ist das Bewilligungsverfahren. Der Staat fühlt den Eltern, die ihre Kinder selber unterrichten (lassen) wollen, auf den Zahn. Schriftlich und mündlich müssen sie ihre Absicht begründen. «Offenbar will man damit ausschliessen, dass hinter der privaten Beschulung religiöse oder politische Motive stecken und dass die Kinder der Verwahrlosung preisgegeben werden könnten», so Krieg. Nichts liegt ihm ferner: Er und auch viele Eltern des Netzwerks hätten lediglich eine andere Vorstellung von Bildung als der Staat. Die Kleinheit der Lerngruppen biete die Möglichkeit, stärker auf die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten der Kinder einzugehen und sie entsprechend zu fördern.
Die Gruppe, bei der Krieg mitwirkt, umfasst zwölf Kinder aus Zunzgen, Sissach, Gelterkinden und Birsfelden an zwei Standorten (siehe nebenstehenden Text). Auf die eher grossen öffentlichen Schulen in diesen Gemeinden dürften die Abgänge kaum Auswirkungen haben. In kleineren Dörfern ist es sehr wohl möglich, dass die Abgänge die Klassenbildung und die Lehrerpensen beeinflussen.
Auswirkungen auf Volksschule
Wir haben bei der Kreisschule Wenslingen/Oltingen mit knapp 100 Schülerinnen und Schülern nachgefragt: Dort gehen aufs kommende Schuljahr 10 Kinder ab, weil sie nun privat beschult werden. Wie Andrea Brenna, die für die Schule zuständige Oltinger Gemeinderätin und Kreisschulrätin, auf Anfrage der «Volksstimme» sagt, habe die Schüllerreduktion keine Auswirkungen auf Klassenbildung und Personal. Wegen der geringen Schülerzahl infolge mehrerer Abgänge in der 5. Klasse würde dort einzig die Abteilungslektionen (Halbklassenunterricht) gestrichen.
Andrea Brenna betont, dass wegen dieser Veränderungen im Umfeld der Schule keine schlechte Stimmung herrsche: «Wir akzeptieren dies – und wir freuen uns auch, die Kinder wieder in der Kreisschule begrüssen zu dürfen, wenn das Homeschooling nicht für jedes Kind geeignet wäre.»
NACHGEFRAGT | STEFAN SCHÖNENBERGER, DOZENT AN DER PÄDAGOGISCHEN HOCHSCHULE DER FHNW IN MUTTENZ
«Ein Lehrdiplom für private Schulung ergibt nur bedingt Sinn»
Seit der Corona-Pandemie ist im Baselbiet die Anzahl Gesuche für Homeschooling stark angestiegen.
Beobachten Sie dies schweizweit?
Stefan Schönenberger: Über die vergangenen zehn Jahre sind in der Schweiz die Zahlen der zu Hause beschulten Kinder stetig gestiegen. Die vorübergehende Einführung der Maskenpflicht an den Schulen hat dieser Tendenz noch einen Schub verliehen, wie mehrere Kantone berichten. Diese Entwicklung verknüpfe ich mit gewissen Bedenken.
Mit welchen?
Vor der Pandemie haben sich Eltern meist bewusst und wohlüberlegt dazu entschieden, ihre Kinder aus der Volksschule zu nehmen. Denn die Einreichung eines Gesuchs, die Vorbereitungen und Homeschooling selbst sind sehr intensiv. In der Corona-Zeit begannen sich Eltern für Homeschooling zu interessieren, die mit den Massnahmen der Volksschule nicht einverstanden waren oder eine kritische Haltung gegenüber dieser entwickelt haben. Welche Auswirkungen dies auf die Motive der Erziehungsberechtigten und deren Zusammenarbeit mit den Bildungsämtern hat, bleibt abzuwarten.
Was sind die Vorteile des Besuchs der Volksschule zu Homeschooling?
Vorab möchte ich festhalten, dass die Lebenswelten der Kinder unterschiedlich sind. Es geht darum zu verstehen, was die Schulformen ermöglichen können. Keine Unterrichtsform ist in allem «besser» oder «schlechter». Durch den Besuch von Volksschulen erfahren die Kinder Kontakt zu Gleichaltrigen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, wobei dies nicht für jede Region gleich gilt. Weiter ermöglichen die Volksschulen gemeinsame Lernprozesse auf einfache Weise. Dies kann etwa beim gemeinsamen Sprechen beim Sprachenlernen ein Vorteil sein. Homeschooler müssen sich für gemeinsame Lernprozesse selbst organisieren.
Und was kann Homeschooling besser als die Volksschule?
Homeschooling ermöglicht es beispielsweise einfacher, auf das individuelle Lerntempo der Kinder einzugehen und Dinge zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt zu lernen. Diesbezüglich haben jedoch auch die Volksschulen Fortschritte gemacht. Kinder können sich beim Homeschooling vermehrt ihren eigenen Interessen widmen oder sich intensiv auf eine Tätigkeit fokussieren – etwa auf die Ausübung einer Sportart.
Wie entwickeln sich Kinder, die im Homeschooling unterrichtet werden, im Vergleich zu ihren Altersgenossen an der Volksschule?
Studien zeigen, dass die Homeschooling-Kinder ihren Kollegen der Volksschule in nichts nachstehen, eher sogar besser abschneiden. Das muss aber nicht verwundern. Erstens ermöglicht Homeschooling eine hohe Individualisierung und zweitens haben Eltern, die sich dafür entscheiden, tendenziell höhere Ausbildungen als der Durchschnitt. Zudem haben diese Eltern ein erhöhtes Interesse an der Bildung und am Erfolg ihrer Kinder. Studien zeigen, dass der Bildungserfolg der Kinder sehr stark mit dem Bildungsstand der Eltern zusammenhängt.
Verglichen mit anderen Kantonen gibt es im Baselbiet relativ hohe Hürden für private Schulung. Wie beurteilen Sie diese?
In den Publikationen im deutschsprachigen Raum zeichnet sich eine einheitliche Linie ab: Homeschooling nicht zu verbieten, sondern durch qualitätssichernde Prozesse zu regulieren. Wissenschaftlich betrachtet ergibt die Voraussetzung eines Lehrdiploms für Homeschooling nur bedingt Sinn: Wir wissen, dass sich Kinder von Lehrpersonen und anderen Eltern in der Leistung im Durchschnitt nicht unterscheiden. Die Ausbildungsvoraussetzungen von Volksschule und Homeschooling sind unterschiedlich. Der Unterricht einer Klasse mit 20 Schülerinnen ist nicht derselbe, wie eigene Kinder im Lernen zu begleiten.
Stefan Schönenberger ist an der Professur für Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsforschung tätig.