Das linke Herz am rechten Fleck
22.07.2022 Bezirk Sissach, Politik, SissachUrs Wüthrich lebt nicht mehr. Am Montag wollte sich der Sissacher wegen seiner Schulter, die er sich als Goalie an einem «Surprise»-Fussballturnier lädiert hatte, gerade in die Physiotherapie begeben, als ihn plötzlich heftige Schmerzen befielen. Sie wiesen auf einen Herzinfarkt hin. Ein ...
Urs Wüthrich lebt nicht mehr. Am Montag wollte sich der Sissacher wegen seiner Schulter, die er sich als Goalie an einem «Surprise»-Fussballturnier lädiert hatte, gerade in die Physiotherapie begeben, als ihn plötzlich heftige Schmerzen befielen. Sie wiesen auf einen Herzinfarkt hin. Ein Notarzt konnte den Patienten zwar etwas stabilisieren. Doch im Spital verlor der frühere Baselbieter SP-Regierungsrat und Bildungsdirektor aus Sissach vier Wochen vor seinem 68. Geburtstag seinen letzten Kampf. Er hinterlässt seine Frau und drei Töchter sowie im Emmental seine hochbetagte Mutter.
Dort sind auch seine Wurzeln zu finden. Urs Wüthrich kam am 14. August 1954 – am gleichen Tag wie Fussball-Trainer Christian Gross, wie er immer gerne anmerkte – zur Welt und war ein «Bueb vo Trueb». Neben Italien war das Bernbiet auch sein zweiter Sehnsuchtsort. Damit dürfte auch zusammenhängen, dass er das Hornussen kannte und sich bereits für Schwingen interessierte, als man dafür noch bemitleidet wurde. Auf das «Eidgenössische» in Pratteln freute er sich riesig. Seine Familie profitierte sonntags von einer weiteren Berner Tradition, wenn er am Morgen eine frisch duftende «Züpfe» aus dem Ofen zog.
Er wuchs in einer streng religiösen Emmentaler Täuferfamilie auf. Obwohl viele SP-Politikerinnen und -Politiker eine christliche Familiengeschichte aufweisen, habe dies keinen Einfluss auf seine Parteienwahl gehabt, zumindest nicht bewusst, erzählte Wüthrich, ein ausgebildeter Kaufmann und Psychiatriepfleger sowie junger Gemeinderat in Zuchwil, einmal über seine Politisierung. Sein ausgeprägtes soziales Denken dürfte gleichwohl in seiner Jugend gefusst haben. Schnell wurde die Politik zu seinem beruflichen Lebensmittelpunkt. Er wurde Zentralsekretär der Gewerkschaft VPOD, bald in seinem neuen Wohnkanton Landrat und im Juli 2003, diesem Rekordsommer, zum Nachfolger von Genosse Peter Schmid in die Baselbieter Regierung gewählt.
Volksnaher Debattierer
Den – nennen wir es feierlichen – Höhepunkt erlebte er gleich am ersten Wochenende seiner zwölfjährigen Amtszeit als Bildungs-, Kultur- und Sportdirektor. Ein junger Bursche namens Roger Federer schickte sich in Wimbledon an, das wichtigste Tennisturnier der Welt zu gewinnen, und für den damals 49-jährigen Regierungsrat, der später über Jahre dem Stiftungsrat der wohltätigen Roger-Federer-Foundation angehörte, war für diesen sporthistorischen Tag ein Ehrenplatz reserviert.
Damit kein falsches Bild entsteht: Der Regierungsrat war ausgesprochen volksnah. Auch wenn er sich dabei nicht sogleich in jeden Trubel stürzte, so hatte er wie niemand sonst unter seinen Amtskolleginnen und -kollegen ein offenes Ohr für alle. Er debattierte gerne, gab oft Anekdoten zum Besten und war notfalls auch Meister wohlplatzierter Seitenhiebe, doch er war vor allem ein aufmerksamer Zuhörer. Er war pointiert und zählte unter den Sozis zu den Pragmatikern, nicht zu den Dogmatikern.
Diese Aufmerksamkeit, gepaart mit seinen Dossierkenntnissen, erleichterte es dem lange einzigen linken Regierungsrat, sich im bürgerlich dominierten Parlament zu behaupten. Als er einst in einer Debatte kritisiert wurde, weil er sich über eine Konsequenz offenbar keine Gedanken gemacht habe, antwortete er dem kritisierenden Landrat: «Lesen Sie Seite 3. Dort steht es. Wir können für Sie Vorlagen schreiben, aber lesen müssen Sie diese vorerst noch selber.» Seine Handhabe von «Du» und «Sie» verriet viel über das Ansehen, das sein Gegenüber bei ihm genoss.
Wer mit offenem Visier und Sachkenntnissen gegen ihn antrat, genoss seinen Respekt und wurde folglich geduzt. Als einst die freisinnige Bildungspolitikerin Christine Mangold (ja, die frühere Gelterkinder Gemeindepräsidentin) über eine Vorlage herzog und die SP sie darauf aufforderte, die Tritte gegen ihren Regierungsrat zu unterlassen, beruhigte er seine Genossen: «Keine Angst. Im Lohn eines Regierungsrats liegt ein Paar Schienbeinschoner schon noch drin.» Danach trat er auf Christine Mangolds Votum ein.
Zankapfel Bildung
Oft verliess der Bildungsdirektor den Landratssaal schon fast pfeifend, nachdem das Parlament Vorlage um Vorlage mit seinem Absender «versenkt» hat; umgekehrt konnte eine vermeintlich unbedeutende Niederlage aus Wüthrich einen Wüterich machen.
Ein Dickhäuter war er nie. Als er zu Zeiten von Finanzdirektor Adrian Ballmer an den Schulen eine Sparrunde durchsetzen musste und ihn Lehrpersonen beim Ebenrain deshalb mit Pfiffen empfingen, ging ihm das sehr nahe. Denn als Bildungsdirektor war er stets bemüht, seinen wichtigsten Angestellten den Rücken frei zu halten, ja zu stärken. Dafür konnte er aus einer vermeintlichen Kleinigkeit Energie schöpfen, wie damals, als die Wogen wieder einmal hochgingen und ihm in einem Sissacher Lokal ein ihm zuvor unbekannter Lehrer spontan für seinen unermüdlichen Einsatz für das Schulwesen dankte. Urs Wüthrich war ein Schwerarbeiter. In seiner berühmten braunen Ledermappe schleppte er immer Arbeit von Liestal nach Sissach und von Sissach nach Liestal.
Das Volk stets im Rücken
Es lag nicht nur an der politischen Konstellation, dass die Debatten über die Bildung lange die unterhaltsamsten waren. Weil er zu Beginn das vor seiner Amtszeit beschlossene Bildungsgesetz und danach das vom Volk beschlossene Harmos-Paket umsetzen musste und die Bildungspolitik unter Hochspannung stand, hatte er in Liestal einen schweren Stand. Nicht aber beim Stimm- und Wahlvolk. Sämtliche Bildungsvorlagen, und es waren in seinen zwölf Amtsjahren eine Reihe, wurden an der Urne in seinem Sinn angenommen. Und bei seinen beiden Erneuerungswahlen wurde er mit dem jeweils zweitbesten Resultat wiedergewählt.
Ein grosses Anliegen war ihm immer auch die Zusammenarbeit mit Basel, speziell im Zusammenhang mit der Universität. Die Uni steht auch für den Tief- und zugleich den Höhepunkt seiner Regierungszeit. Dass er die Spesenentschädigung als Mitglied des Unirats in seinen eigenen Sack steckte, löste eine Staatsaffäre aus, die ihn tief verletzte. Er zahlte die geforderten 2425 Franken zurück. Dafür stimmte Baselland am 11. März 2007 mit überwältigenden 85 Prozent Ja-Stimmen Wüthrichs Vorlage zu, Trägerkanton der Uni zu werden.
Für die Universität setzte er sich bis zuletzt ein: 2019 löste er Jean-Luc Nordmann als Präsident des Fördervereins Universität Basel (FUB) ab, der sich in der Öffentlichkeit und auf dem politischen Parkett für die Interessen der Alma mater einsetzte. Noch am 23. Juni leitete er in dieser Funktion einen Informationsanlass. Dabei habe er «wie immer fröhlich» gewirkt, berichten Vorstandsmitglieder.
Freiwillige Einsätze
Doch beim FUB handelt es sich längst nicht um das wichtigste Engagement seiner Nach-Regierungszeit. Da kommen zuerst sein Präsidium bei den Naturfreunden Schweiz, dem linken Pendant des SAC, und seit 13 Monaten bei Benevol Baselland, dem Förderer und Koordinator von Freiwilligenarbeit. Zuvor sammelte er ziemlich Geld für die Sanierung der Sissacher «Kunsti». In seiner Wohngemeinde war er als radelnder Regierungsrat regelmässig anzutreffen.
Auch in der lokalen SP-Sektion wirkte Wüthrich, der als begnadeter Hobbykoch gerne andere verwöhnte, vor allem auch hinter den Kulissen, unterstützte den inzwischen aufgelösten Verein «SissachLive» und stellte sich spontan einer Gruppe als Präsident zur Verfügung, die gefährdete Wandbilder im «Rössli» in Zeglingen retten will. Sie alle haben – auch – eine grosse Lücke zu schliessen, denn «Urs» (man verkehrte per Du mit ihm) war nicht bloss Grüss-August, sondern ein Zupacker, immer im Einsatz für andere. Und er war ein verlässlicher Freund.
Pläne hegte er noch viele. Doch sein Herz, sein grosses Herz, mochte nicht mehr.
Jürg Gohl