Klares Nein zum autofreien Samstag
23.06.2022 Bezirk Sissach, Politik, SissachChristian Horisberger
Der autofreie Samstag in der Sissacher Begegnungszone ist vom Tisch. Die Gemeindeversammlung hat den entsprechenden Antrag von Urs Chrétien am Dienstag deutlich abgelehnt. Dennoch kommt Bewegung beziehungsweise Beruhigung in den «Strichcode». Der ...
Christian Horisberger
Der autofreie Samstag in der Sissacher Begegnungszone ist vom Tisch. Die Gemeindeversammlung hat den entsprechenden Antrag von Urs Chrétien am Dienstag deutlich abgelehnt. Dennoch kommt Bewegung beziehungsweise Beruhigung in den «Strichcode». Der Gemeinderat wird diesen Sommer einen 60-tägigen Einbahnverkehr-Versuch im westlichen Teil durchführen lassen.
Das Ergebnis der Versammlung ist weniger überraschend als die Umstände, wie es zustande gekommen ist. Angefangen beim Aufmarsch: Eigentlich sollte Gemeindepräsident Peter Buser die Gemeindeversammlung am Dienstagabend um 19.30 Uhr eröffnen. Aber noch zog sich die Warteschlange vor dem Eingang in die Primarturnhalle über den ganzen Schulplatz – und das Versammlungslokal mit Platz für 450 Personen war bereits gut besetzt. Offenbar hatten sowohl die Befürworter einer Verkehrsberuhigung in der Begegnungszone als auch das Gewerbe ihr Gefolge mobilisieren können. Unter den Gemeinderäten machte sich Nervosität breit. Haben alle Wartenden noch Platz? Würde man die Versammlung absagen müssen, falls nicht? Der GAU blieb aus: 443 Stimmberechtigte fanden in der Halle Platz, ein gutes Dutzend von ihnen stehend. Gemäss Peter Buser handelte es sich damit um eine Rekordbeteiligung.
Die Versammlung begann mit einem Paukenschlag. Der Präsident überraschte die Anwesenden mit einer Änderung der Traktandenliste: Der Gemeinderat ziehe seinen Gegenvorschlag zum Antrag von Urs Chrétien zurück. Stattdessen werde er den Einbahnverkehr in eigener Kompetenz – ohne einen Gemeindeversammlungsbeschluss also – lancieren. In welche Richtung während des Versuchs gefahren wird, liess Buser offen.
Juristisches Geplänkel
Mit dem am Vorabend der Gemeindeversammlung gefällten Entscheid machte der Gemeinderat den Weg frei für eine Debatte in der Sache anstatt über Verfahrensfragen: Im Vorfeld der Versammlung hatte Urs Chrétien darauf hingewiesen, dass er gegen einen vom Gemeinderat angekündigten allfälligen Stichentscheid eine Beschwerde einreichen würde.
Ganz ohne juristisches Geplänkel ging es dann aber doch nicht. Ruedi Graf aus dem Lager Chrétiens drohte mit einer Stimmrechtsbeschwerde: Nicht über die Erheblichkeit des Antrags von Urs Chrétien sei ein Beschluss zu fassen, sondern bereits über dessen Inhalt, erklärte er unter Berufung aufs Gemeindegesetz. Er tadelte den Gemeinderat dafür, dass dieser die Stimmberechtigten nicht schon an der Frühlingsversammlung darüber entscheiden liess, ob eine Vorlage für den autofreien Samstag auszuarbeiten ist. Weil der Gemeinderat den Termin verpasst habe, müsse jetzt bereits über die Substanz beschlossen werden, allenfalls mit Anpassungen aus der Debatte heraus, und nicht erst darüber, ob man überhaupt eine Vorlage möchte. Buser bedankte sich bei Graf ironisch für den Staatskundeunterricht. Er akzeptierte die Rüge für die Verzögerung. Die Ausarbeitung des Gegenvorschlags habe sie verursacht, das hatte er bereits eingangs erklärt. Er bekräftigte jedoch, dass keine Anpassungen am Antrag vorgenommen werden könnten und das Vorgehen rechtens sei. Die Debatte wurde gemessen am intensiv geführten Abstimmungskampf im Grossen und Ganzen sachlich geführt. Strassenchef Stephan Marti beurteilte den Antrag Chrétiens als zu rigide und nicht bedarfsorientiert. Für das Gewerbe im betroffenen Perimeter von der Sonnenkreuzung bis zum Restaurant Sydebändel sei der Samstagsumsatz existenziell, daher lehne es das Fahrverbot ab. Als Hauptproblem nannte Marti die Rechte an den Privatparkplätzen in der Begegnungszone. Der uneingeschränkte Zugang sei den Eigentümern vertraglich zugesichert. Es drohten massive Einsprachen und Rechtsstreitigkeiten.
Urs Chrétien widmete sich bei seinen Ausführung insbesondere den samstags freien Parkplätzen rund um die Begegnungszone: In einer Gehdistanz von drei Minuten habe an einem Samstagmorgen mehr als 150 freie Parkplätze gezählt. Sollte sein Antrag durchkommen, würden im betroffenen Bereich lediglich 25 Parkplätze gestrichen: «Es kann also keine Rede davon sein, dass man nicht mehr mit dem Auto einkaufen gehen kann.» Vielmehr würden sich die Menschen dank der höheren Aufenthaltsqualität wohl eher länger im Zentrum aufhalten als bisher.
Gefährliche «Extremlösung»
«Für eine attraktive Begegnungszone braucht es ein funktionierendes Gewerbe», hielt Christine Tschan, Präsidentin des Gewerbevereins, Chrétien entgegen. Der Samstag sei der umsatzstärkste Tag, und die Gewerbetreibenden seien auf alle Kundinnen und Kunden angewiesen, ob diese zu Fuss, mit dem Velo oder dem Auto unterwegs sind. Tatsache sei, dass die Mehrheit motorisiert ins Ortszentrum komme, das hätten Kundenbefragungen gezeigt. «Wandern diese Kunden in ein anderes Einkaufszentrum ab, haben wir ein Problem», so Tschan. Daher könne sie die «Extremlösung», die keine Rücksicht auf das Gewerbe nehme und darüber hinaus innerhalb der Begegnungszone für eine Ungleichbehandlung der Betriebe sorge, nicht unterstützen.
In der weiteren Debatte solidarisierten sich die Gegner des Antrags insbesondere mit dem Gewerbe. Nicole Roth, Mitglied der Gemeindekommission (SVP), formulierte es am dramatischsten: Mit einem Ja zum autofreien Samstag würde das Gewerbe «vernichtet».
Aufseiten der Befürworter merkte Oliver Biedert an, dass niemandem verboten werde, mit dem Auto einkaufen zu gehen. Der Antrag sei eine Chance. Elvira Graf sagte, sie möchte sich samstags in der Begegnungszone aufhalten können ohne die Gefahr, überfahren zu werden. Stefan Zemp, alt SP-Landrat und Mitglied der Begleitkommission Begegnungszone, kritisierte den ultrakurzfristigen Rückzug des gemeinderätlichen Gegenvorschlags als «dilettantisch».
Die mit Spannung erwartete Abstimmung ergab ein überraschend klares Ergebnis. Mit 282 zu 150 Stimmen erklärte die Versammlung den Antrag für nicht erheblich. Wie Ruedi Graf nach der Versammlung sagte, werde er aufgrund des klaren Ergebnisses auf eine Beschwerde verzichten (siehe «Nachgefragt»).
«Es wäre zu einem Chaos gekommen»
Herr Chrétien, Ihr Antrag wurde abgelehnt, aber der Einbahnverkehr-Versuch wird durchgeführt. Wie sieht Ihre Bilanz nach der Gemeindeversammlung aus?
Urs Chrétien: Ich war erleichtert, dass der Gemeinderat in letzter Minute seinen Gegenvorschlag und die Stichfrage zurückgezogen hat. Hätte er das nicht getan, wäre es zu einem Chaos gekommen. Von der Debatte war ich inhaltlich enttäuscht. Ich habe von der Gegenseite einzig immer wieder gehört, dass das Gewerbe mit dem autofreien Samstag untergehe. Mit meinen Argumenten und den Chancen, die sich mit der Verkehrsberuhigung böten – auch dem Gewerbe – stiess ich auf taube Ohren, ich konnte keine Emotionen wecken. Die Meinungen waren gemacht. Aber wir haben jetzt einen demokratischen, klaren Entscheid. Den akzeptiere ich.
Ruedi Graf hatte eine Beschwerde angekündigt, die er nun aber nicht einreicht. Und Sie?
Durch die formellen Unsauberkeiten wurde die Meinungsäusserung nicht verfälscht, das Votum ist eindeutig. Ich habe mich mit Ruedi Graf und Rolf Cleis geeinigt, dass wir keine Beschwerde einreichen.
Sie könnten sich trotz Abstimmungsniederlage als Sieger fühlen: Dank Ihres Antrags kommt Beruhigung in die Begegnungszone!
Ich habe nicht erreicht, was ich wollte. Sissach hat eine grosse Chance verpasst. Daher bin ich enttäuscht. Aber der Einbahnverkehr ist ein Erfolg, ja. Nach der Gemeindeversammlung haben sich der Geschäftsführer der Muff AG, Andreas Müller, und Gewerbepräsidentin Christine Tschan bei mir bedankt, dass ich etwas ausgelöst habe mit meinem Vorstoss. Das ist ja auch eine schöne Geste. ch.
Viel Diskussionsstoff
ch. Die Gemeindeversammlung ist in allen Geschäften den Anträgen des Gemeinderats gefolgt. Einstimmig gutgeheissen wurde die Rechnung 2021 mit Ausgaben von 30 Millionen Franken und einem Gewinn von 1 Million Franken. Diskussionsstoff lieferte hingegen die Sanierung der Hauptstrasse Ost (mit Trinkwasserleitung und Kanalisation) sowie eines Abschnitts der Bahnhofstrasse für 3,22 Millionen Franken. Um das Vorhaben auf den späteren Belagsersatz in der Begegnungszone abstimmen zu können, sei es zurückzuweisen, wurde gefordert. Der Antrag wurde nach längerer Debatte mit 192 zu 174 Stimmen abgelehnt und der Kredit schliesslich mit 212 zu 148 Stimmen bewilligt.
Auch zur Teilrevision des Polizeireglements herrschten in der Halle unterschiedliche Meinungen. Der Gemeinderat will im Kampf gegen Littering, Ruhestörung sowie Alkohol und Drogenkonsum auf öffentlichen Plätzen – namentlich Schularealen – strengere Regeln einführen. Deren Einhaltung soll mit Patrouillen eines privaten Sicherheitsdienstes gewährleistet werden. Mehrere Votanten wehrten sich dagegen: Das Reglement sei zu rigide, der Jugend werde Freiraum genommen, die Bussen seien zu hoch angesetzt. Ein Antrag auf Halbierung der Bussenbeträge scheiterte deutlich, und die Teilrevision wurde mit grossem Mehr gutgeheissen. Gemeinderat Robert Bösiger stellte in zwei Jahren eine Totalrevision des Polizeireglements in Aussicht. Die Erfahrungen mit der Patrouille würden dabei berücksichtigt. Zu keiner Diskussion Anlass gab der Beitritt zur Altersversorgungsregion Oberbaselbiet. Er wurde mit wenigen Gegenstimmen beschlossen.