«Probleme während der Lehrzeit sind häufig»
01.04.2022 Baselbiet, Bildung, GesellschaftAusgefragt mit Barbara Schmocker, Psychologin an der Psychiatrie Baselland
Barbara Schmocker untersuchte als Hauptautorin mit einem Team von «WorkMed», einem Kompetenzzentrum für Arbeit der Psychiatrie Baselland, wie Lehrbetriebe aufgestellt sind, wenn es mit Lernenden ...
Ausgefragt mit Barbara Schmocker, Psychologin an der Psychiatrie Baselland
Barbara Schmocker untersuchte als Hauptautorin mit einem Team von «WorkMed», einem Kompetenzzentrum für Arbeit der Psychiatrie Baselland, wie Lehrbetriebe aufgestellt sind, wenn es mit Lernenden zu Problemen kommt. Im Interview erklärt die Psychologin, woran es trotz grossen Engagements hapert.
Tobias Gfeller
Frau Schmocker, haben viele Lernende psychische Probleme?
Barbara Schmocker: Probleme während der Lehrzeit sind häufig. 60 Prozent der befragten Berufsbildner berichteten uns, dass sie bei ihrem letzten Lernenden Probleme beobachteten. 33 Prozent konnten auf eine gute Art gelöst werden, 27 Prozent konnten bis zum Schluss nicht gelöst werden. Bei Letzteren kam es bei einem Drittel zu einem Lehrabbruch.
60 Prozent ist ein hoher Anteil.
Ja. Aus persönlicher Sicht war es für mich aber nicht überraschend. Auch in der Diskussion danach mit Berufsbildnern war wenig Überraschung zu spüren, weil diese seit Jahren tagtäglich mit Lernenden zu tun haben. Überrascht waren eher die Amtsstellen, die weniger in den Alltag eines Lehrverhältnisses involviert sind. Das weist darauf hin, dass Lehrbetriebe diese Situationen oft eigenständig lösen und die Informationen nicht ans Amt gelangen. Man sieht, dass sich Berufsbildner in Bereichen, die direkt mit dem Beruf selber zu tun haben, kompetent fühlen, dass es aber grosse Unsicherheiten bei psychischen Auffälligkeiten gibt. Sie fühlen sich unsicher, wenn es um psychische Probleme geht und holen erst sehr spät externe, professionelle Hilfe dazu – wenn überhaupt. Es wird zu lange gewartet. Das wäre auch gleich die dritte Kernaussage der Studie, dass es Berufsbildnern diesbezüglich nicht einfach gemacht wird. Es gibt wenig spezialisierte, leicht zugängliche Angebote für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner, wo man Unterstützung holen kann.
Trägt denn der Arbeitgeber Schuld an solchen Problemen und was kann er selber zur Lösungsfindung oder Prävention tun?
Potenzial sehen wir darin, wenn in Lehrbetrieben ein Klima herrscht, wo man offen über psychische Probleme sprechen kann, wo Verständnis dafür gezeigt wird, was Lernende bedrückt. Es geht jedoch auch darum, Erwartungen vonseiten des Ausbildungsbetriebes aufzuzeigen.
Einfach gesagt, Berufsbildner und Lernende müssen mehr miteinander reden?
Wir sehen, dass sehr viele Gespräche mit den Lernenden geführt werden. Die Kommunikation im gesamten System funktioniert zu wenig. Und die wäre zentral. Es geht in Phasen von psychischen Problemen darum, wie junge Menschen einen guten Umgang mit Herausforderungen finden können und wie man sie darin fördern kann. In unseren Resultaten sehen wir, dass es weniger zu kurzfristigen Absenzen und Konflikten kommt, wenn sich ein Lehrbetrieb für die persönlichen Probleme des Lernenden interessiert.
Was meinen Sie mit der «Kommunikation im gesamten System»?
Betriebe wünschen sich bei Problemen, dass beispielsweise Eltern mehr involviert werden oder, wenn vorhanden, Therapeuten, um gemeinsam über die wesentlichen Themen zu reden und gemeinsam in eine Richtung zu gehen. Wir erkennen, dass Lernende, die ein unterstützendes Privatumfeld haben, ein viel kleineres Risiko für psychische Probleme haben. Das betrifft nicht nur Lernende. Aber mit der Studie haben wir nun erstmals ausführliche Daten dazu. Das heisst, dass Lehrbetriebe ganz klare Erwartungen benennen dürfen. Wenn es um Schulleistungen geht, reagiert man schneller, wenn die Noten nicht stimmen. Dann hat man es schwarz auf weiss. Bei einem schleichenden Prozess – zum Beispiel bei Verhaltensänderungen – wartet man länger zu.
Die Berufsbildner sind engagiert, aber trotzdem läuft einiges schief.
Es geht vielleicht auch um eine Rollenklärung. Wann ist meine Rolle als Berufsbildner vorbei und brauche ich konkreten Input von einer spezialisierten Stelle? Man muss als Berufsbildner keine psychologische Begleitung gewährleisten, aber sein Interesse zeigen und klarmachen, dass psychische Gesundheit kein Tabu ist im Betrieb und eben frühzeitig externe Hilfe dazu holen. Es geht um eine aktive Bewältigung der vorhandenen Schwierigkeiten.
Wieso ist die Zeit in der Lehre so wichtig, gleichzeitig aber auch so herausfordernd?
Es ist eine prägende Zeit, der Übergang von der Volksschule in eine Ausbildung. Man hat auf einmal einen Lehrbetrieb, der andere Erwartungen an einen hat. Man hat andere Anforderungen an die Selbstorganisation. In dieser Zeit werden Weichen für das ganze berufliche Leben gestellt. In der Adoleszenz finden viele Veränderungen
– auch im Gehirn – statt. Man weiss, dass 75 Prozent der psychischen Erkrankungen vor dem 25. Lebensjahr beginnen. Es geht um ein aktives Umgehen damit – von allen Seiten. Die Kommunikation ist wichtig, aber genauso, was danach passiert. Wir stellten fest, dass das Thema «psychische Gesundheit» noch immer mit vielen Tabus verbunden ist. Es ist noch immer eine grosse Hemmschwelle vorhanden.
Weshalb lohnt es sich auch für die Wirtschaft, möglichst früh ein verstärktes Augenmerk auf die psychische Gesundheit zu werfen?
Je länger man bei Problemen zuwartet, umso schwieriger wird es, sie zu beheben und sie mit Strategien zu bewältigen. Es ist bekannt, dass Lehrabbrüche nachhaltige Folgen für das Berufsleben haben. Das geht auch zulasten der Unternehmen. Probleme können sich später im Arbeitsleben akzentuieren. Ein frühes Eingreifen kann dies verhindern.
Was muss passieren, dass es künftig nicht mehr 60 Prozent der Lernenden sind, bei denen es Probleme gibt?
Dass es Probleme gibt, scheint mir nicht entscheidend zu sein. Wichtig ist viel mehr, wie man sie bewältigen kann. Aufgrund der Studienresultate braucht es eine Veränderung in der Kooperation der verschiedenen Akteure. Man muss mehr wissen, in welchem Fall es welche Hilfe braucht. Dazu braucht es neue Angebote für zugängliche und niederschwellige Anlaufstellen für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner.
Die Studie liefert aktuelle Zahlen. Gibt es Werte, inwiefern die Pandemie die psychische der Lernenden beeinflusst hat?
Unseres Wissens gibt es keine Vergleichsstudie aus früheren Jahren. Die Universität Basel hat während der Pandemie mehrfach publiziert, dass depressive Symptome bei Jungen zugenommen haben. Die Häufigkeit von Problemen in der Lehre – wie sie unsere Studie zeigt – sehen wir nicht im Zusammenhang mit der Pandemie. Das Thema «psychische Gesundheit bei Lernenden» ist schon länger da, rückte aber mit der Pandemie mehr in den Fokus.