«Ich setze mir keinen Druck auf»
17.02.2022 Bezirk Sissach, Sport, Sissach
Jürg Gohl
Ni hao, Romy Tschopp.
Romy Tschopp: Guten Tag. Bis jetzt verstehe ich nicht mehr Chinesisch als den Gruss, habe mir aber vorgenommen, mir bis zum Abflug nach Peking noch die wichtigsten Wörter anzueignen.
Sie ...
Jürg Gohl
Ni hao, Romy Tschopp.
Romy Tschopp: Guten Tag. Bis jetzt verstehe ich nicht mehr Chinesisch als den Gruss, habe mir aber vorgenommen, mir bis zum Abflug nach Peking noch die wichtigsten Wörter anzueignen.
Sie wurden vergangene Woche bereits mit der ersten Tranche für die Paralympics selektioniert, obwohl Sie selber mit Ihrem Abschneiden an der WM nicht zufrieden waren. Hat Sie das überrascht?
Die Para-Weltmeisterschaften waren für mich eine Achterbahnfahrt und sicher eine wertvolle Erfahrung. Dass ich souverän den Final erreichte, dort aber wegen eines Fehlers am Podest vorbeirutschte, ist in meinem Kopf noch nicht abgehakt. Mir war schon vor der WM in Norwegen bewusst, dass meine Chancen für Peking mehr als nur intakt sind.
Sie haben einen steilen Aufstieg hinter sich. Ging es für Sie zu schnell?
Schwer zu sagen. Wenn ich bedenke, dass ich erst im vergangenen Winter meine ersten internationalen Wettkämpfe bestritt und nun bereits Olympia-Teilnehmerin bin, dann überwältigt mich das schon. Natürlich profitierte ich davon, dass ich dank meiner Eltern trotz meiner Einschränkungen immer Sport treiben konnte und dass «PluSport», der Behindertensport-Verband, mir den Einstieg in den Wettkampfsport sehr erleichterte. Gleichwohl staune ich selber, wie schnell das auf dem Niveau Spitzensport alles ging und geht.
Wie sieht Ihr Zeitplan bis zum Abflug aus? Was gibt es neben den Chinesisch-Vokabeln noch zu erledigen?
Wo soll ich beginnen? Da gibt es noch Dokumente und Formulare, die es abzuarbeiten gilt. Es liegt auch eine Checkliste herum, auf der das Material aufgeführt ist, das ich nach Peking mitnehmen muss. Zum Glück ist uns dabei der Behindertensport-Verband sehr behilflich. Auch werde ich mich jetzt allmählich zurückziehen und nur noch die wichtigsten Termine wahrnehmen, um eine Ansteckung mit dem Coronavirus zu vermeiden.
Und trainingsmässig?
Wir haben an der WM und auch schon davor verschiedene Dinge erkannt, die wir bis Peking noch verbessern müssen und auch können, zum Beispiel das Balancetraining mit eingebauten Störungen und das Visualisieren. Auch zählt es nicht zu meinen Stärken, mir einen Parcours einzuprägen. Noch nicht! Und da sind natürlich noch die Schwachstellen, die mit meinem Gebrechen zu tun haben. Daran arbeite ich täglich.
Wird sich das in Peking in Spitzenrängen niederschlagen?
Da will ich mir keinen Druck aufsetzen. Noch nie habe ich einen Anlass dieser Grössenordnung erlebt. Zudem weiss ich nicht, wie mein eingeschränkter Körper die lange Reise überhaupt verkraftet. Wie reagiere ich auf die tiefen Temperaturen? Ich visiere ein Olympiadiplom an. Doch das hängt ja auch davon ab, in welche Kategorie der Behinderungen ich eingeteilt werde. Das Einteilen in Behinderungsgrade ist eine heikle Aufgabe, schon allein weil Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsarten antreten. Und wenn da zum Beispiel zwei Klassen zusammengelegt werden, so stellt das die Ausgangslage auf den Kopf. Bei uns spielen viel mehr Faktoren eine Rolle als bei den aktuell laufenden Olympischen Spielen. Deshalb sind Prognosen heikel.
Verlassen wir das Sportliche. China ist ein Unrechtsstaat und wird von der westlichen Welt heftig kritisiert. Ich verzichte auf die Stichworte. Wie stark trübt das Ihre Freude?
Natürlich wissen wir Bescheid und können das nicht einfach ausblenden. Doch wie wohl alle Athletinnen und Athleten werde ich bemüht sein, mich auf meine sportliche Leistung zu fokussieren. Vorher bemühe ich mich, mich auf die Situation einzustellen, die mich in Peking erwartet. Aber das ist leichter gesagt als getan.
Hinzu kommt ja noch die ganze Corona-Situation.
Ich kehre alles vor, um nicht noch positiv getestet zu werden. Dass Corona so unberechenbar geworden ist, macht mich zusätzlich nervös. Ich stehe auf jeden Fall vor einer ganzen Reihe an Erfahrungen, wie ich sie noch nie gemacht habe.
Ihre Behinderung fordert Sie, um wieder auf Ihre Vorbereitung zu sprechen zu kommen, ja bereits beim Packen.
Ja. Da ist zuerst der Transport des Rollstuhls. Ein zusätzlicher Koffer ist ausschliesslich mit Hilfsmitteln gefüllt, auf die gesunde Menschen nicht angewiesen sind, also Medikamente, Pflege- und Schutzmaterial, Katheter und so weiter. Der Vorrat muss für eine längere Zeit reichen, und eine Reserve gehört immer auch dazu.
Sie gewähren einen tiefen Einblick.
Ja, weil ich damit den Gesunden den Alltag von Behinderten aufzeigen will. Ich will ihn enttabuisieren. Zu viele Leute sehen in den Behinderten nur die Menschen, die am Flughafen an der Warteschlange vorbeifahren und zuerst den Flieger besteigen dürfen.
Sie verwenden für sich selber den Ausdruck «Behinderte». Viele Betroffene betrachten diesen Ausdruck als diskriminierend. Sie auch?
Nein. Ob Handicapierte oder Behinderte, das spielt für mich keine Rolle. Da bin ich nicht dünnhäutig. Am meisten schätze ich, wenn ich wählen kann, die Bezeichnung «Menschen mit Behinderung».
Weshalb?
Bei «Behinderte» steht nur die Behinderung. Bei «Mensch mit Behinderung» steht der Mensch im Vorder- und die Behinderung nur noch im Hintergrund.
Zur Person
jg. Die 28-jährige Sissacherin Romy Tschopp leidet an Spina bifida und benötigt im Alltag einen Rollstuhl. Vor zwei Jahren liess sie sich dazu überreden, sich trotz zunehmender medizinischer Verschlechterung als Snowboarderin dem Behindertensport-Verband anzuschliessen. Im Januar startete sie an der Para-WM in Lillehammer und qualifizierte sich dort definitiv für die Paralympics, die am 4. März in Peking beginnen.