«Vielleicht werde ich das mit 70 tun …»
25.02.2022 Baselbiet, Politik, Bezirk Sissach, Sissach
David Thommen
Frau Graf, 60 Jahre – löst das bei Ihnen besondere Empfindungen aus?
Ich bin vor allem erstaunt! Ich fühle mich nicht so, wie ich einst gedacht habe, dass man sich mit 60 fühlt.
Wie alt fühlen Sie ...
David Thommen
Frau Graf, 60 Jahre – löst das bei Ihnen besondere Empfindungen aus?
Ich bin vor allem erstaunt! Ich fühle mich nicht so, wie ich einst gedacht habe, dass man sich mit 60 fühlt.
Wie alt fühlen Sie sich?
Ich kann das nicht mit einer Zahl ausdrücken. Aber ich habe nicht das Gefühl, als ginge es bei mir schon in Richtung Pensionsalter. Ich bin gesund und voller Tatendrang.
Einen runden Geburtstag könnte man zum Anlass nehmen, um zurückzuschauen und Bilanz zu ziehen …
Da ich mitten im Arbeitsleben stecke und ein wichtiges politisches Amt ausübe, werde ich keine Zeit finden, um innezuhalten und Bilanz zu ziehen. Vielleicht werde ich das mit 70 tun …
Ist es im Ständerat nicht von einem gewissen Vorteil, 60 zu sein? Jüngere Frauen werden in der Politik häufig nicht ganz so ernst genommen …
Das hängt nicht primär mit dem Lebensalter zusammen, sondern mit Vorurteilen gegenüber Frauen in Entscheidungspositionen, die sich hartnäckig halten. Wichtig ist aber immer die Erfahrung. Ich selber bin in der Bundespolitik längst eine alte Häsin. Nicht zuletzt durch mein Nationalratspräsidium kenne ich alle Akteure, Abläufe und Mechanismen ganz genau. Ich kann auch mit den erfahrensten älteren Herren in Bern auf Augenhöhe diskutieren.
Sie sind nun seit rund 35 Jahren politisch aktiv – immer besorgt um Umwelt oder Benachteiligte. Gibt es auch Momente, in denen Maya Graf die Politik auch einmal Politik bleiben lässt und nur Mensch ist?
Sie würden staunen, wie häufig das der Fall ist …
In welchen Momenten?
Mehrmals in der Woche lasse ich das Handy im Haus und gehe raus zu meinen Tieren. Oder ich verschwinde für eine oder zwei Stunden in den Wald. Dort schalte ich ab. Oder ich gehe gerne mit Freunden in den Ausgang, an Konzerte und rocke gerne ab. Dann ist die Politik weit weg. Ich bewege mich überhaupt nicht nur im «grünen Kuchen». Und meine Familie hat mir schon immer zu verstehen gegeben, dass sie mit mir nicht immer politische Themen wälzen will …
Was war Ihr bisher schönster politischer Erfolg?
Das war der Tag der nationalen Wahlen im Jahr 2019. Abends sass ich vor dem Fernseher und sah, wie in der ganzen Schweiz ein grüner Sitz nach dem anderen hereingepurzelt ist – da sind mir die Tränen heruntergelaufen. Ich dachte: Wow, jetzt haben wir so lange dafür gekämpft, dass unsere Themen in die breite Bevölkerung hineingetragen werden. Und plötzlich sind unsere Botschaften angekommen! Besonders berührt hat mich, dass viele Junge und Frauen gewählt wurden. Wir haben es geschafft, eine neue Generation zu gewinnen, welche die grüne Politik weiterführt.
Sie sehen sich als Wegbereiterin?
Sicher als Vorkämpferin. Aber auch ich hatte natürlich bereits Wegbereiterinnen; zum Beispiel Ruth Gonseth, die mir einst ihren Sitz im Nationalrat überlassen hatte.
Worauf sind Sie ganz persönlich besonders stolz?
Sicher, dass ich als erste Grüne überhaupt den Nationalrat präsidieren durfte. Oder, was ich mit Kathrin Bertschy im Co-Präsidium von «alliance F» erreicht habe. Als wir 2014 antraten, haben wir eine ziemlich desillusionierte Frauenbewegung angetroffen, die bei der gesetzlichen Gleichstellung zwar einiges erreicht, den Kampfgeist aber verloren hatte. Wir haben es mit vielen Verbündeten geschafft, der Frauenbewegung neues Leben zu geben. Das gipfelte im «Frauenjahr 2019» mit der historischen Frauenwahl ins Schweizer Parlament. Heute haben wir einen Frauenanteil von 42 Prozent im Nationalrat und auch im Landrat. Wir haben eine Generation von Frauen, welche die Gleichstellung lebt und umsetzt. Und zwar gemeinsam mit einer Generation von jungen Männern! Es macht mich stolz, wie viel in den vergangenen Jahren passiert ist. Diese Power wird nicht mehr verschwinden. Plötzlich sind Dinge wahr geworden, von denen ich zuvor fast nur geträumt habe.
So manches, was die Grünen früher propagierten, ist mittlerweile bei vielen Parteien Mainstream geworden. Niemand, der nicht die Nachhaltigkeit predigen und praktizieren würde. Machen sich die Grünen ein Stück weit überflüssig?
Grüne Politik ist nicht Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit, um für eine lebenswerte Zukunft gerüstet zu sein. Wir brauchen den ökologischen Umbau der Wirtschaft, denn die Klimakrise steht vor der Tür, die Energiekrise sowieso. Wir müssen die Transformation sozial gerecht hinbekommen. Die meisten Parteien haben das mittlerweile begriffen. Heute rufen beispielsweise alle nach Solaranlagen auf möglichst vielen Dächern. Wir haben vor 25 Jahren schon eine Solaroffensive gefordert, wurden damals aber belächelt. Es gäbe viele weitere solche Beispiele. Doch um auf die Frage zurückzukommen: Ja, es wäre schön, wenn die Grünen überflüssig würden, weil alles schon erledigt ist. Doch das passiert leider nicht. Es braucht weiterhin das starke grüne Know-how für die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung.
Sie sind Präsidentin der Geschäftsprüfungsdelegation, der GPDel. Als solche sind Sie «höchste Aufseherin» über den Schweizer Geheimdienst. Kennen Sie nun alle Staatsgeheimnisse?
Die GPDel hat sechs Mitglieder aus National- und Ständerat. Wir üben die Aufsicht über den Nachrichtendienst und die Oberaufsicht über den Bundesrat im Geheimbereich aus. Es muss uns alles zugänglich gemacht werden, was wir prüfen wollen. Und wir können eine Untersuchung einleiten, wenn es Probleme gibt. Leider ist das in den vergangenen Jahren häufiger der Fall.
Zwei Beispiele?
Im Bereich Cyber-Aufklärung haben wir festgestellt, dass sich der Geheimdienst bei der Beschaffung von Informationen, also Daten Dritter, nicht ans Gesetz gehalten hat. So wurde keine Genehmigung durch das zuständige Gericht eingeholt. Es entstand so etwas wie ein Nachrichtendienst im Nachrichtendienst. Das wird nun aufgearbeitet. Ein zweites Beispiel ist die Geschichte mit der Zuger Crypto AG, die einst manipulierte Chiffriermaschinen an viele Staaten verkauft hat. Den Geheimdiensten Amerikas und Deutschlands wurde damit ermöglicht, im grossen Stil Spionage zu betreiben. Wir haben Dutzende von Ordnern aus dem Archiv gelesen, mehr als 20 Beteiligte angehört und einen Untersuchungsbericht publiziert. Über vieles dürfen wir allerdings nicht reden, da es geheim ist.
Haben Sie auch Einblick in die unmittelbare Tätigkeit des Geheimdienstes? Wussten Sie längst, was Putin in der Ukraine vorhat?
Operativ mischen wir uns nicht ein. Die GPDel bekommt aber die Lageberichte des Nachrichtendienstes, die auch an die VBS-Chefin gehen. Wir werden nun täglich über Vorgänge wie in der Ukraine informiert.
Was halten Sie von Putins Angriff?
Es ist eine Katastrophe für die junge souveräne Demokratie und alle Ukrainerinnen und Ukrainer. Und es ist eine Bedrohung für unser freies, demokratisches Europa. Die Schweiz muss jetzt Farbe gegenüber dem Invasor bekennen, sich den EU-Sanktionen anschliessen und alle erdenkliche Unterstützung anbieten.
Wusste der Nachrichtendienst Bescheid, was kommen wird?
Wir unterliegen der Geheimhaltung. Ich rede ausserhalb der GPDel mit niemandem darüber. Wir haben auch Einblick in alles, was vom Bundesrat verhandelt und als geheim klassifiziert wird.
Wie spannend ist das?
Es ist extrem spannend … Man bekommt in das Funktionieren der Schweizer Politik einen sehr genauen Einblick. Und Spionagefilme liebe ich seither noch mehr …
Sind Sie als Volksvertreterin nicht manchmal versucht, Dinge, die vielleicht zum Himmel stinken, ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen?
Nein, die Geheimhaltung dient hier auch der Sicherheit der Schweiz. Doch ich habe schon Bundesratsprotokolle gelesen, bei denen ich leer geschluckt habe. Zum Beispiel, als es um das Rahmenabkommen mit der EU ging. Mehr sage ich nicht dazu.
Schauen wir nochmals kurz zurück. Eines Ihrer grossen Themen war der Kampf gegen Gentech-Pflanzen. Jetzt gibt es wieder Bestrebungen, solche Pflanzen zuzulassen. Machen Sie bald wieder «Mais im Bundeshaus»?
Das Gentech-Moratorium dürfte in der Frühlingssession nun zum vierten Mal verlängert werden. Es ist ein grosser Erfolg für die Schweizer Landwirtschaft, dass sie sich gentechfrei positioniert hat. Qualitativ hochstehende und ökologisch produzierte Lebensmittel sind voll im Trend. Mittlerweile sind nun neue Technologien mit den genom-editierten Pflanzenzüchtungen aufgekommen. Das findet aber erst im Labor statt und war immer erlaubt. Die Zukunft wird zeigen, ob die Crispr-Technologie für die Landwirtschaft etwas bringt. Was ich bisher gesehen habe, ist für die Schweizer Landwirtschaft nicht interessant. An «die Wunderpflanze» glaube ich nicht – Pflanzen sind keine «Bausteine». Sie sind Lebewesen im ständigen Austausch mit ihrer Umwelt. Dort müssen auch neue Sorten gezüchtet werden. Dafür brauchen wir viel mehr Geld, und dafür setze ich mich ein.
Die Weltbevölkerung wächst rasant und will ernährt werden. Mit extensiver Bio-Landwirtschaft wird das nicht zu schaffen sein …
Dieser Fokus ist falsch. Die Frage ist, wie wir uns in Zukunft umwelt- und klimaschonend ernähren werden. Die junge Generation liefert die Antwort darauf jetzt schon deutlich: Wir werden in Zukunft weniger Fleisch essen. Wir werden uns pflanzlicher ernähren, mehr Früchte und Gemüse regional anbauen, die Vielfalt nutzen. Für die Agrarökologie brauchen wir Gentech nicht.
Was steht bei Maya Graf am 60. Geburtstag auf dem Tisch?
Am Montag beginnt die Session und ich werde nicht gross feiern können. Aber am Sonntag stossen wir im Familienkreis an. Es wird Alpkäse, selber gemachtes Brot, Salami von unserem Hof und Geburtstagskuchen aufgetischt. Wir essen immer recht einfach und vor allem das, was unser Hof hergibt.
Ein Wort zur Pandemie: Wie hat sich die Schweiz geschlagen?
Gut. Wir hatten die liberalsten Massnahmen in Europa, das durfte aber nicht auf Kosten der verletzlichsten Menschen gehen. Das hat mir vor allem während der zweiten Welle Sorge bereitet, dort war das Kompetenzgerangel mit den Kantonen ein grosses Problem. Und das Parlament war am Anfang nicht krisentauglich. Das muss sich schnell ändern. In der Frühlingssession werden Verbesserungen wie die Möglichkeit für digitale Parlamentsentscheide und eine neue Verwaltungskommission für das Parlament für Krisenfälle diskutiert. Und die GPK hat unter meinem Präsidium 2020 bereits 26 verschiedene Untersuchungen zur Pandemiebewältigung eingeleitet – wie etwa die Maskenbeschaffung im VBS oder die Krisenorganisation des Bundes. Wir müssen schnell lernen für künftige Krisen. Leider stehen diese bereits vor der Tür.
Was haben Sie sich in der Politik noch für Ziele gesetzt?
Ich habe grosse Freude daran, das Baselbiet im Ständerat vertreten zu dürfen. Ich möchte dies gerne noch weiter tun und werde mich im Herbst 2023 nochmals zur Wahl stellen.
Diesen Entscheid haben Sie jetzt schon gefällt?
Ja. Ob ich es jetzt sage oder erst in einem halben Jahr, macht keinen Unterschied. Es ist ja auch naheliegend, dass ich nicht nur für vier Jahre im Ständerat bleiben will. Ich hoffe natürlich, dass die Baselbieterinnen und Baselbieter meine Arbeit schätzen und mich nochmals unterstützen.